Читать книгу Die vielen Farben des Autismus - Thomas Girsberger - Страница 11
Genetik
ОглавлениеZunächst einmal ist aufgrund zahlreicher Forschungsergebnisse heute weitgehend unbestritten, dass die Vererbung beim Auftreten von Autismus eine entscheidende Rolle spielt (90 %). Dies zeigen sowohl unzählige Kranken- und Familiengeschichten, die Zwillingsforschung, und zunehmend auch Erkenntnisse aus der Genforschung selbst. Ebenso klar ist jedoch, dass die Vererbung nicht einfachen und überschaubaren Gesetzmäßigkeiten folgt und dass sie nicht auf irgendein einzelnes Gen oder einen ganz bestimmten Chromosomen-Defekt reduziert werden könnte. Es sind sicher eine ganze Reihe von Genen beteiligt und: das Vorhandensein dieser Gene bzw. Gendefekte heißt noch lange nicht, dass die betreffende Person dann auch zwingend von Autismus betroffen ist. Der sogenannte Genotyp (= die Summe der in den Genen verankerten Erbanlagen) führt nicht automatisch zu einem bestimmten Phänotyp (= die Summe der körperlichen und geistigen Eigenschaften eines Menschen). Die entsprechenden genetischen Befunde betreffen immer nur Wahrscheinlichkeiten. Vereinfacht gesagt: je größer die erbliche Belastung, umso wahrscheinlicher ist das Auftreten von Autismus, ohne dass man im Einzelfall eine Vorhersage machen kann.
In den Anfängen der Autismus-Forschung war allerdings eine andere Sichtweise vorherrschend! Im Gegensatz zu Hans Asperger, der seine Hypothese der Vererbung des Autismus sehr klar formulierte, aber leider, wie ja bereits erwähnt, lange gar nicht zur Kenntnis genommen wurde, nahm die von Leo Kanner in den USA ausgehende Entwicklung eine ganz andere Richtung. Sie gipfelte in den 1960er Jahren in der Theorie z. B. eines Bruno Bettelheim, die psychoanalytisch geprägt war und die die Ursache des kindlichen Autismus bei der »gefühlskalten« Mutter suchte! Mit dieser »psychologischen« Sichtweise wurde in der Vergangenheit großer Schaden angerichtet. Nicht nur, weil den betroffenen Müttern damit ein großes Unrecht angetan wurde (was hilfreichen Interventionen ganz sicher nicht förderlich ist!), sondern auch, weil Autismus rein defizitorientiert betrachtet wurde.
Die »genetische« Sichtweise hingegen, auch wenn das auf den ersten Blick paradox erscheint, kommt unweigerlich zum Schluss, dass die Veranlagung zu Autismus auch mit positiven Eigenschaften verbunden sein muss. Hans Asperger hat deutlich darauf hingewiesen, dass viele seiner Patienten, die er als Kinder kennengelernt hatte, später erfolgreiche Berufsleute wurden.
Im Übrigen zeigen Ergebnisse aus der neueren Evolutionsforschung, dass es sogar bei Tieren wichtige individuelle Unterschiede in jeder Tierart gibt und dass diese Individuen unterschiedliche Persönlichkeiten aufweisen. Was aber noch bedeutsamer ist: Eine Population von Tieren, bei welcher die individuellen Unterschiede zwischen den Mitgliedern größer bzw. ausgeprägter sind, hat bessere Überlebenschancen! Bisher wurde in der Evolutionsforschung immer nur darauf geachtet, welche Eigenschaften eines Individuums seine eigenen Überlebens- und damit auch Fortpflanzungschancen verbessern. Wenn man nun aber davon ausgeht, dass große interindividuelle Unterschiede in einer Population von Vorteil sind, dann heißt das, dass Menschen mit außergewöhnlichen (das heißt vom Durchschnitt abweichenden) Eigenschaften und Persönlichkeiten für die Gesamtgesellschaft von Nutzen sind. Und deshalb, das wäre eine sehr logische Schlussfolgerung, wurden in der Entwicklung der Menschheit Individuen, die eine Veranlagung für Autismus in sich tragen, von der Evolution nicht ausgeschieden. Sie wurden, weil sie neben ihren Defiziten im emotionalen und sozialen Bereich auch über besondere Fähigkeiten verfügten (z. B. Werkzeugbau), als nützliche Mitglieder der Gemeinschaft erkannt und mitgetragen.