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Vorwort
ОглавлениеDas Anliegen dieses Buches ist es, Kindern und Jugendlichen des Autismus-Spektrums und ihren Eltern und Familien Hilfen anzubieten. Dieses Anliegen umfasst verschiedene Aspekte.
Vermutlich die wichtigste Hilfe ist Verständnis! Verständnis kommt von Verstehen. Kinder des Autismus-Spektrums verhalten sich anders, denken anders, und stoßen deshalb zunächst auf Unverständnis. Mit der Zeit kann sich dies sogar bis zur gegenseitigen Ablehnung steigern. Deshalb ist es so wichtig, dass in erster Linie die Eltern, aber auch andere Bezugspersonen diese Kinder besser verstehen. Diesem Anliegen ist ein beträchtlicher Teil des vorliegenden Buches gewidmet, einerseits durch theoretische Ausführungen, aber auch durch viele konkrete Fallbeispiele und lebendige Portraits, eines davon sogar in autobiographisch-erzählerischer Form (Prolog).
Wichtig sind aber auch geeignete Erziehungsratschläge. In diesem Buch wird dazu ein selbst erarbeitetes Konzept vorgestellt: »So-macht-me-das – Gebrauchsanweisungen für den Alltag«. Und schließlich können auch die betroffenen Kinder von gezielten Therapieangeboten profitieren, vorzugsweise in Form einer Gruppentherapie. Auch dazu habe ich ein Konzept entwickelt und eine Zeitlang damit in Gruppen gearbeitet, es heißt »S-P-A-S-S – Strukturiertes Programm für Kinder mit ausgeprägten Stärken und Schwächen«.
Ich arbeite seit über 30 Jahren als Kinder- und Jugendpsychiater mit eigener Praxis in Liestal, einer Kleinstadt in der Nähe von Basel, mit einem ländlich geprägten Einzugsgebiet. Ich bin, da ich eine Einzelpraxis führe, mit allen Aspekten der kinder- und jugendpsychiatrischen Arbeit vertraut: Abklärung, Diagnosestellung, Beratung, und Therapie: im Einzel-, Familien- und Gruppensetting. Meine Patienten können mittlerweile ausschließlich dem Autismus-Spektrum zugeordnet werden und die entsprechenden Anfragen kommen aus einem immer größer werdenden Einzugsgebiet.
Vom Engagement her gesehen liegt mein Arbeitsschwerpunkt innerhalb des Autismus-Spektrums nun eindeutig beim Asperger-Syndrom. Dies hat wesentlich auch mit meiner direkten persönlichen Betroffenheit zu tun. Schon beim damaligen Entscheid, mich innerhalb des großen Fachgebietes der Humanmedizin auf die Psychiatrie zu spezialisieren (1982), hat meine persönliche familiäre Geschichte wohl eine Rolle gespielt. Mir war schon immer klar, dass meine Herkunftsfamilie väterlicherseits einige Besonderheiten aufweist – um es vorsichtig auszudrücken.
Mein Vater war ein Mensch mit einem außergewöhnlichen Profil: von Beruf gelernter Elektro-Ingenieur und sehr kompetent in den Bereichen Physik und Mathematik und damit verbundenen angewandten Disziplinen (Elektrotechnik, Weltraumtechnologie, Medizinaltechnologie). Seine Sozialkompetenz hingegen fiel im Vergleich dazu sehr gering aus, er hatte zeitlebens keine Freunde und seine erste Ehe endete 1969 mit einer Scheidung, was in der damaligen Zeit außergewöhnlich war. Im Weiteren hatte mein Vater zwei ältere Schwestern. Die eine verbrachte ihr ganzes Erwachsenenleben (fast 60 Jahre) in einer psychiatrischen Klinik (Diagnose: Schizophrenie). Die andere verließ ihr Elternhaus zeitlebens nie, lernte nie einen Beruf und war in meiner damaligen kindlichen Wahrnehmung sehr »komisch«.
Durch meine therapeutische Tätigkeit kam ich über die Jahre hinweg immer wieder intensiv mit Kindern in Kontakt, welche aus heutiger retrospektiver Sicht dem Autismus-Spektrum zuzuordnen sind. Das war mir zunächst nur bei einigen wenigen Kindern klar, bei denen ich selbst oder eine andere kinderpsychiatrische Instanz die Diagnose »Asperger-Syndrom« gestellt hatte. Die Therapie mit diesen Kindern faszinierte mich immer wieder besonders, einerseits, weil sie mir einfach sympathisch waren, und anderseits, weil sie als besonders schwierig galten und andere Fachleute schließlich aufgegeben hatten.
Irgendwann, rückblickend war das im Laufe des Jahres 2007, hat meine klinische Erfahrung mit Kindern aus dem Autismus-Spektrum einerseits sowie das damit verbundene Studium von Fachliteratur anderseits offenbar eine »kritische Masse« erreicht, wo sich mein Verständnis von Autismus fundamental änderte und es zu einigen Aha-Erlebnissen kam: 1. Autismus ist nicht so selten, wie ich (und viele andere) bisher meinten. Etliche meiner Patienten gehörten in diese Kategorie, ohne dass mir das bisher bewusst war. 2. Mein Vater sowie die eine seiner Schwestern waren in der Tat »komisch«, sie waren Menschen mit einem »Asperger-Profil«. Und die andere Schwester meines Vaters war nicht schizophren, sondern schwerhörig und: autistisch.
Mittlerweile hat sich der Schwerpunkt meiner Praxistätigkeit deutlich verändert. Ich habe aus eigener Erfahrung gelernt, dass es sich bei der Diagnostik nicht um eine akademische Angelegenheit handelt, sondern dass eine korrekte Autismus-Diagnose äußerst wichtig ist, weil erst dann die richtigen therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen getroffen werden. Ich habe bereits viele Male konkret mitverfolgen können, wie jahrelange Leidenswege plötzlich eine neue, positive Wendung nahmen. Dies gilt insbesondere auch für mildere Formen von Autismus, und es wäre ein großer Irrtum zu meinen, eine solche mildere Form könne lediglich »milde« Probleme mit sich bringen!
Durch die Arbeit in Selbsthilfeorganisationen wie »Autismus Deutsche Schweiz«, »Asperger-Hilfe Nordwestschweiz« und »Autismusforum Schweiz« habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele, die sich für Kinder aus dem Autismus-Spektrum engagieren, aus einer persönlichen Betroffenheit heraus handeln. Oft tun sie dies in ihrer Rolle als betroffene Eltern. Bei mir betrifft es zwar die Herkunftsfamilie, also die Generation vor mir, aber eine gewisse emotionale Betroffenheit ist auch vorhanden. Was wäre wohl aus meiner autistischen Tante geworden, wenn sie als Kind richtig beurteilt und behandelt worden wäre? Mit Sicherheit hätte sie nicht ihr ganzes Leben in einer psychiatrischen Klinik verbracht.
Durch meine konkrete Praxistätigkeit habe ich aber vor allem auch die Erfahrung gemacht, wie vielfältig die Erscheinungsformen und die Probleme von Kindern aus dem Autismus-Spektrum sind, wie viele Überschneidungen es gerade mit den Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) gibt und wie oft deshalb immer noch Autismus-Diagnosen verpasst werden. Deshalb ist es v. a. auch ein Anliegen dieses Buchs, für die Vielfalt, für die verschiedenen Farben des Autismus zu sensibilisieren.
Liestal, im Herbst 2021
Thomas Girsberger