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Gesellschaftliche Veränderungen

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In den letzten ca. 30 Jahren, also in jenem Zeitraum, wo sich auch das Autismus-Konzept ganz grundlegend verändert hat, haben in der Gesellschaft eine ganze Reihe von wichtigen Veränderungen stattgefunden. Ich bin nun der festen Überzeugung und möchte in diesem Buch auch ein paar Argumente dafür liefern, dass diese gesamtgesellschaftlichen Veränderungen »nebenbei« auch das Erscheinungsbild des Autismus verändert haben.

Dies zu beachten ist deshalb wichtig, weil auch heute noch viele Fachleute Gefahr laufen, den Begriff Autismus zu eng zu fassen. Dies hat zur Folge, dass viele weniger stark Betroffene nicht oder erst sehr spät erkannt werden. »Weniger stark betroffen« heißt aber keinesfalls, dass diese Menschen nur wenige Probleme im Leben haben!

Ich möchte im Folgenden jene Bereiche aufzählen, die meines Erachtens in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind.

• Erziehungsstil: Grundsätzlich ist der Erziehungsstil im erwähnten Zeitraum gewährender geworden und auf die Wünsche und Eigenheiten von Kindern wird mehr eingegangen. Für die Entwicklung eines autistischen Kindes und für die Entwicklung der entsprechenden Eltern-Kind-Beziehung ist dies zunächst ein günstiger Faktor. Später kommt aber das Kind unweigerlich in Schwierigkeiten, wenn es die beschützende Atmosphäre der Familie verlässt bzw. verlassen muss (Kindergarten, Schule).

• Therapieangebote: Angebote wie heilpädagogische Früherziehung, Psychomotorik, Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie usw. gab es zwar auch schon vor 30 Jahren, sie wurden aber wesentlich seltener aufgesucht bzw. angewandt als heute. Man kann wohl schon von einer fast flächendeckenden Versorgung reden, mittlerweile neben den Städten auch in ländlichen Gebieten. Viele Kinder, die zum Autismus-Spektrum gehören und (noch) nicht als solche erkannt wurden, erhalten wegen einer bestimmten Symptomatik eine der oben erwähnten Therapien. Dies führt zu einer positiveren Entwicklung und »nebenbei« auch zu einer Verbesserung der Beziehungsfähigkeit. Die autistische Symptomatik wird zumindest reduziert.

• Schule: In der Schule haben sich tendenziell ähnliche Veränderungen abgespielt wie in der Familie: Gehorsam und Disziplin werden weniger großgeschrieben und Eigenverantwortung und Individualität haben mehr Platz. Für Kinder aus dem Autismus-Spektrum ist das am Anfang der Schulzeit eher von Vorteil, vorausgesetzt, die Lehrkraft ist ihnen wohlwollend gesinnt. Mit der Zeit stellt diese zunehmende Eigenverantwortung aber immer mehr eine Überforderung dar.

• Elektronische Medien und Unterhaltungselektronik: Am Beispiel meiner eigenen Kinder, die nun erwachsen sind und in die Altersgruppe der 35- bis 40-Jährigen gehören, kann ich mich sehr gut an die Zeit erinnern, wo Computerspiele, Handy und Internet noch nicht die Kindheit erobert hatten. Diese Angebote waren zwar schon in Ansätzen verbreitet, wurden aber selbstverständlich als der Erwachsenenwelt zugehörig betrachtet. In diesem Bereich hat sich im hier beschriebenen Zeitraum eine Entwicklung abgespielt, die ohne Übertreibung als Revolution bezeichnet werden kann, mit gewaltigen Auswirkungen auf alle Kinder. Kinder aus dem Autismus-Spektrum, welche definitionsgemäß enge und stereotype Interessen und Aktivitäten aufweisen, haben in Form der modernen Unterhaltungselektronik ein enorm attraktives neues Angebot erhalten. Ich möchte hier die Hypothese aufstellen, dass dies der Grund dafür ist, dass Kinder mit Asperger-Syndrom nur noch relativ selten diese klassischen ungewöhnlichen Interessengebiete (z. B. für WC-Spülungen) entfalten. Ihr Spezialinteresse ist nun oft die Welt der Computerspiele und des Internets, und auch wenn sie sich darin mit ungewöhnlicher Intensität bewegen, so fällt dies kaum als »merkwürdig« auf.

Eine meiner wichtigen Botschaften in diesem Buch lautet: Die oben beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen haben sich auf die Erscheinungsformen von Autismus in nicht unerheblichem Maß ausgewirkt. Kinder mit Frühkindlichem Autismus entwickeln aufgrund der günstigeren Rahmenbedingungen eher eine atypische Form von Autismus. Und Kinder mit Asperger-Syndrom zeigen ihrerseits nicht immer die ganze Palette von Symptomen, die über einen langen Zeitraum als unabdingbar für die Diagnosestellung galten.

Oder anders gesagt: Autismus ist auf der Grundlage der beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen vielfältiger, farbiger geworden. Begriffe wie »Atypischer Autismus«, »Grenzfall von Autismus« oder »Nicht näher bezeichnete Tiefgreifende Entwicklungsstörung« verlieren ihren ursprünglichen Sinn. Es ist unbedingt notwendig, neue Begriffe zu formulieren. Dies zeigt sich gerade auch daran, dass bei einer Gesamthäufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen von 1 % die oben erwähnten atypischen bzw. unvollständigen Formen die Mehrzahl der Diagnosen ausmachen.

So gesehen ist nicht der Autismus im Einzelfall atypisch, sondern es sind die Diagnose-Kriterien, die »atypisch« bzw. unzeitgemäß sind. Dies ist deshalb so wichtig zu betonen, weil darin der Grund liegt, dass viele Autismus-Diagnosen immer noch viel zu spät gestellt werden und so wertvolle Zeit für geeignete Maßnahmen verloren geht.

Die vielen Farben des Autismus

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