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Lebensstränge

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Thomas: Von außen betrachtet würde ich sagen, dass man diese Zeit als Doppelpunkt in deinem Leben sehen könnte. Was sich von hier aus in den nächsten dreißig Jahren entwickelt hat, wurzelt hier. Ist angelegt im noch jugendlichen Uli, der an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht. Es ging ums Schreiben, um Zeitschriften, um bestimmte Themen, um Ehrlichkeit, um Sexualität, um Musik, um Festivals – all das sollte dann ja noch eine wichtige Rolle spielen. Es sind Stränge, die sich dort zu entwickeln begannen und die du dann – viele gleichzeitig, so scheint mir –, selbst weitergetrieben hast.

Uli: Im Grunde gab es drei Lebensstränge zwischen 14 und 20: Es gab eine Pflicht, das war Schule. Es gab Gemeinde, ein Riesenfeld voller Möglichkeiten. Und es gab meine individuelle Persönlichkeit, wo ich manches neu entdeckt habe. Zum Beispiel die Theaterwelt.

Es gab ein Theater in Cuxhaven, wo pro Jahr um die zwanzig Tourneeschauspiele aufgeführt wurden. Durch einen Kumpel vom Wirtschaftsgymnasium fand ich dort einen Job als Kulissenschieber – nachmittags und spätabends. Die Ensembles kamen mit einem großen Laster und wir schleppten die Kulissen anderthalb Geschosse rauf in die Schulaula, die als Theater diente. Das gab Geld und man durfte natürlich während der Vorstellung dabei sein. Ich habe mich immer darum gerissen, am Schluss den Vorhang zu ziehen, oder habe manchmal oben auf der Beleuchterbrücke gelegen und Fotos gemacht. Ruth Maria Kubitschek oder Elisabeth Flickenschildt – ganz nah. Ich saß in der Schulbibliothek und wälzte die Jahrgänge von »Theater heute«. Damals hätte ich mir auch vorstellen können, Regisseur zu werden. Das war dann wieder die kreative Ader ...

Dann habe ich zwei Sommer lang in einer der vielen Strandgaststätten als Tellerwäscher gearbeitet und Fischreste von den Platten geputzt. Das gab ordentlich Geld für mein erstes Auto. Und hier in der Fischfabrik im Hafen habe ich als Beifahrer auf einem Laster Aludosen verladen. In dieser bunten Dreiteilung »Schule, Gemeindewelt und Selbsterprobung« war das eine superspannende Zeit und hat vieles angelegt.

Thomas: Du hast beschrieben, wie dein Bruder Otto seine neue Gotteserfahrung gemacht hat, wie er ein Stück weit auch aus seinem bisherigen Frömmigkeitsstil ausgebrochen ist, weil sich ihm eine neue Tür geöffnet hat. Wie hast du in der Lebensphase von 18,20 Jahren selbst Gott erfahren? Hast du ihn vor allem im Kontext deines Tuns erlebt, in dem er dabei war und segnete und gute Ideen gab? Oder gab es darüber hinaus andere persönliche oder emotionale Gottesmomente, Gegenwartsmomente? Hast du in Zungen gesprochen oder so?

Uli: Nein, da war nicht viel – keine großen Gotteserfahrungen im klassischen Sinne. Meine wesentliche Glaubensschiene war, dass ich zu Gottes Aktivteam in dieser Welt gehörte. Wir haben für ihn geschuftet, waren busy – und wir wussten, wo es langgeht und wo wir hinwollten! Meine Ebene von Gotteserfahrung war dieses Aktivsein für ihn. Wenn es schöne Lieder auf der Bühne gab, weil mein Jugendchor da war, oder Peter Strauch eine tolle Predigt gehalten hat – das hat mich überzeugt, das hat mich neu gefüllt, aber es war nicht Gotteserfahrung in einem tiefen persönlichen Sinn. Das ist ja auch später ein gewisses Problem geworden. Ich hätte gar nicht gewusst, wie ich ...

Thomas: … zum Beispiel auf die Knie gehen und Gott suchen und beten sollst, dass du berührt wirst?

Uli: Ja, vielleicht. Bei mir lief alles über mein Engagement, mein Unternehmer-Gen – und das ist vielleicht auch mit ein Grund, warum ich immer wieder mit Zweifeln ringe. Ich bin ja eher ein intellektueller Typ, der sich die Welt denkend zurechtlegt. Ein Grübler mit Fantasie, der große Gedankengebäude spinnen kann, sich selbst unendlich hinterfragt. Sich zugleich aber auch aufputschen und motivieren kann zu einer Leidenschaft und Aktion, zu Ideen. Aber weil das alles aus mir selbst, aus meiner Power, meiner Leidenschaft, meiner Begeisterung kommt, ist es dann an entscheidenden Stellen auch wieder hinterfragbar: »Na ja, das bist ja alles du selbst!«


Mit meinem langjährigen Jugendfreund Manfred Pagel (r.)

Thomas: Du bist der Macher! Das ist Uli, der kann’s auch ohne Gott!

Uli: Ja, vielleicht. Gleichzeitig war immer klar: Gott war heilig! Ich fühlte mich Jesus absolut verpflichtet! Das war für mich unangefochten: Für ihn arbeite ich, ihm will ich hinterher, möglichst radikal, möglichst umfassend, bestmöglich! Aber er hat nicht nachts zu mir gesprochen – ich habe ihn nicht unhinterfragbar erfahren. Ich habe nicht auf Knien gelegen, das kam später. Bis in die Dünenhof-Phase hinein lief alles extrem idealismusgesteuert und über Leidenschaft. Ziele haben, sie verfolgen, kämpfen für etwas gutes Neues, für Durchdachtes. Daraus lebte es stark, und das hatte eben auch diese Tendenz zur Leistungsbetonung.

Deswegen ist in unserer Lebensgemeinschaft später das Buch »Gott braucht keine Helden« von Magnus Malm so eingeschlagen. Ich war mit meiner Rolle und meiner Arbeit so überidentifiziert und dann hörte ich von Malm: »Gott braucht dich nicht. Er will nicht deine Arbeit – er will dich!« Das war eine Revolution – gerade für uns Männer.

Ich bin überzeugt, dass es in Menschen eine rein systemische Leidenschaft und Überzeugung und hohe ideologische Power gibt, die per se erst mal gar nichts Transzendentes hat. Ein überzeugter Pietist, ein evangelikaler Gemeindekämpfer oder ein Vollblut-Sozialist – alle haben dieselbe Antriebspower des Idealismus! Da muss null Gott drin sein. Es ist nur ein Zielsystem mit einer jeweils anderen Farbe.

Thomas: Also hat dich damals im Wesentlichen nichts von einem glühenden Sozialisten der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der DDR unterschieden, der ganz für sein sozialistisches System lebte und kämpfte?

Uli: Genau darüber denke ich nach, wenn wir gemeinsam den DDR-Sozialismus entdecken, wo idealismusgesteuerte Leute eigentlich alles besser machen wollten. Ich würde tatsächlich sagen: Der objektive Unterschied ist da, der subjektive eigentlich nicht! Ich war in ein Gemeindesystem gepurzelt, das mich überzeugt und menschlich gebunden hat und dem ich mich verpflichtet gefühlt habe. Für das ich gerne und mit Begeisterung gelebt habe, das mich geprägt hat. Ähnlich wie jemand, der aus dem Krieg kam, zufällig in die DDR »gefallen« war und dort sein »nie wieder Krieg, nie wieder Nazi-Terror!« gelebt hat, alles besser machen wollte und sich diesem neuen System mit großer Überzeugung verpflichtet hat. Der dort seine Beziehungen, Freundschaften, Ziele und Niederlagen erlebt hat – so wie ich eben im Gemeindekosmos.

Wir beide sinnen ja viel darüber nach, wie sehr man sich aus guten Motiven am Ende auch in ein schlechtes System verstricken und überloyal die schlimmsten Sachen mitmachen kann. Der Unterschied, das Transzendente an meinem und unserem Weg besteht darin, dass ich weiß: »Das, woran ich arbeite, ist letztlich unverfügbar. Und es gibt einen Gott, der es hält, und es gibt einen Gott, der mein Leben durchwirkt, auch wenn ich es manchmal nicht glaube! Es gibt viel mehr als mich – auch wenn ich mein Bestes gebe!«

Das ist das, was Kirche wirklich anders macht – der wirksame, gegenwärtige, unverfügbare Gott, an dessen Segen und Wirken alles gelegen ist. Wenn sie das nicht ist, ist Kirche zu wenig, dann wird sie genau daran zugrunde gehen.

Thomas: Aus dieser Perspektive ist es ein großes Stück Gnade, dass du mit deiner Antriebskraft und deinem Gestaltungswillen in dieses System gefallen bist, bei dem es um Gott und sein Reich geht ...

Uli: Gnade, ja. Und eine Bevorzugung! Der Zweifler und Skeptiker in mir sagt: »Und falls es Gott nicht gibt, ist es auch ein Stück Zufälligkeit gewesen, in der ich die mir gegebenen Gaben und mein Gewordensein mit Leidenschaft ausgelebt habe. So wie es andere in anderen Systemen getan haben. Aber dann war es zum Nutzen von Menschen und hat Gutes bewirkt und scheint mir unendlich wertvoll.« Aber es ist ja mehr – ich will glauben und mich dem Transzendenten, diesem unseren Gott, anvertrauen. Den ich nicht beweisen kann, in dem ich aufgehoben bin, der mich selbst weit übersteigt. Und damit übersteige ich die Reduktion auf ein rein weltliches System.


Unser zweites Gespräch legt die Spuren frei, auf die zu stoßen ich im Stillen gehofft hatte: Es zeigen sich die Wurzelgründe dieses beispiellosen Bewegers in der deutschsprachigen christlichen Szene. Im Grunde genommen lebt Uli ungebrochen, was schon in seiner Jugend Programm war: ambitioniertes Engagement für Gemeinde und Reich Gottes. Auf der Suche nach Inspiration und Innovation, damit der Glaube lebendig, ansprechend, relevant durch alle Lebensräume hallt. Da sind die Spuren, die sich später verstärken und verdichten: Musik, Festivals, Schreiben, Fördern. Klares Ansprechen von Unehrlichkeiten und frommer Überhöhung. Mutiges Aufbrechen von Tabus und schambehafteten Themen. Suche nach Gnade, Freiheit und Annahme. Noch manches zeigt sich erst im Ansatz, ist da und dort von zweifelhaften Kräften angetrieben. Aber sie ist da: die Sehnsucht nach dem Echten. Und der Wille, sich dafür starkzumachen. Noch etwas anderes hat sich mit diesem zweiten Gespräch geöffnet: die Türe zu einem tabufreien Dialog. Mir fällt der deutsche Schriftsteller Christoph Hein ein, der behauptete, dass auf die Erinnerung älter gewordener Männer kein Verlass sei, da sie nichts anderes als der Versuch seien, ein missglücktes Leben zu korrigieren. Eines ist sicher – und der Rest dieses Buches wird es bestätigen: Zu beschönigen liegt Ulrich Eggers fern.

Der Ideen-Entzünder

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