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8 Die Höhle im Eis
ОглавлениеAm nächsten Morgen war Elija früh wach. Tara, Frede und die Gäste, die über Nacht
geblieben waren, schienen allesamt noch zu schlafen, doch Klein-Anni war natürlich schon
wach. Elija nahm sie der unausgeschlafenen Amme ab und kümmerte sich selbst darum, sie
mit ihrem süßen Frühstücksbrei zu füttern.
Als das kleine Mädchen satt war, gingen Tante und Nichte gemeinsam in Annis Spielzimmer.
„Will Buch lesen“, forderte die Kleine. „Vorlesen, Tante Elli?“
Mit watschelnden Schrittchen tapste die Kleine zu einer großen, offenen Holzkiste und zog
ein schon reichlich mitgenommenes Bilderbuch hinaus.
„Das Buch, Tante Elija! Mit böse Drachen und Elfen!“
Für einen Moment starrte Elija auf den Bucheinband. Das Bild zeigte ein Dorf, ganz ähnlich
Fallseben. Darüber in der Luft flog ein gigantischer, pechschwarzer Drache, mit blutroten
Augen, der Feuer in Richtung der Stroh gedeckten Häuser spuckte. Auf seinem Rücken ritt
ein bogenschießender Elf, ein furchterregendes, blasses Geschöpf mit langem schwarzem
Haar und schwarzen Augen.
‚Ist es ein Wunder, wie tief Angst und Hass liegen, wenn schon kleine Kinder solche
Geschichten zu hören bekommen?’, dachte Elija.
„Nein, Schatz! Dieses Buch gefällt mir nicht!“
„Du Angst? Niss Angst haben, Tante Elija. Alles gut! Drache wird tot gemacht! Guck!“
Mit ungeschickten Fingerchen blätterte die Kleine eifrig an den Schluss des Buches und hielt
Elija eine Zeichnung hin. Der Drache lag blutend auf dem Boden, den Elfen unter seinem
Körper begraben, nur sein blasser Arm war noch zu sehen.
„Alles gut!“, wiederholte Anni und blätterte noch eine Seite weiter, auf der dutzende
gezeichnete Dörfler lachend und jubilierend um den Drachen herum tanzten.
„Nein, Anni!“, sagte Elija bestimmt, nahm das Buch weg und legte es beiseite. „Ich werde dir
eine andere Geschichte erzählen. Komm, setz dich auf meinen Schoß!“
„Niss von Drachen?“
„Doch meine Kleine! Ich werde dir die Geschichte von einem großen Drachen erzählen!
Komm, setz dich.“ Sie zog das Mädchen auf ihren Schoß und begann eine Geschichte.
„Es war einmal ein riesiger Drache. Der war so groß und so unheimlich, dass alle Menschen
ihn fürchteten. Der Drache aber war sehr traurig darüber, denn er war einsam und er wünschte
sich nichts mehr, als einen Menschen zum Freund. Eines Tages ging ein kleines Mädchen im
Wald spazieren …“
Elija war selbst überrascht, wie einfach es ihr fiel, sich eine Geschichte von der Freundschaft
zwischen einem Mädchen und einem Drachen auszudenken, die Anni tief in ihren Bann zog
und faszinierte. Sie beschloss, die Geschichte für die Kleine aufzuschreiben … vielleicht
würde Tara ein paar Bilder dazu malen?
Elija war selbst so in der Geschichte versunken, dass sie Tara gar nicht bemerkte. Erst als die
Erzählung mit einem guten Ende abgeschlossen war, registrierte sie ihre Schwägerin hinter
sich.
„Mama!“, rief Anni begeistert, „Tante Elija hat mir ganz ssöne Geschichte erzählt. Vom
Drache!“
Elija war sich unsicher, wie Tara reagieren würde, doch sie lächelte und setzte sich zu ihnen
auf den Boden.
„Ich habe das Ende gehört. Eine wirklich schöne Geschichte!“, lobte sie.
„Ich glaube, ich werde sie aufschreiben, wenn sie Anni so gut gefällt.“
„Tu das. Sie ist ja ganz verrückt auf Drachen, und ihr altes Drachenbuch zerfällt schon fast.
Ich wollte es längst wegwerfen, sie bekommt manchmal böse Träume davon. Aber sie will es
nicht hergeben.“
„Dann werde ich ihr ein neues schreiben – vielleicht kannst du ein paar Bilder hinein
zeichnen?“
„Das ist eine schöne Idee, das machen wir!“
Anni war längst zu etwas anderem übergegangen. Mit begeistertem Gewieher ließ sie kleine,
geschnitzte Holzpferdchen über den Teppich galoppieren und schenkte den Frauen kaum
mehr Beachtung.
„Aber nun erzähl endlich“, sagte Tara mit verschwörerisch gesenkter Stimme, „was da
gestern mit dem Herzog Fagin gewesen ist? Ihr wart auf einmal verschwunden! Du kannst dir
nicht vorstellen, wie die alten Vetteln sich die Mäuler zerrissen haben. Was war da?“
„Ja … ich …. Also …“ Elija ärgerte sich, das Blut schoss ihr in den Kopf. Sie hatte es
tatsächlich versäumt, sich eine gute Erklärung auszudenken. „Mir war nach dem ganzen
Tanzen einfach zu warm im Ballsaal, und wir haben einen …. Spaziergang gemacht.“
„Einen Spaziergang.“ Tara zog amüsiert die Brauen hoch. „Bei der Kälte?“
„Zum Stall. Der Herzog interessiert sich sehr für Pferde. Ich habe ihm unsere Pferde
vorgestellt.“
„Pferde …?“ Tara unterdrückte ein Lachen, doch dann seufzte sie enttäuscht. „Schon gut,
Elija, ich merke, dass du nicht viel erzählen möchtest. Du redest nicht gerne über Männer, hab
ich recht?“
„Ich …. aber wieso …“
„Na, was ist mit dem jungen Mann, von dem du nur so flüchtig erzählt hast?“
„Ach … ach das …“, Elija war froh, von Jarnos verkleidetem Besuch ablenken zu können
und griff die Chance rasch auf. Hier war sie zumindest vorbereitet, und hatte sich eine – nur
fast unwahre – Geschichte einfallen lassen.
„Das ist eine einfache Geschichte.“
„Erzähl sie mir!“
„Nun, es war an einem sehr schönen, sonnigen Frühlingstag im Frühjahr vorletzten Jahres. Ich
ritt im Wald und dachte mir nichts Böses, als plötzlich ein Einhorn auf einer Lichtung stand.
Du kannst dir vorstellen, wie ich mich erschreckt hab! Aber plötzlich kam ein Junge, etwas
älter als ich, und er verjagte das Tier.“
„Oh, bei den Göttern, er verjagte ein Einhorn?“ Tara sah sie entsetzt an.
„Nun ja, es war ein sehr junges Tier. Ein Fohlen. Das hab ich in meinem Schreck aber gar
nicht richtig wahrgenommen.“
„Natürlich nicht, da bleibt einem ja das Herz stehen!“
„Nun ja, meines schlug eher schneller.“
„Wegen dem Einhorn oder wegen des Jungen?“
„Beides!“ Elija lachte.
„Und dann?“
„Nun ja, wir redeten eine Weile.“
„Und, wie sah er aus?“
„Oh … er war groß und schlank. Dunkles Haar. Er sah gut aus, wenn du das wissen möchtest.
Er hatte schöne Augen.“
„Und ihr habt euch wieder gesehen?“
„Am nächsten Tag.“
„Und kamt ihr euch näher?“
„Ähm“, Elija errötete und dachte an den Abend zuvor, „Wir haben uns geküsst, ja.“
„Wie war es?“
„Oh Tara, du bist unmöglich. Es war schön. Es war … wundervoll.“
„Du warst in ihn verliebt, oder?“
„Ich …. ja, ich war wohl in ihn verliebt. Ein bisschen.“ 'Ein bisschen maßlos untertrieben',
dachte Elija.
„Und dann?“
„Dann“, sie stockte, und hätte sie Jarno am Abend zuvor nicht wieder gesehen - würde sie
nicht immer noch seinen Kuss auf ihrem Mund zu schmecken glauben, wäre sie an dieser
Stelle vermutlich in Tränen ausgebrochen. „dann habe ich ihn nicht wiedergetroffen.“
„Aber warum denn nicht? Wollte er dich etwa nicht wieder sehen?“ Tara schien entrüstet.
„Nein, das war es nicht …. aber er … passte nicht zu mir.“
„Hm. Er war kein Adliger?“
„Nein.“
„Aber Elija! Meinst du nicht, dass das zweitrangig gewesen wäre. Du hast keine realen
Thronansprüche, ich glaube kaum, dass es deinem Vater so wichtig gewesen wäre, dass …“
„Nein, es war völlig ausgeschlossen. Unmöglich.“
„Meinst du nicht, dein Vater hätte eine Ausnahme erlaubt? Er war doch kein Strauchdieb,
oder so was?“ Tara lachte und Elija fiel bemüht in das Lachen mit ein – bemüht es nicht
hysterisch klingen zu lassen. 'Strauchdieb', dachte sie. 'Sehr komisch.'
„Nein …. Er war ein … ähm … ein Bauernsohn. Ziemlich ärmlich. Ich musste vernünftig
sein!“
Tara schwieg eine Weile und neigte nachdenklich den Kopf.
„Das sieht dir gar nicht ähnlich, vernünftig zu sein“, sagte sie dann zweifelnd. „Nicht in
solchen Dingen. Ich hätte dich anders eingeschätzt.“
Elija errötete unter ihrem Blick noch mehr. Sie konnte Tara nichts vormachen.
„War das der Grund, warum du damals so unglücklich schienst und sich so vor deinem Vater
zurückgezogen hast? Du warst wütend über deinen Stand?“, fragte Tara schließlich.
„Ja, das … das kann man so sagen.“
Elija spürte einen schweren Stein in ihrem Magen. Das Gespräch mit Tara machte ihr nach
dem Abend am Vortag unmissverständlich klar, dass Jarno immer noch kein verwunschener
Prinz war, sondern nach wie vor ein Halbelf und damit auf Dauer für sie so unerreichbar wie
die Monde es waren.
Die Erkenntnis legte einen eiskalten Schal um ihren Hals. Nur eine leichte, kalte Berührung –
aber Elija war klar, dass sich die Schlinge jederzeit zuziehen könnte. Sie würde sich zuziehen.
Sie würde Jarno wieder sehen – und wieder verlieren, es bestand kaum Aussicht, an dieser
Tatsache etwas zu ändern.
„Tante Elli!“, krächzte Klein-Anni plötzlich. „Tante Elli, können Drachen bis hin zu die
Monde fliegen?“
„Zu den Monden fliegen …?“ Sie lächelte wieder und die Schlinge schien sich ein wenig zu
lösen.
Kluges Mädchen - hoffen war schließlich immer noch erlaubt.
„Ja, vielleicht können Drachen das. Warum eigentlich nicht?“
„Fliegen wir dann zu die Monde hin, wenn wir einen Drachenfreund haben?“
„Wenn ich mal einen Drachen treffe, werde ich ihn fragen, ob er mit uns zu den Monden
fliegt! Da wollte ich immer schon mal hin“, sagte Elija und zwinkerte Anni verschwörerisch
zu.
Tara hatte über die Bauernjungen-Geschichte den Herzog Fagin nicht vergessen. Den ganzen
Tag über fragte sie Elija immer wieder nach ihm, doch Elija blieb dabei, dass sie ihm
lediglich die Pferde gezeigt hatte und er dann früh aufgebrochen war.
Er sei zwar gutaussehend und ein beeindruckender Tänzer, erzählte sie, aber auch ein
Langweiler und schrecklich einfältig – wobei sie Jarnos Worte aufgriff und hoffte, dem
richtigen Herzog damit nicht zu sehr Unrecht zu tun. Darum, so erklärte sie, hatte sie absolut
kein Interesse an einem Wiedersehen. Dass sie es dagegen kaum erwarten konnte, den Mann
hinter der Herzog-Maske wiederzusehen, verschwieg sie lieber.
Als der Tag der Verabredung endlich gekommen war, war Elija beim ersten Morgengrauen
wach und aus dem Bett. Sie ließ sich von einem missmutigen, müden Mädchen rasch Brot
und Schinken zum Frühstück bringen und war wenig später im Stall. Die Pferde hatten ihr
morgendliches Futter noch nicht bekommen, und Mari schien nicht begeistert, ohne Frühstück
den warmen Stall zu verlassen. Die Stute verhielt sich triebig und unwillig, und offenbar fror
sie genau so wie Elija.
Durch die klirrende Kälte schien der Weg zum Wasserfall länger zu werden – Elija hatte ihn
viel kürzer in Erinnerung. Ungeduldig trieb sie ihre Stute schneller, doch sie durfte auch nicht
zu viel von ihrem Pferd fordern – bei der eisigen Kälte sollte Mari besser nicht schwitzen.
Es schien ewig zu dauern, bis sie den Ort fast erreicht hatte. Nun lag nur noch ein kleiner
Waldstreifen vor ihr, dessen Wege jedoch durch den verwehten Schnee nahezu unpassierbar
schienen. Elija beschloss, kein Risiko einzugehen und ritt um das Waldstück herum. Endlich
hatte sie die letzten Bäume passiert und der Fluss lag vor ihr, sie konnte nun den Abgrund, in
den der Fluss stürzte, sehen und wusste, dass sie das Tosen des Wasserfalls hören müsste.
Doch Elija hörte gar nichts ...
Es dauerte einen Moment bis sie beim Näherkommen erkannte, dass der Fluss tatsächlich
völlig zugefroren war. Staunend ließ sie ihre Stute anhalten und blickte über die eisige Fläche.
„Beeindruckend, nicht?“ Elija brauchte sich nicht umdrehen um Jarno zu erkennen, trotzdem
zuckte sie leicht zusammen.
„Jarno! Wartest du schon lange?“, fragte sie und wendete Mari in seine Richtung.
„Nein, ich bin gerade gekommen.“ Er deutete auf das Waldstück, welches Elija umritten
hatte. „Komm, ich zeig dir etwas!“ Damit lief er vor.
Elija war leicht enttäuscht. Sie hatte sich nach dem heftigen Kuss nach dem Ball eine etwas
innigere Begrüßung vorgestellt. Jetzt schien er sogar Abstand zu ihr halten zu wollen. Sie
seufzte leise und ritt ihm nach, näher an den Abgrund. Sie ließ Mari in sicherem Abstand
angebunden, ehe sie zu ihm trat und in die Tiefe sah.
„Unglaublich!“ staunte Elija. So etwas hatte sie nie zuvor gesehen.
„Schön, nicht wahr?“
Wie ein gigantischer, weiß-silbrig schimmernder Vorhang aus Eis fiel der Wasserfall in die
Tiefe. In den gefrorenen Fluten leuchtete das Blau des Himmels und das Licht wurde in
unglaublichen Nuancen reflektiert.
„Komm, wir gehen runter!“, sagte Jarno und ging ein paar Schritte vor.
„Was? Da runter?“ Elija suchte die Hänge seitlich des Wasserfalls mit den Augen ab. Die
steinernen Abgründe reichten meterweit in die Tiefe, überall hingen Eiszapfen an den
Felsvorsprüngen.
„Komm!“, wiederholte Jarno nur und streckte ihr die Hand hin, die sie zögerlich ergriff. Das
war zumindest eine kleine Berührung …
Etwas abseits der mörderischen Kante führte Jarno sie über den zugefrorenen Fluss. Er schien
keine Mühe mit der spiegelglatten Eisfläche zu haben und hielt Elija grinsend fest, als sie
auszurutschen drohte. Am anderen Ufer angekommen trat er mit ihr im Schlepp zurück an
den felsigen Abgrund. Dort begann er sogleich mit dem Abstieg.
Elija wartete einen Moment fassungslos und beobachtete ihn mit klopfendem Herzen. Dann
erst sah sie die hölzernen Stufen, die offenbar von Menschenhand - oder auch von Elfen? - in
den Stein gearbeitet worden waren.
„Das ist ja eine Treppe!“, rief sie überrascht und Jarno grinste zu ihr hoch.
Obwohl es aufgrund der Stufen einfacher war, in den Abgrund zu klettern, kam es Elija
immer noch waghalsig gefährlich vor. Die Holztritte waren mit den Füßen schwierig zu
finden und sie waren glatt, und die Höhe schien endlos lang nicht geringer zu werden.
Als Elija endlich wieder Boden unter den Füßen hatte, zitterten ihr die Knie und sie spürte,
wie ihr trotz der eisigen Kälte der Schweiß in einem kleinen Rinnsaal den Rücken hinunter
lief. Jarno dagegen schien so gelassen, als würde er diesen Weg täglich nehmen.
„Man kann natürlich außen herumreiten und mit einem Pferd hierher kommen“, erklärte er
und deutete mit seiner Hand einen Bogen, „Aber ich dachte, du würdest den direkten Weg
bevorzugen.“
„Das dachtest du!“, keuchte Elija atemlos, doch als sie die steile Wand empor sah, die sie
soeben runter geklettert war, fühlte sie sich plötzlich enorm stark und mutig wie nie zuvor.
„Nun ja … ich gebe zu, dass es etwas für sich hat.“
„Und jetzt zeige ich dir etwas, was jede Kletterei wert ist!“ Jarno hatte sie wieder an der Hand
gefasst. Wie Elijas Hände war auch seine nach dem Klettern eiskalt, und doch war es Elija,
als würde sie irgendeine andere Art von Wärme ausstrahlen und langsam Leben in ihre steif
gefrorenen Fingerspitzen zurück bringen.
Jarno führte sie zurück zum Wasserfall, direkt an die Stelle, an der die gewaltige Massen aus
Eis wie tausend Speere aus Kristall in den gefrorenen Untergrund zu stechen schienen. Elija
berührte das gefrorene Wasser vorsichtig mit der freien Hand.
„Du weckst die Wassergeister“, sagte Jarno leise, nahm ihre Hand, und berührte mit seiner
anderen die feuchten Stellen, die das Eis an ihren Fingerspitzen hinterlassen hatte. Seine
Augen versanken in ihren, als er leise weiter sprach. „Wenn es sehr kalt wird, dann fallen sie
in tiefen Schlaf und das Wasser wird zu Eis. Ohne die Wassergeister kann es sich nicht mehr
bewegen. Wärme weckt sie wieder auf und das Wasser wird wieder beweglich und lebendig.“
Seine Finger berührten Elijas kaum, und doch kam es ihr vor, als würde ihr ganzer Arm unter
seiner Haut zittern. Er sah prüfend an dem Eis hinauf, ohne Elija loszulassen.
„Es ist bald soweit, es wird tauen. Ich möchte dir vorher noch etwas zeigen.“
Noch einmal führte er sie an der Hand, diesmal seitlich neben den gläsernen Vorhang.
„Man kann dahinter hindurch gehen“, stellte Elija überrascht fest.
„Mehr noch. Komm!“
Jarno führte sie hinter den Wasserfall, wo das gefrorene, den Himmel widerspiegelnde
Wasser alles in ein bläuliches Zwielicht tauchte, dem Vollmondlicht gar nicht so unähnlich.
Als sich Elijas Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte sie den Eingang zu einer Höhle.
Sie gingen ein paar Schritte tiefer in die Dunkelheit und Elija vernahm einen seltsamen, leicht
stechenden Geruch. Jarno griff nach etwas auf dem Boden und hob ein paar Gegenstände auf.
Es war inzwischen so finster, dass Elija kaum noch etwas sehen konnte, doch Jarno hatte
offenbar zwei Feuersteine und eine ölgetränkte Lumpenfackel an diesem Ort versteckt und
entzündete sie bereits.
„Bist du häufiger hier?“, fragte Elija erstaunt.
„Manchmal. Am liebsten im Winter. Wenn das Wasser fließt ist es enorm laut hier und noch
viel dunkler. Ich kann bei ein wenig Licht ganz gut sehen“, erklärte er, „Aber bei absoluter
Finsternis sehe ich auch nichts mehr. Daher liegen hier Fackeln. So, jetzt wirst du gleich
etwas Unglaubliches sehen.“
Die Fackel brannte knisternd an und leuchtete schließlich auf. Jarno nahm erneut Elijas Hand,
ohne seine Hilfe hätte sie sich im Halbdunkeln auch kaum weiter in die Höhle getraut. Immer
wieder hingen matt schimmernde Tropfsteine und glitzernde Eiszapfen im Weg, denen sie
ausweichen mussten und der Boden war felsig und uneben, so dass Elija mehrfach fast
gestolpert wäre.
Dann waren sie offenbar angekommen und Jarno beleuchtete mit der Fackel eine kalkweiße
Wand, die so eben und glatt schien, als hätte ein Steinmetz sie geschliffen. Jarno steckte die
Fackel in eine Felsspalte, die er offenbar schon früher zu diesem Zweck ausgesucht hatte. Es
dauerte etwas, bis Elija die verblassten Zeichnungen an der Kalkwand wahrnahm.
„Wunderschön“, flüsterte sie ehrfürchtig und betrachtete die einzelnen Bilder. „Wer mag dies
gemacht haben?“
„Ich weiß es nicht. In jedem Fall ist es uralt. Sieh mal hier!“
Elija wandte sich der Stelle zu, auf die Jarno zeigte. Die schwache Zeichnung, sie schien mit
Stein einfach in die Wand geritzt zu sein und war dennoch voller winziger Details, zeigte ein
Feuer, um das sich mehrere Menschen versammelt hatten. Erst beim genaueren Hinsehen
erkannte Elija, dass unter ihnen auch Elfen waren, die spitzen Ohren waren gut zu erkennen,
und selbst die schwarzen Augen konnte man erahnen – und alle lachten und saßen friedlich
zusammen.
„Meinst du tatsächlich, dies hat jemand gemacht, der sich an solche Zeiten erinnern kann?“
Elija wartete die Antwort gar nicht ab, hastig suchte sie die anderen Zeichnungen mit den
Augen ab. Tatsächlich – es waren fast überall Elfen und Menschen gemeinsam abgebildet.
Auf einem Bild, wie sie vereint gegen einen riesigen Wolf kämpften, auf dem nächsten im
Kampf mit einem Einhorn. Auf dem nächsten Bild ritt ein Elf ein Einhorn.
Andere Bilder zeigten einen Marktplatz, auf dem Elfen und Menschen friedlich miteinander
zu sehen waren, eine weitere zeigte einen Klampfe spielenden Elfenmann und zwei
Menschenfrauen, die dazu tanzten.
„Solche Zeichnungen gibt es in vielen Höhlen. Sie sind uralt und sie zeigen, wie die
Menschen und Elfen damals gelebt haben.“
„Dann denkst du, es ist wahr? Gab es wirklich eine Zeit in der Frieden war zwischen den
Völkern?“
Jarno zog Elija nah an sich heran und umfasste ihr Gesicht sanft mit den Fingerspitzen und
sah ihr tief in die Augen.
„Ja, das denke ich“, sagte er. „Und ich glaube, dass es solche Zeiten wieder geben wird.“
Ich sehe es … in deinen Augen! glaubte Elija wie durch dicken Stoff zu hören, obwohl Jarno
seine Lippen gar nicht bewegte, und sein Blick schien viel tiefer in sie zu dringen, als sie
selbst je gewesen war.
Für eine wunderbare kleine Ewigkeit verblieben beide unbeweglich. Dann wandelte sich
Jarnos Gesicht und bekam einen amüsierten Ausdruck.
„Fürchtest du dich eigentlich gar nicht?“
„Warum sollte ich mich fürchten?“
„Nun, Menschen glauben an Täuschungszauber, und daran, dass Elfen sie in ihren Bann
ziehen.“
„Könntest du das denn?“
„Normalerweise schon“, sagte er mit einem Unterton, den Elija nicht verstand.
„Oh“, Elija war tatsächlich erstaunt. Sie hatte nicht gewusst, dass Jarno als Halbblut über
solche Zauberkräfte verfügte. Natürlich hatte sie daran gedacht, aber …
„Nun“, sagte sie dann schlicht, „dann hast du es vermutlich längst getan. Und es fühlt sich
wunderbar an, also hör bitte einfach nicht auf damit. Damit wäre ich schon zufrieden.“
Und diesmal lag es an ihr, Jarno zu küssen.
Und während ihre Hände wie selbstverständlich unter sein Hemd wanderten, um sich an
seiner kühlen Haut ein wenig zu wärmen, spürte sie seine Hände, wie sie sich unter ihrem
Hemd einen Weg suchten … und fanden, zärtlich ihren Rücken bis an die Schultern
hochfuhren, in ihrem Nacken für einen heftigen Gefühlsausbruch sorgten, wieder ein Stück
hinab fuhren und sich schließlich unter ihren Achseln hindurch vorsichtig weiter vor wagten.
Elija stöhnte leicht auf, als er ihre Brüste sanft streichelte, mit seinen kühlen Finger über ihre
Haut strich und sie wurde mutiger. Mit zitternden Fingern knöpfte sie sein Hemd auf, zögerte
dann angesichts der Außentemperaturen.
„Mir ist nicht kalt“, wisperte er, und sie strich ihm das Hemd von den Schultern und
bewunderte mit ihren Blicken und Händen seinen schlanken Oberkörper.
Sein Herzschlag schien etwas beschleunigt, sein Atem ging zitternd, als sie sich mit den
Lippen seiner Haut widmete, und seine Hände wurden fordernder.
Elija warf ihren Mantel zu Boden und Jarno ließ sich rücklings darauf nieder und zog sie über
sich. Elija spürte den kalten, felsigen Boden an ihren Händen und den Knien, aber Jarno
schien es gar nichts auszumachen. Er warf ihr seinen Mantel um die Schultern und streifte ihr
darunter etwas fahrig das Hemd vom Körper, und das Unterhemd gleich dazu.
Für einen Moment wollte Elija zurück ... Scham kam auf … seit sie ein kleines Kind war,
hatte niemand sie nackt gesehen …
Dann sah sie Jarnos Blick, der sie so liebevoll, bewundernd und begehrend ansah, dass sie alle
Scham vergaß und sich an ihn schmiegte, um nicht zu frieren. Elija spürte sein Verlangen, als
sie ihn küsste. Sie hatte immer etwas skeptisch über die Vereinigung von Mann und Frau
gedacht, für sie vorstellbar waren solche Dinge bisher nicht gewesen.
Aber sie stellte nicht ohne ein gewisses Erstaunen fest, dass sich gewisse Ansichten
manchmal ändern können …sehr schnell ändern konnten. Und machte sich ungeschickt an
seinem Gürtel zu schaffen.
Jarno sog zischend die Luft durch die Zähne ein, als sie wie beiläufig über die Beule in seiner
Hose fuhr, mit leisem Keuchen griff er ihre Hand und zog sie ein Stück fort.
„Ich will dich viel zu sehr!“, flüsterte er mit bebender Stimme. „Mach jetzt keine
Dummheiten.“
„Und ich will dich“, antwortete Elija, erstaunt über ihre eigene Courage und zog ihre Hand
wieder frei, um sie dahin zurück zu legen, wo er sie weggenommen hatte. „Aber ich … ich
habe noch nie … ich …“
„Hast du Angst?“
„Ein bisschen“, gab Elija zu und rutschte neben ihn auf dem ausgebreiteten Mantel herum.
„Auch wegen … der Sache mit den Kindern.“
Jarno grinste, aber es war kein völlig ehrliches Grinsen, eine Spur von Schmerz schien darin
aufzuleuchten. „Ich bin nur ein Halbblut, Elija. Ich kann keine Kinder zeugen.“
Erstaunt sah sie ihn an. „Das wusste ich nicht.“
„Die Elfen verhindern dies mit einem Bann. Nur bei den wirklich schönen Frauen unserer
Rasse machen sie manchmal eine Ausnahme.“ Er zuckte die Schultern und strich ihn dann mit
den Fingerspitzen über die Lippen. „Du musst keine Angst haben“, sagte er leise. „Ich tu
nichts, was du nicht willst. Ein Wort, und ich höre auf.“ Sein Gesicht vergrub sich an ihren
Brüsten, seine Rechte aber wanderte tiefer….
„Hör nicht auf“, hauchte Elija lautlos.
Elija war fasziniert von Jarnos Körper. Seiner Zärtlichkeit, seinen geschmeidigen
Bewegungen und der Art, wie er sie berührte. Vorsichtig, ohne zaghaft zu sein. Zärtlich und
doch so kraftvoll. Sie wollte ihn, und spürte, dass auch ihr Körper mehr als bereit dazu war
und zog ihn einladend über sich.
Er war so vorsichtig wie seine Erregung es zuließ. Der Schmerz war kurz und heftig und Elija
schrak zusammen. Jarno blieb einen Moment regungslos in ihr, bedeckte ihr Gesicht mit
Küssen und wartete, bis sie sich wieder entspannt hatte, ehe er sich langsam in ihr bewegte
und Elijas Kehle nach einer Weile leise Seufzer entlockte.
Doch dann wurde er plötzlich ungestüm, seine Sanftheit war wie verflogen, und Elija bekam
Angst, als er ihre Handgelenke umfasst und ohne jeden Widerstand hinzunehmen zu Boden
drückte sich tiefer und härter in ihr bewegte; sie kaum mehr wahrzunehmen schien. Er tat ihr
weh.
„Jarno, nicht!“ wimmerte sie erschrocken, und Jarno ließ mit einem Keuchen sofort von ihr
ab.
Der Schreck stand ihm in den Augen und seine Lippen zitterten.
Entschuldigend schmiegte er seine Arme um sie und drückte sie an sich. Elija fühlte sich trotz
dem kurzen Schrecken sicher und geborgen wie nie zuvor in ihrem Leben.
„Es tut mir leid!“, sagten beide wie aus einem Mund, und Jarno musste schuldbewusst
grinsen.
„Dir braucht gar nichts leid zu tun“, flüsterte er. „Es war meine Schuld. Ich muss besser auf
dich aufpassen. Du hast mir nur … meinen Verstand geraubt.“
Elija hätte bis an den Rest ihres Lebens in der Höhle bleiben wollen. Doch die Fackel begann
nervös zu flackern und verriet, dass sie bald erlöschen würde. Sie zogen sich an, beide etwas
gehemmt nach ihrer Vereinigung.
Elija schämte sich ein wenig. Sie hatte ihn zum zweiten Mal nach langer Zeit gesehen und
sich ihm sofort hingegeben – was mochte er von ihr denken?
Jarno führte sie wieder hinaus, diesmal hielt er nicht ihre Hand sondern hatte einen Arm und
sie gelegt. In seinen Augen stand ganz klar geschrieben, was er von ihr dachte … und das ließ
Elija erröten – aber nicht vor Scham, sondern vor Glück.
Das Licht jenseits des gefrorenen Wasserfalls war so grell, dass Elija ihre Augen mit der
Hand schützen musste um nicht geblendet zu werden.
„Magst du einen Moment hier warten? Ich hole dann dein Pferd“, bot Jarno an, und Elija, die
mit den immer noch wackligen Gliedern auf die rutschige Kletterpartie an der Steilwand nicht
wirklich erpicht war, stimmte zu.
„Elijana“, sagte Jarno bevor er ging, und seine Stimme klang ernst und liebevoll zugleich,
„Was ich da eben gesagt habe, ich könnte einen Elfen-Zauber sprechen, der dich beeinflusst
…. ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich es könnte…“ Noch einmal griff er ihre Hand und
küsste die Innenseite ihres Handgelenks. „Ich habe es in jedem Fall nicht getan und ich würde
es auch nicht tun, das musst du mir glauben. Allerdings …“, er lächelte gequält, „habe ich die
Befürchtung, dass du genau das mit mir angestellt hast. Anders kann ich mir dieses wirre
Durcheinander in meinem Kopf nicht erklären.“
„Vielleicht …“, spekulierte Elija amüsiert, „ist es Arla, der uns beide manipuliert?“
Sie neckte ihn um von ihrer Verlegenheit abzulenken, in Wahrheit freute sie sich aber über
seine Worte.
„Das wäre doch einmal ein Beweis für seine Existenz!“, antwortete er, und Elija musste trotz
der Gottesbeleidigung lachen.
Jarno erkletterte die Felsentreppe in wenigen Sekunden. Staunend beobachtete Elija seine
flinken, kraftvollen Bewegungen. Er kletterte schnell wie eine Katze, und kurz darauf hörte
Elija den Hufschlag ihrer Stute, die sich jenseits ihres Blicks im Galopp entfernte. Es dauerte
nur wenige Minuten, da kam Mari mit Jarno im Sattel zwischen ein paar Sträuchern hindurch.
Zwei Kaninchen stoben panisch vor ihnen aus den Büschen und flüchteten sich in sichere
Gefilde.
„Fantastisches Pferd“, lobte Jarno und klopfte den Hals der Fuchsstute. „Aber sie hat
schrecklich schlechte Laune.“
„Sie hasst es, angebunden zu werden“, erklärte Elija. „Außerdem hasst sie den Winter. Sie
sehnt sich nach dem Frühjahr und nach wärmeren Tagen.“ Sie blies kleine Atemwölkchen in
die kalte Luft.
„Na das kann ich doch mal gut verstehen“, meinte Jarno. „Aber sie muss nicht mehr lange
warten. Morgen wird es tauen. Es ist unglaublich mit anzusehen, wie ein Wasserfall taut. Ich
würde es dir gerne zeigen, aber du solltest besser nicht in der Nähe sein. Die Eisbrocken
krachen hinunter, so dass du es Kilometer weit hören kannst und manche Eisstücke prallen
irgendwo ab und werden hunderte Meter in den Wald geschleudert. Dann hat das Tosbecken
hier unten Hochwasser, der Auslauf ist voller rasender Stromschnellen und all das Ufer hier
und die gesamte Höhle steht unter Wasser, ehe erst im Laufe des Frühjahrs der Wasserstand
wieder sinkt.“
„Und du schaust dir das an?“
„Das lass ich mir nicht entgehen.“
„Ach?“ Elija zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Für dich ist es also nicht zu gefährlich?“
Er rollte amüsiert die Augen. „Hm … nein. Für mich gelten geringfügig andere
Naturgesetze.“
Darauf fiel Elija nichts zu erwidern ein, auch wenn sie gerne gewusst hätte, was er damit
meinte.
„Jarno? Hast du hier eigentlich gar keine Angst, dass dich jemand sieht?“, fragte sie nach
einer Weile.
„Eigentlich nicht, nein. Ich höre die Menschen, lange bevor sie mich sehen können.“ Jarno
grinste und warf sich die Kapuze seines abgetragenen Umhangs über den Kopf. Im Schatten
schienen seine Augen golden aufzuleuchten. „Und dann zieh ich einfach den Kopf ein.“
Elija wollte nicht wieder unvorsichtig sein. Natürlich würde ihr Bruder sie nicht in seiner
Burg einsperren oder anderweitig bestrafen, weil sie zu spät kam. Aber es war auffällig
genug, dass sie an einem eisigen Tag wie diesem so lange ausritt. Sie wollte keine
neugierigen Fragen riskieren, und so riss sie sich schweren Herzens bald von Jarno los. In
zwei Tagen würde sie wieder herkommen – an den oberen Rand des Wasserfalls. Sie konnte
ja noch nicht ahnen, was an diesem Tag alles geschehen würde ...