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4 Geister und ein Kuss

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Den Rückweg verbrachte Elija grübelnd und umso näher sie dem Schloss kam, umso

zerrissener fühlte sie sich.

Es war alles eine Lüge! All die Angst und Furcht vor den Halbblütern war möglicherweise

unbegründet. Sie fühlten und litten wie Menschen, sie waren so menschlich, und sie wurden

von den Elfen gefangen genommen und versklavt und von den Menschen verfolgt und getötet

– alles nur aus dem Hass heraus, den Menschen und Elfen verband.

Andererseits … sie hatte ernsthaft Angst gehabt, als er wütend geworden war. Und sie spürte,

dass ihre Angst auch nicht völlig unbegründet gewesen war. Anhand seiner schnellen

Bewegungen konnte Elija sich vorstellen, dass er wesentlich stärker war, als er aussah.

Stärker als ein sehr starker Mensch vermutlich. Er schien ihr fast wie eine Katze; sah ganz

sanft und harmlos aus, konnte aber jederzeit mit überraschender Kraft blitzschnell zuschlagen.

Und warum hatte sie ihm überhaupt geglaubt? Sie glaubte doch sonst nicht immer alles, was

irgendwer, der gerade daher kam, erzählte. Irgendwas war an der Sache sehr merkwürdig, sie

fühlte sich merkwürdig.

Elija dachte nach, schmiedete und verwarf Pläne und Ideen. Ihr kam kein Einfall, was sie tun

könnte, wem sie von ihrer Begegnung erzählen könnte. Was sie überhaupt denken sollte ...

Als sie in den Schlosshof einritt, hatte sie noch keinen Ansatz einer Lösung gefunden. Sie

dürfte jetzt nur nicht sofort zu viel Aufmerksamkeit für das Thema zeigen – das würde

sicherlich auffallen und ihren Vater misstrauisch machen, denn bislang hatte sie nie Interesse

an diesen Themen gehabt. Und wenn er ihr erst einmal misstraute, würde sie ihn nicht mehr

anlügen können. Elija hatte nie lügen können, ihr schoss immer sofort die Röte ins Gesicht,

wenn sie die Unwahrheit sagte. Das könnte ein Problem werden – vor allem könnte es sehr

gefährlich für Jarno werden!

Sie hatte keinen Plan was sie tun könnte – aber egal was sie tat, sie würde enorm vorsichtig

sein müssen!

Und so beschloss sie, zu schweigen und nichts zu verraten, niemandem. Kein

Sterbenswörtchen.

Am Mittag begann ihr Schulunterricht, doch so sehr sie sich auch zu konzentrieren versuchte,

ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, immer wieder sah sie in Gedanken in große,

hellbraun marmorierte Augen, in denen goldene Sterne zu funkeln schienen. Sie erinnerte sich

an sein Gesicht … es hatte recht eigenwillige Züge, und war dabei so schön. Seine Augen

tauchten immer wieder katzenhaft vor ihr auf, und die Erinnerung an seinen breiten Mund

trieb ihr die Röte ins Gesicht. Sich bei diesen Gedanken auf ihren Aufsatz zu konzentrieren

war kaum möglich. Ihr Hauslehrer war verärgert und unzufrieden mit ihr. Der Nachmittag

schien sich ewig hinzuziehen.

Beim gemeinsamen Abendessen mit ihrem Vater und ihrem Bruder brauchte Elija alle

Konzentration, um unbeteiligt zu erscheinen und mühevoll so viel Essen in den Mund zu

stopfen, dass es einerseits keine Übelkeit in ihrem nervösen Magen verursachte, aber

andererseits nicht auffiel. Währenddessen sprachen die Männer über die – erfolglose – Suche

nach herumstreunenden Elfen … Elija schluckte schwer an einer aufsteigenden Übelkeit.

In der Nacht fand sie schlecht in den Schlaf, und kaum eingenickt, wurde sie durch wirre

Träume wieder geweckt und lag erneut lange wach. Jarno und die grausame Jagd nach seinem

Volk ließen ihr keine Ruhe. Erst als die Sonne fast aufgehen wollte, schlief sie endlich

erschöpft ein und als sie wieder wach wurde, war es längst taghell.

Elija sprang hastig auf, ließ sich eine Waschschüssel und Reitkleider bringen und schalt ihre

Magd in Gedanken, weil sie sie nicht geweckt hatte. Als sie in den kleinen Speisesaal lief war

ihr Bruder schon gegangen. Nur ihr Vater saß noch bei Tee an seinem Platz, hatte das

Frühstück aber auch schon beendet.

„Entschuldige Vater, ich habe verschlafen“, sagte sie, küsste ihrem Vater die Wange und

setzte sich. Eine Tischdienerin servierte ihr eine Schale Haferbrei, die bereits kalt geworden

war.

„Bedrückt dich etwas, mein Kleines?“, wollte der König wissen, und Elija betete still, nicht

rot zu werden. „Du wirkst so nachdenklich.“

„Keine Sorge Vater, es ist alles bestens.“

„Hast du Kummer?“

„Nein, wirklich nicht, Vater. Ich grüble über meine Schulaufgaben, das Referat ist noch nicht

fertig und es hält mich in Gedanken so fest.“

„Du weißt, dass deine Ausbildung abgeschlossen ist – du lernst freiwillig weiter, gegen

meinen Wunsch. Da solltest du nicht jammern.“

Elija ärgerte sich, doch sie nickte, murmelte eine Entschuldigung und konzentrierte sich

darauf, ihren Haferbrei umzurühren. Ihr Vater verpasste kaum eine Gelegenheit, ihr

mitzuteilen, dass sie als Mädchen keine umfassende Ausbildung benötigen würde, sondern

lieber sticken und malen lernen sollte, oder etwas anderes, was seine Tochter für absolute

Zeitverschwendung hielt. Doch Elija bestand darauf, nicht mehr und nicht weniger zu lernen

als ihre Brüder und das betraf nicht nur die Schulbildung, sondern auch Schwertkampf und

Bogenschießen. Ihrem Vater war dies immer ein Dorn im Auge gewesen, seiner Meinung

nach brauchte eine Frau keine derartige Ausbildung, und ihr Bruder Viktor redete sogar auf

ihn ein, es der Schwester doch einfach zu verbieten. Doch Elijana hatte schon als Kleinkind

gelernt, sich durchzusetzen. In diesem Moment war das Thema eine passende Ablenkung.

Nun konnte sie, ohne dass es auffällig war, schmollen und es würde ihren Vater überhaupt

nicht wundern, wenn sie das Schloss nun so schnell wie möglich verlassen würde.

Elija vergaß nicht, ein Stück frisches Fleisch für das Einhornfohlen Vida in ihrer Tasche zu

verstecken, dann sattelte sie rasch ihre Stute und war wenig später auf dem Weg in den Wald.

Mit klopfendem Herzen durchritt sie die silbernen Bäume, nicht sicher, ob es die Furcht vor

diesem Ort war, oder die Spannung, die ihr Herz rasen ließ. Würde Jarno kommen? Sie wollte

ihn nach diesem seltsamen Wald befragen, vielleicht wusste er, was er zu bedeuten hatte.

Doch die Lichtung war leer. Elija schluckte ihre Enttäuschung runter und beschloss zu

warten. Sie sattelte Mari ab und ließ die Stute grasen, setzte sich selbst neben ihr ins Gras und

ließ die Zeit verstreichen.

Nichts passierte. Weder Jarno noch Vida ließen sich sehen und auch sonst kein Mensch oder

Tier.

Sie wartete weit über eine Stunde, vielleicht auch länger, sie konnte die Zeit an diesem Ort

kaum abschätzen. Als es ihr schon fast Mittag erschien, gab sie enttäuscht auf und machte

sich auf den Heimweg. Den silbernen Wald durchritt sie im flotten Trab – nur nicht zu lange

an diesem Ort verweilen!

Und dann stand plötzlich eine Gestalt in Umhang und Kapuze mitten auf dem Weg. Mari

stemmte die Hufe in den Boden um rechtzeitig zum Stehen zu kommen und Elija fuhr der

Schreck durch alle Glieder und ein ungewollter Schrei kam über ihre Lippen, ehe sie Jarno

erkannte.

„Bei Arla, du hast mich fast zu Tode erschreckt!“, rief sie, doch Jarno gab ihr hastig ein

Zeichen, still zu sein.

„Los, komm mit“, flüsterte er, nahm Mari am Zügel und führte sie vom Weg ab, tiefer in den

eigenartigen Wald.

Elijas Herz schlug so stark, dass sie es bis in die Fingerspitzen spüren konnte. Sie hatte keine

Ahnung was passiert war, aber Jarno schien besorgt und in dringender Eile. Er lief knapp

zwei Meter vor Elijas Pferd durch den Wald und entfernte sich dabei immer mehr von dem

Weg, den das Mädchen kannte. Der Pfad auf dem sie sich nun bewegten wurde mit jedem

Meter finsterer und angsteinflößender. Doch der Halbelf schien sich auszukennen, das

beruhigte Elija etwas und sie blieb dicht hinter ihm. Nichts hätte so furchterregend sein

können, wie sich allein in diesem silbrig finsteren Wald zu verlaufen.

‚Wenn er mich jetzt nur nicht verschleppt’, dachte sie mit einer Spur von Misstrauen, folgte

ihm aber trotzdem. Sie sah seine Schultern vor sich zucken, als würde er lachen.

Endlich erkannte Elija vor sich natürliches Licht. Jarno hatte sie zu einer Lichtung geführt,

der ersten gar nicht so unähnlich, aber größer.

Elija ließ sich erleichtert vom Sonnenlicht wärmen und sah sich um. Auch diese Lichtung war

hell und sonnig, es schien keinen Schatten zu geben und auch der dunkle Silberwald, der die

Lichtung umschloss, wirkte von hier überhaupt nicht mehr bedrohlich.

Zwischen ein paar Felsen, die wie dort abgelegt im weichen Gras zu ruhen schienen, sprudelte

eine kleine Quelle einfach aus dem Boden. Das Wasser lief für etwa drei Meter in einem

glitzernden Rinnsaal, das kaum den Namen Bach verdiente, und versickerte dann im Boden.

Ein paar junge, blühende Apfelbäume reihten sich akkurat aneinander.

Jarno atmete durch. Er schien noch etwas angespannt, aber nicht mehr in Sorge. Er ließ seinen

Umhang achtlos fallen und ging zu der kleinen Quelle, wo er trank und sein Gesicht wusch.

Elija saß ab und ließ Mari frei laufen. Die Stute würde ungestört grasen können, an diesem

Ort würde sie sicher nicht fortlaufen.

„Was ist passiert?“, fragte Elija und trat ebenfalls an die Quelle, wo sie sich auf einen der

kleinen Felsbrocken setzte.

Jarno blieb kurz am Wasser knien, schloss für einen Moment die Augen, machte eine

seltsame Handbewegung und murmelte ein paar Worte, die Elija nicht verstehen konnte.

Dann stand er auf und wandte sich Elija zu.

„Ich bin gesehen worden“, erklärte er knapp und schüttelte dann fassungslos grinsend über

sein eigenes Missgeschick den Kopf. „Monatelang hat mich kein Mensch gesehen, scheinbar

bin ich unvorsichtig geworden. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Darin bekommst du ja langsam Übung“, spottete Elija und Jarno grinste breiter.

„Vielleicht gewöhnst du dich besser dran.“

„Meinst du … dass du hier sicher bist?“

„Davon gehe ich aus.“

„Was ist das für ein Ort? Diese Lichtungen … sie sind doch etwas besonderes, oder?“

„Oh ja.“

„Es ist“, sagte Elija leise und strich mit den Fingerspitzen über den Felsen, „fast wie ein

heiliger Ort. Man spürt eine gewisse Macht.“ Er hatte die Bewegung ihrer Hand sehr genau

beobachtet. Dann sah er plötzlich auf, schüttelte leicht und wie irritiert den Kopf, ehe er

sprach.

„Ohne Zweifel ist dieser Ort etwas Besonderes. Es ist eine Zuflucht. Du spürst den Zauber der

Elfen.“

Elija lief ein kleiner Schauer über den Rücken. „Zauber?“

Jarno nickte. „Früher, vor vielen hundert Jahren, war das hier alles freies Land, und die Elfen

haben sich geheime Zufluchtsorte geschaffen.“

„Zuflucht – vor was? Vor diesem unheimlichen Wald?“

„Nein. Vor euch, vor den Menschen. Der Wald ist eine Art Schutzbarriere. Du wirst bemerkt

haben, dass die Bäume tot sind. Einst gaben sie den Elfen ihr Leben dar. Doch ihre Geister

blieben, um für sie diese Orte zu schaffen. Zufluchtsorte, an denen die Elfen sicher waren,

versteckt in den Herzen der toten Wälder. Die Baumgeister verhindern, dass Menschen sie

passieren.“

„Dann funktioniert es aber nicht richtig“, warf Elija ein. „Ich bin einfach hindurch geritten.“

„Ja, das hat mich auch irritiert“, gab Jarno zu. „Ich weiß nicht, warum du einfach hindurch

gehen kannst. Spürst du denn gar nichts in diesem Wald?“

„Doch! Furcht, Beklemmung. Es ist, als könne man nicht mehr richtig atmen, als würde das

Blut stehen bleiben und das Herz langsamer werden.“

Wieder nickte Jarno, diesmal sehr nachdenklich. „Das spüre ich auch. Aber ich bin eben nur

zur Hälfte ein Mensch und mein Elfenblut verhindert, dass die Furcht mich übermannt.

Menschen werden von dieser Furcht derart gepackt, dass sie unweigerlich umkehren.

Zumindest dachte ich das bis vorgestern, als ich dich auf der Lichtung sah.“

„Meinst du denn, es ist für dich noch sicher hier? Wenn ich hindurch gehen kann, können es

vielleicht auch andere!“

Jarno zögerte kurz, ehe er weiter sprach. „Ich bin heute nicht ganz unbeabsichtigt gesehen

worden“, gab er zu. „Ich habe es ausprobiert. Es waren zwei Männer hinter mir her, die

packte schon weit vor dem ersten Baumgeist das Grauen. Nein, ich glaube nicht, dass die

Magie gebrochen ist. Diese Art von Zauber ist ewig.“

„Warum kann ich dann hindurch reiten?“

„Ich weiß nicht. Elfenblut, vielleicht?“

„Das glaubst du doch selbst nicht!“ Elija sprang empört auf. „Nimm das zurück!“

Jarno lächelte nur unbeeindruckt. „Wäre das so schrecklich?“

„Was? Was bildest du dir ein. Ich bin von reinem, königlichem Blut, meine Ahnen sind über

die Jahrhunderte bekannt und ganz sicher war niemand davon ein Bastard!“, rief Elija wütend

- doch im gleichen Augenblick bereute sie ihre Worte und biss sich erschrocken auf die

Lippe. Es war mehr Scham über ihre Arroganz, als die Sorge, er würde wütend werden. „Ich

meine, dass ist doch wirklich völlig ausgeschlossen“, fügte sie in ruhigerem Ton dazu, als er

nicht antwortete.

„Ja, vermutlich“, sagte Jarno mit betont gelangweilter Stimme. Nur seine leicht vorstehende

Unterlippe und die dunklen Funken in seinen Augen zeigten, dass sie ihn sehr wohl getroffen

hatte. „Ich weiß es auch nicht, warum du hindurch gehen kannst. Es ist mir auch egal. Aber

die Tatsache dass du es kannst, hat mir halt an dir gefallen.“

„Oh.“ Elija spürte, dass sie rot wurde.

„Und es war ganz sicher nicht meine Absicht, dich zu beleidigen“, sagte er leise.

„Ist … das ist …. schon gut“, stammelte Elija. „Ich … es war dumm von mir, dich … ich

meine, ich wollte auch nicht …“

„Vergessen wir es einfach.“ Er zuckte die Schultern. Sein Gesicht machte deutlich, dass er es

ernst meinte.

Elija nickte erleichtert. „Erzähl mir mehr über diese Baumgeister. Ich habe gelesen, dass die

Elfen Geister anbeten, statt der Götter, ist das wahr?“

„Ja und nein. Sie … und wir … sprechen zu den Geistern der Welt. Doch es ist vermutlich

nicht das, was ihr unter beten versteht.“

„Ihr glaubt nicht an Arla, Nanas und Kensayi?“

„Wir lernen, nichts zu glauben, was wir nicht sehen, hören oder fühlen.“

„Aber an Geister glaubt ihr?“

Jarno sah sie verwundert an.

„Natürlich. Die Geister können wir ja auch sehen:“

„Ist das dein Ernst? Du kannst Geister sehen?“

„Natürlich.“

„Wie … wie sehen sie aus?“

„Hmm. Du kannst sie dir vielleicht …. wie kleine Wolken aus farbiger Luft vorstellen. Ja, das

trifft es ganz gut. Einige sind ganz klein, andere riesig. Manche leuchten intensiv in rot, blau

oder gelb. Andere sind fast unsichtbar, schimmern nur durchsichtig in ihrer Farbe.“

„Was tun sie?“

„Was sie tun? … Nichts. Sie sind einfach da. Siehst du“, er hielt eine Hand in das kleine

Quellrinnsal, zog sie zurück und betrachtete die Tropfen, die von seiner Haut perlten. „Im

Wasser sind Millionen winziger Wassergeister. Wir danken ihnen, nachdem wir aus einem

Gewässer getrunken haben. In jedem Feuerfunken ist ein Feuergeist, in der Erde leben

Erdgeister. Und in jedem Lebewesen lebt auch sein Geist.“

„Aber was tun sie? Haben sie besondere Kräfte?“

„Sie lassen das Wasser fließen, das Feuer brennen, die Pflanzen und Tiere wachsen und alles

Leben … eben leben. Reicht dir das etwa nicht? Und wenn ein Wesen stirbt, dann verlassen

sie seinen Körper und fliegen davon. Manche bleiben länger, schweben wie Nebelbänke noch

eine Weile herum. Manche ewig, wenn ein Bann sie hält. Andere steigen sofort auf und

verschwinden.“

„Weißt du wohin?“

„Nein.“

„Können sie … gefährlich sein?“

„Ich denke nicht – sie sind einfach nur da.“

„Ihr betet sie an, obwohl sie so wenig Macht haben? Was soll das bringen? Das ist doch

lächerlich.“

Jarno lachte leise.

„Ich habe gelernt, dass Menschen zu Steinen beten, stimmt das?“, fragte er zurück.

„Unsinn!“

„Nicht? Ich habe gesehen, wie sich Menschen vor Steinen verbeugen und …“

„Nicht zu Steinen! Wir haben Statuen, steinerne Abbildungen der drei Götter, zu denen wir

beten!“

„Warum brauchen Götter Steinstatuen? Warum könnt ihr nicht von Angesicht zu Angesicht

zu ihnen sprechen?“

„Ich weiß nicht. Sie zeigen sich uns nicht.“

„Wenn es sie überhaupt gibt.“

„Pscht, Jarno, das darfst du nicht anzweifeln!“ Elija sah sich verstohlen um. „Sie könnten es

dir übel nehmen.“

„Warum sollten sie? Ich glaube nicht daran, dass sie überhaupt da sind; und wenn doch,

warum sollten sie sich daran stören, dass ich nicht an sie glaube? Meinst du, sie würden sich

für mich interessieren?“ Für einen kleinen Moment lang sah Jarno verbittert aus, doch im

nächsten Augenblick lächelte er schon wieder. „Wie dem auch sei. Ich stand schon vor euren

Steinstatuen, ich habe sie gesehen. Was können die?“

Elija schüttelte ratlos den Kopf.

„Nichts können sie“, klärte er sie auf. „Und ihr kniet davor nieder, stellt ihnen Opfer hin, lernt

Gebete und Lieder für sie. Das ist in Ordnung, wenn es euch Freude macht. Aber meinst du

nicht, dass das viel lächerlicher ist, als einem Geist, der die Welt verlässt, einen guten Weg zu

wünschen? Oder dem Wassergeist für seine Gabe zu danken? Oder dem Geist eines Hasen,

für sein Fleisch?“

„Nein“, musste Elija zugeben. „Nein, vermutlich nicht. Ich muss zugeben, dass ich das nie

aus dieser Sicht gesehen habe.“

„Wie so vieles, denke ich.“

„Ich denke es auch. Was wir Menschen so über euch gelehrt bekommen ist ziemlich einseitig.

Und weder Elfen noch Halbblüter kommen dabei besonders gut weg.“

Jarno lachte. „Das beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Wenn man den Elfen glaubt, dann

schmeißen Menschen vor Angst vor schlechtem Blut selbst neugeborene Kinder ins Feuer!“

Es sollte vermutlich eine scherzhafte Übertreibung sein, doch Elija fühlte sich wie mit kaltem

Wasser übergossen, das Lachen fror ihr im Gesicht fest und sie fürchtete fast, an dem dicken

Kloß in ihrem Hals ersticken zu müssen.

„Das … das ist keine Legende“, sagte sie mit zitternder Stimme und die fröhliche Leichtigkeit

ihrer Unterhaltung war zerstört. „Das ist wahr.“

Für ein paar Sekunden sah Jarno sie mit undurchschaubarem Blick an.

„Und ich kann es verstehen, wenn du jetzt weggehst und kein weiteres Wort mit mir wechseln

willst.“ Elija spürte, wie ihr jedes Blut aus dem Gesicht wich, und zu ihrer Verärgerung

bemerkte sie, dass Tränen in ihren Augen brannten.

‚Jetzt bloß nicht heulen!’, schalt sie sich selbst.

Er ging nicht weg. Er streckte seine Hand aus und berührte sie tröstend am Oberarm. Elija

spürte seine Hand durch den Stoff ihres Kleides und merkte, wie sich alle Härchen an ihrem

ganzen Körper aufrichteten und es in ihren Ohren rauschte.

„Schon gut“, sagte er schlicht. „Ist nicht deine Schuld. Tut mir leid. Ich hätte es wissen

müssen.“

Elija fühlte sich unfähig, ihren Blick aus seinen marmorierten Bernsteinaugen zu lösen.

Solche Augen hatte sie wirklich noch nie gesehen. Unter ihrem Blick schienen sie heller zu

werden, und immer tiefer. Sie merkte gar nicht, wie lange sie ihm wie gebannt in die Augen

sah.

Plötzlich huschte einen Hauch von Röte über Jarnos Wangen und ein flüchtiges,

unglückliches Lächeln überzog sein Gesicht für einen Moment.

„Ich habe jetzt irgendwie den Wunsch, dich zu küssen“, flüsterte er verwundert. „Du bist so

… schön? Auf deine merkwürdige Art. Und noch viel mehr, wenn du traurig bist. Aber ich

habe Angst, es könnte dich wieder beleidigen, wenn ich es tue.“

Das Rauschen in Elijas Ohren schwoll an und wurde zu einem strömenden Fluss. Für einen

Moment stand sie unbeweglich, wusste nicht, was sie tun sollte – was sie tun wollte. Dann

kam sie ihm zögernd ein wenig näher und schloss die Augen, ehe sie seine Lippen kühl und

zunächst ganz weich und zögerlich auf ihren eigenen fühlte. Er schien ihr so voller Kraft, aber

in diesem Moment ganz zart und nachgiebig. Er legte seine Fingerspitzen an ihre Wangen und

der Fluss in ihrem Kopf wurde zu einem reißenden Wasserfall und ließ ihren Kuss von allein

intensiver werden.

Was machte sie hier?

Elija hatte keine Ahnung.

Sie stand mitten im Wald, an irgendeinem merkwürdigen Ort inmitten beängstigender Bäume

und ließ sich von einem Jungen küssen. Und mehr noch. Ihre Hand lag in seinem Nacken,

unter seinem dichten, braunen Haar begraben - sie zog ihn enger zu sich heran, sie erwiderte

seinen Kuss. Sie forderte seinen Kuss.

‚Vater würde mir den Kopf abreißen’, dachte sie, und als sie sich bewusst wurde, dass dieser

Junge nicht mal ein normaler Menschenjunge war, kam ihr das nicht einmal übertrieben vor.

Jarno zog sich etwas von ihr zurück, sah sie aus seltsam funkelnden Augen an. Fasziniert und

kritisch. Als würde auch er nicht glauben können, was sie gerade getan hatten.

Elija hatte nicht gewusst, wie rot sie werden konnte, ehe sie sich diesem Blick ausgesetzt

fühlte.

Es war nicht ihr erster Kuss, sie hatte bereits einen Jungen geküsst, und hatte dies als

aufregend und schön empfunden. Verglichen mit diesem Kuss erschien es ihr plötzlich

armselig. Ein Quietschen auf den Saiten einer Violine, verglichen mit dieser perfekt

gespielten Melodie.

Sie wollte mehr von der Melodie, schloss die Augen und zog ihn wieder zu sich ohne darüber

nachzudenken. Die Berührung seiner Lippen auf ihren war erneut erschreckend eigenartig.

Ein nie zuvor vernommenes Gefühl. Er fühlte sich ganz anders an, als alles, was Elija je

berührt hatte. Er roch und schmeckte so … fremdartig. Und gleichzeitig so vertraut, als hätte

sie ihn schon hundertmal geküsst … in ihren Träumen vielleicht, an die sie sich nicht erinnern

konnte …

Er roch und schmeckte wie vollkommenes Glück.

Wie etwas, nachdem sie lange gesucht hatte.

Elija fühlte sich völlig verwirrt, völlig außer sich.

Und irgendwie wagte sie zu glauben, dass es ihm nicht viel anders ging. Sie spürte sein Herz

rasen, und er zitterte kaum wahrnehmbar.

Er nahm seinen Mund von ihrem, strich mit seinem Atem über ihre Wange und flüsterte leise

Worte an ihrer Haut, doch Elija konnte ihn kaum verstehen. Es klang wie eine Frage, wie

„Was hast du gemacht?“, aber Elija war sich nicht sicher ob sie ihn richtig verstanden hatte.

In ihren Ohren rauschte es noch zu laut.

Sie berührte seine Wange mit der Hand die nicht in seinem Nacken lag und zog seinen Mund

erneut an ihren.

Halbblut

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