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Akteurzentrierter Institutionalismus

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Der grundlegende Erklärungsansatz des akteurzentrierten Institutionalismus sieht vor, dass es Probleme in der Welt gibt, die Akteure – Scharpf unterscheidet individuelle (Menschen), aggregierte (z. B. Gruppen) und korporative Akteure (z. B. Parteien) – mit bestimmten Handlungsorientierungen, Präferenzen und Kompetenzen abarbeiten müssen. Hierbei geraten sie in ganz bestimmte Konstellationen hinein. Das heißt, die Art der Konstellation beschreibt das Zusammentreffen der unterschiedlichen Strategien, die die Menschen, Organisationen oder Gruppen verfolgen. Es geht ihm um Strategiekonstellationen, die wie in der Spieltheorie zumeist nicht-kooperativ, aber auch kooperativ oder ganz anders (etwa hierarchisch oder auf Abstimmung) ausgerichtet sein können.

Es gibt demnach zwei andere Betonungen in der Modellierung des handelnden Zusammenwirkens, die die vorherigen Überlegungen sehr gut ergänzen: Dadurch, dass die Konstellationen noch mehr in den Mittelpunkt rücken, steht erstens weniger der jeweils individuelle Sinn des Handelns als vielmehr die individuellen Strategien im Vordergrund. Es geht also weniger darum, was der/die Einzelne beabsichtigt – es geht weniger um das Handeln – als darum, wie er/sie das eigene Handeln unter Berücksichtigung des Handelns der anderen Akteure strategisch ausrichtet. Es geht mehr um das soziale Handeln. Und zweitens betrachtet Scharpf in seinen Strategieanalysen nicht ausschließlich die Orientierungen der Akteure an dem Verhalten oder Handeln der anderen Akteure, sondern berücksichtigt insbesondere die Orientierung der Akteure an der Interaktion an sich, wie wir gleich noch zeigen werden.

Wichtig ist, dass auf diese Weise konkrete reale Situationen mit einem hohen Abstraktionsniveau abgebildet und verschiedene Konstellationen miteinander verglichen werden können. Diese Konstellationen laufen in typischen Prozessen ab, die sich als Interaktionsformen ausgestalten. Wie Georg Simmel geht es Scharpf also um die Darlegung bestimmter Formen von Wechselwirkungen. Insbesondere einseitiges Handeln, Verhandeln, Mehrheitsentscheidungen und hierarchische Steuerung werden von Scharpf als derartige Formen hervorgehoben. Die Handlungen der Akteure, ihr handelndes Zusammenwirken in Konstellationen sowie die Formierung in bestimmten Interaktionen finden dabei immer innerhalb eines institutionellen Kontextes statt, etwa in Verbänden oder innerhalb von Organisationen. Aus den Interaktionsformen folgen sodann kollektive Ergebnisse, z. B. politische Entscheidungen, die als neue Umwelt wiederum Probleme beinhalten oder aufwerfen, die wieder abgearbeitet werden müssen usw. usf.

Für unseren Zusammenhang ist die genannte Ergänzung wichtig, dass Menschen sich auch an der Interaktion selbst orientieren können. Das bedeutet, ihr Handeln ist wesentlich dadurch mitgeprägt, mit welcher Einstellung gegenüber der Interaktion (und nicht ausschließlich gegenüber dem Handeln bzw. Verhalten anderer Menschen) sie ihr Handeln ausrichten. Scharpf (2006: 152 ff.) unterscheidet fünf Interaktionsorientierungen:

• Individualismus als Interaktionsorientierung beschreibt die Regel der individuellen Nutzenmaximierung wie in der Spieltheorie.

• Solidarität hingegen meint die uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft mit anderen Menschen. Vorteile werden für beide gleichermaßen als solche bewertet, etwa wenn in einer ehelichen Beziehung eine:r der beiden Beteiligten einen beruflichen Erfolg zu verzeichnen hat. Das bedeutet auch, dass jede:r Nachteile hinnehmen wird, solange dies durch die Vorteile des/der Anderen ausgeglichen wird, etwa wenn er wegen des neugeborenen Kindes weniger arbeitet, was monetär durch ihren Karrieresprung ausgeglichen werden kann.

• Im Wettbewerb hingegen hat der eigene Sieg höchste Priorität bzw. treibt der Neid, dass der/die Andere gewinnen könnte, die Menschen an. Dies gilt etwa im sportlichen Wettbewerb, aber auch z. B. im Wettbewerb um Lebensparter:innen. Der Gewinn des Anderen ist zugleich mein Verlust und dessen Verlust möglicherweise mein Gewinn.

• Im Gegensatz dazu steht die Regel des Altruismus, bei dem der Gewinn des/der anderen Menschen auch meinen Gewinn darstellt, etwa in der ärztlichen oder pflegerischen Praxis. Rettet ein Notarzt ein Leben, ist es zugleich ein Gewinn für den Patienten und den Notarzt selbst.

• Zu guter Letzt kann Feindschaft die Akteure in der Interaktion orientieren. Der Verlust des anderen Menschen ist dann mein ganzer Gewinn – die eigenen Erträge oder Verluste sind irrelevant.

Diese fünf Orientierungen führen die Interaktion tendenziell in bestimmte Richtungen, was das Gesamtergebnis des handelnden Zusammenwirkens betrifft. Wenn man auf einer y-Achse den Ertrag des einen und auf der x-Achse den Ertrag des anderen Akteurs aufträgt, ergeben sich in Abhängigkeit der fünf Interaktionsorientierungen fünf verschiedenen Tendenzen des »Gesamtnutzens« ( Abb. 4).


Abb. 4: Interaktionsorientierungen (nach Scharpf 2006: 152)

Die institutionellen Kontexte können auf diese Orientierungen ein- bzw. auf die Anwendung bestimmter Orientierungen hinwirken. Der sog. Neoliberalismus etwa als gesellschaftliches Kollektivbewusstsein pflanzt den Wettbewerb in alle gesellschaftlichen Bereiche und das bedeutet: Man möchte mehr Ertrag als die anderen Mitbewerber:innen, das heißt, wichtig ist die Auszahlungsdifferenz bzw. die Relation der Erträge. Der südöstlich ausgerichtete Pfeil zeigt die angestrebten Gewinne eines Akteurs an und dieser möchte nicht nur einen Ertrag, sondern in jedem Fall mehr Gewinn als alle anderen Mitbewerber:innen. Die schlecht bezahlten Pflegedienste müssen auf Altruismus bzw. Solidarität unter den Mitarbeiter:innen setzen und fördern diese Orientierungen hierdurch. Ritualisierte Vergleiche zwischen befeindeten Gruppen fördern die Feindschaftsorientierung, etwa der jährliche karnevalistische Vergleich zwischen Düsseldorf und Köln oder der fußballerische Vergleich zwischen den Mannschaften aus Herne-West und Lüdenscheid. Dabei ist ausschließlich der Verlust des Anderen entscheidend, also das Gegenteil von dessen Gewinn – der eigene Ertrag spielt keine Rolle.

Die Spieltheorie ist eine anschauliche Form der Schematisierung des handelnden Zusammenwirkens. Das Spiel setzt die Teilnahme verschiedener, auf ihren Vorteil bedachter Menschen mit eigenen Zielvorstellungen voraus. Während die klassische Spieltheorie davon ausgeht, dass die Menschen ausschließlich an ihrem persönlichen Nutzen interessiert sind, bietet Scharpf zudem unterschiedliche Interaktionsformen des Spiels an.

Verschiedene Handlungs- und Interaktionsorientierungen, andere Strategien, unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte – man bekommt schon hier einen Eindruck, wie komplex soziale Prozesse üblicherweise ablaufen. Und es wird deutlich, dass diese Prozesse sowie die Ergebnisse des handelnden Zusammenwirkens selten so ausfallen, wie die Menschen das beabsichtigen. Wieso das der Normalfall ist und wie wichtig die Betrachtung des Prozesses des handelnden Zusammenwirkens mit seinen komplexen gesellschaftlichen Dynamiken ist, möchten wir hier nun vorführen.

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