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2.1.3 Verhandeln

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In Verhandlungskonstellationen versuchen die beteiligten Menschen über Beeinflussungskonstellationen hinaus, bindende Vereinbarungen zu treffen. Den Grund, weshalb Menschen sich in Verhandlungen mit anderen Menschen begeben, sehen wir in dem Wunsch nach einem Umgang mit der beschriebenen Komplexität der Prozessdynamiken, der möglichst erwartungssicher die Erfüllung von Bedürfnissen ermöglicht. Kurz: Es ist der Wunsch nach gesellschaftlicher Ordnung, der Menschen miteinander verhandelt lässt. Wovon Verhandlungskonstellationen im Gegensatz zu Beobachtungs- und Beeinflussungskonstellationen nämlich entlasten, ist die Dauerwachsamkeit bzw. Dauerkontrolle. Ganz allgemein kann zwar auch das wechselseitige Beobachten und Beeinflussen für Erwartungssicherheit sorgen. Allerdings muss man sich unter Konstellationsbedingungen des Beobachtens oder Beeinflussens viel mehr auf Abweichungen einstellen, die die Sicherheit der gewonnenen Erwartungen gefährden. Ständig muss man wachsam sein und im Enttäuschungsfall die eigenen Erwartungen schnell anpassen. Ein Verrat ist in Beobachtungs- und Beeinflussungskonstellationen letztlich definitorisch unmöglich, weil ja nichts abgesprochen wurde. Jeder Mensch hat in Beobachtungs- und Beeinflussungskonstellationen immer das Recht, anders zu handeln als vorher – dies macht ja einen wesentlichen Teil der transintentionalen, komplexen Prozessdynamiken aus. In Verhandlungskonstellationen hingegen kann, wenn eine bindende Vereinbarung getroffen wurde, die Dauerwachsamkeit prinzipiell entfallen, weil die Handlungsoptionen beschränkt wurden. Man kann auf die getroffenen Abmachungen vertrauen, was natürlich zugleich bedeutet, dass man umso stärker enttäuscht werden kann.

Um sich in Verhandlungskonstellationen zugunsten einer Komplexitätsreduktion diese ziemlich weitgehende Unaufmerksamkeit leisten zu können, ist Reziprozität eine notwendige Voraussetzung: Die Verbindlichkeit der in den Verhandlungen getroffenen Vereinbarungen muss grundsätzlich für alle beteiligten Menschen Geltung haben. Diese Geltung ist unbedingt, das heißt, sie gilt selbst im Falle einer faktischen Verletzung. Die Verhandlungspartner:innen müssen auch nicht gleich stark oder mächtig sein, trotzdem gilt die Verbindlichkeit für Alle. Deutlich wird dies im Vergleich: Ein im Rahmen von wechselseitiger Beobachtung und Beeinflussung entstandenes Gleichgewicht, z. B. das »Gleichgewicht des Schreckens« im sog. Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion, kann zwar für alle Menschen verbindlich erscheinen. Aber es fehlt dabei die explizite reziproke Selbst-Verpflichtung zur Einhaltung der in Verhandlungen erarbeiteten Absprachen. Dazu müsste grundsätzlich die Bereitschaft vorhanden sein, verhandeln zu wollen. Dies setzt wiederum bestimmte Orientierungen voraus, etwa dass die Menschen sich im Ergebnis mehr Nutzen von Verhandlungen versprechen als von puren Beeinflussungen oder Beobachtungen. Oder man geht eventuell davon aus, dass es gesellschaftlich wünschenswerter ist und man mehr Anerkennung erhält, wenn man mit anderen Menschen verhandelt, anstatt zu versuchen, sie zu übervorteilen. Die Chance, dass Menschen sich verhandlungswillig zeigen, steigt zudem mit einer gewissen Einflusssymmetrie, das heißt, je weniger Menschen einen dominanten Einfluss ausüben können, desto höher ist die Bereitschaft. Eine weitere Bedingung ist, dass die Menschen und die Konstellationen Verhandlungen überhaupt zulassen. Bestimmte Gruppengrößen etwa machen ein Verhandeln miteinander zumindest solange unmöglich, bis Verfahren angewandt werden, die mit diesem Problem umgehen, z. B. die Delegation von Verhandlungen an Gremien, also an Teilgruppen.

Ganz so einfach ist die Komplexitätsreduktion durch Verhandlungskonstellationen aber auch dann nicht, wenn diese Bedingungen alle erfüllt sind. Denn wie immer gilt: Auch Verhandlungskonstellationen sind nicht trivial, sondern beinhalten eigene, durchaus komplexe Prozessdynamiken, wie allen bekannt ist, die mal intensiv in Verhandlungen eingetreten sind. Scharpf (2006: 199 ff.) etwa verweist darauf, dass Verhandlungen immer zwei Probleme lösen müssen: Sie müssen erstens die Frage beantworten, wie der Nutzen hergestellt, also etwa eine verbindliche Absprache erzeugt wird (Produktdimension). Und zweitens muss geklärt werden, wie Kosten und Nutzen verteilt werden (Verteilungsdimension). Diese Dimensionen müssen oftmals simultan gelöst werden. Nach Scharpf kann man je nach Bedeutung der Dimensionen vier Arten von typischen Verhandlungsprozessen unterscheiden:

• In Spot-Verträgen spielen Fragen der Nutzenproduktion oder Verteilung keine Rolle, z. B. wenn es um einen Vorschlag geht, der nur noch abgelehnt oder angenommen werden kann.

• Beim Distributive Bargaining wird das Projekt selbst nicht in Frage gestellt und ausschließlich die Verteilung der Güter verhandelt. Haben die Verhandlungsparteien Vetorechte, etwa weil die Projekte von allen Beteiligten abhängig sind, können z. B. Ausgleichszahlungen die Zustimmung sichern. Wie hoch die Ausgleichszahlungen sind, hängt wiederum von der Verteilungsverhandlung ab. Sie müssen mindestens so hoch sein, dass sie einen Verzicht einer Partei auf einen bestimmten Nutzen ausgleichen können. Alternativ (wenn Ausgleichszahlungen z. B. unmoralisch wären) können auch »Koppelgeschäfte« oder »Paketlösungen« wirken.

• Das Problemlösen wiederum konzentriert sich ausschließlich auf die Nutzenproduktion, das heißt, es geht dann z. B. darum, dass neue Lösungen mit dem gemeinsamen Ziel der Realisierung besserer Projekte gefunden werden müssen. Anders als im Distributive Bargaining ist beim Problemlösen eine andere Kommunikation möglich, nämlich ein wahrheitsorientiertes Argumentieren, in dem Offenheit und Vertrauen wichtiger werden.

• Der Normalfall ist das, was Scharpf als Positive Koordination bezeichnet und in der Verteilung und Produktion simultan geklärt werden muss. Diese Simultaneität zu bewältigen, erfordert einigen Aufwand, der nicht höher werden darf als der Nutzen der Verhandlung bzw. nicht höher als die Kosten der Produktion des Nutzens. Und es muss vorausgesetzt werden, dass es tatsächlich zugleich Produktions- und Verteilungsprobleme gibt, die anerkannt werden, sowie die Bereitschaft, sich mit beidem auseinanderzusetzen ( Abb. 7).


Abb. 7: Verhandlungsprozesse (nach Scharpf 2006: 212)

Schimank (2000: 305 ff.) zeigt, welche weiteren Bedingungen die Bindekraft von Vereinbarungen erhöhen können. Sofern man z. B. nicht um jeden Preis verhandeln muss, kann das die Bindungskraft der dann vielleicht doch gefundenen Abmachung erhöhen, weil schlicht mehr Freiwilligkeit gegeben ist. Wer sich bspw. aus einer laufenden Stelle heraus auf einen anderen Job bewirbt, erhöht damit zugleich die Verbindlichkeit für die Abmachung einer längerfristigen Bindung, weil dieser Jobwechsel freiwillig und nicht etwa ›aus der Not geboren‹ ist. Auch ein »langer Verhandlungsatem« ist hilfreich, wie die regelmäßigen Tarifverhandlungen zeigen. Ein verbindliches Verhandlungsergebnis wird zudem umso leichter erreicht, je mehr die Verhandlungspartner:innen dasjenige respektieren können, was der jeweils Andere mindestens erreichen möchte. Je mehr man sich wechselseitig die Erfüllung der Mindestansprüche – die sog. Nutzenminima – ermöglicht, desto einfacher wird es für die Verhandlungspartner:innen, wechselseitigen Verpflichtungen zuzustimmen, so wie dies etwa bei Eheverträgen der Normalfall ist. Und selbstverständlich erhöht sich die Verbindlichkeit der Verhandlung, wenn sich alle Beteiligten darauf verständigen, für den Fall der Abweichung von den getroffenen Vereinbarungen bestimmte Sanktionen zu akzeptieren. Diese Selbstbindung an Sanktionen verstärkt die Bindungskraft eventuell sogar mehr als eher ›weiche Bedingungen‹ wie Sympathie oder Ehrlichkeit. Vor dem Hintergrund derartiger Bedingungen können Verhandlungsdynamiken entstehen, die von »positionsbezogenen Verhandlungen« (jede:r will ihr/sein Einflusspotential ausschöpfen) über »kompromissorientierte Verhandlungen« (ausgerichtet auf die Elimination strittiger und zugleich auf die Konzentration konsensfähiger Punkte) zu »verständigungsorientierten Verhandlungen« (man lernt voneinander) wandeln. Bestimmte Verfahren kombinieren diese Verhandlungsarten, wie etwa das »systemische Konsensieren«, das zugleich auf die Elimination von Widerständen der Verhandlungsgruppe und auf wechselseitiges Lernen ausgerichtet ist. Auf diese Weise kann sich die Orientierung des Verhandlungshandelns u. U. von einem »Minimiere den eigenen Verlust« ändern zu einem zu »Maximiere den gemeinsamen Gewinn«.

Verhandlungskonstellationen bilden bereits eine sehr konkrete Möglichkeit ab, gesellschaftliche Ordnung im komplexen handelnden Zusammenwirken der Menschen zu schaffen. Damit berühren wir jene Fragen, auf die die Soziologie ein Hauptaugenmerk legt: die Probleme gesellschaftlicher Ordnung!

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