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Transintentionalität oder: Die Komplexität des handelnden Zusammenwirkens

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Viele Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und ganz verschiedenen Strategien der Bedürfniserfüllung, viele differente Orientierungen – dynamische Konstellationen des handelnden Zusammenwirkens sind bereits sehr komplexe soziale Einheiten. Diese Komplexität an sich kann strategisch genutzt werden, um Einfluss auszuüben, etwa wenn man mit dem Hinweis auf die Komplexität und auf entsprechende ›Sachzwänge‹ ein gefordertes Handeln verweigert. An dieser Stelle möchten wir exkursartig hervorheben, wie lehrreich es sein kann, sich die komplexen Dynamiken des handelnden Zusammenwirkens anzuschauen, wenn man zugleich das Handeln sowie die Kontexte des Handelns so einfach wie möglich modelliert.

Wir beziehen uns auf »Conway’s Game of Life«, ein nicht ganz so übliches Computerspiel, dass Sie selbst z. B. unter https://bitstorm.org/gameoflife/ testen können. Die Menschen werden hier hierbei als sog. »zelluläre Automaten« dargestellt ( Abb. 5). Das heißt, man stelle sich ein Rechenpapier als Gesellschaftsraum vor, in dem jedes Gitterquadrat einen Menschen darstellt. Dieser Mensch kann – sehr einfach – zwei Zustände annehmen, nämlich lebendig oder tot sein. Am Anfang werden Menschen über den Gesellschaftsraum (also über das Rechenpapier) verteilt. Der Zustand eines Menschen (lebendig oder tot) im nächsten Zeitschritt hängt, so sind die Spielregeln, vom aktuellen Zustand der Zelle selbst sowie von den Zuständen der acht Nachbarzellen ab. Die Regeln sind dabei wiederum denkbar einfach:

1. Eine tote Zelle mit drei lebenden Nachbarn wird zum Leben erweckt.

2. Lebende Zellen mit weniger als zwei lebenden Nachbarn sterben an Einsamkeit.

3. Lebende Zellen mit zwei oder drei lebenden Nachbar bleiben am Leben.

4. Lebende Zellen mit mehr als drei Nachbarn sterben an Überbevölkerung.


Abb. 5: Game of Life

Bevor Sie nun weiterlesen: Schauen Sie sich die Startformation auf der folgenden Seite an ( Abb. 6). Wenn man nun die Simulation mit den genannten vier Regeln laufen lässt, welches Ergebnis erwarten Sie am Ende?

Das Ergebnis ist ein sog. »Gleiter«, das heißt, es gibt eine Gruppe, die dynamisch über die Topologie (bzw. über den Bildschirm) gleitet. Haben Sie das vorhergesehen?


Abb. 6: Game of Life – Gleiter

Wie man sieht, führt das Zusammenwirken unter einfachsten Handlungsregeln bereits zu derart komplexen Strukturmustern, dass wir kaum in der Lage sind, diese zu erkennen oder gar vorherzusagen. Und um ein Wievielfaches ist der wirkliche Gesellschaftsraum sowie das Handeln der Menschen und ihr Zusammenwirken komplexer als diese Simulation? Es ist also vollkommen unmöglich, gesellschaftliche Zukunftszustände mit Gewissheit vorherzusagen! Deshalb ist die Soziologie auch auf Erklärungen und nicht auf Prognosen spezialisiert. Selbstverständlich haben diese Erklärungen ggf. einen gewissen prognostischen Gehalt, wenn man garantieren kann, dass die Randbedingungen, unter denen das Handeln und das handelnde Zusammenwirken stattfindet – der Gesellschaftsraum – identisch bleiben. Dies ist allerdings so gut wie nie der Fall.

Es dürfte an dieser Stelle kaum jemanden wundern, dass in der Soziologie niemand davon ausgeht, dass Prozesse bzw. die Ergebnisse des handelnden Zusammenwirkens so verlaufen, wie die Beteiligten es annehmen. Der Normalfall ist das, was unter Transintentionalität gefasst wird (Greshoff/Kneer/Schimank 2003): Damit ist genau besehen (Kron 2003)

• erstens gemeint, dass die Prozesse bzw. die Ergebnisse des handelnden Zusammenwirkens nur selten dem entsprechen, was die beteiligten Menschen sich gewünscht haben. Man wollte als Beispiel vielleicht eine wundervolle und spaßige Geburtstagsfeier ausrichten, aber es ist einfach keine gute Stimmung zustande gekommen.

• Zweitens kommen die Menschen nicht selten im Nachhinein zu der Bewertung, dass das Geschehen nicht nur als unerwünscht, sondern auch das eigene Handeln letztlich als gescheitert zu betrachten ist. Um das Beispiel fortzusetzen, mag der/die Gastgeber:in zu der Bewertung kommen, dass die Musikauswahl (die o. g. Partner:in hat ausschließlich die Heavy-Metal-Platten abgespielt) einer guten Stimmung nicht zuträglich gewesen und sie/er deshalb gescheitert ist.

• Drittens wird das Geschehen des handelnden Zusammenwirkens oftmals gar nicht derart reflektiert, sondern im Regelfall eher gedankenlos mit eigenem Handeln begleitet – also etwa schlicht eine Musikliste für die Party erstellt, die sich an den je aktuellen Charts orientiert oder eben die Schallplatten rausgegriffen, die gerade vorhanden sind. Die Interaktionsorientierung ist eher gedankenlos.

• Und viertes geschieht auch das Handeln selbst oftmals eher beiläufig, das heißt, es ist gar nicht auf ein bestimmtes Geschehen oder Ziel des handelnden Zusammenwirkens ausgerichtet. Das Handeln ist dann weniger ein willentlicher Akt etwa in dem Sinne, dass der Mensch einen starken Drang verspürt, in einer bestimmen Art und Weise zu handeln, z. B. weil er/sie denkt, dies müsse oder soll so sein. Sondern das Handeln geschieht hier beiläufig, ohne eine starke Determination durch ein Müssen oder Sollen. Es geht dann eher darum, was als Können möglich ist und deshalb, weil es geht, einfach umgesetzt wird.

Gescheiterte Handlungen, die beiläufig durchgeführt und gedankenlos bezüglich des dann unerwünschten Prozesses bzw. Ergebnisses des handelnden Zusammenwirkens vollzogen wurden – dies dürfte der deutlichste Fall von Transintentionalität sein.

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