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Made in Belgium

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»Warst du schon mal in Belgien, Minkin?«

Minkin dachte über die Frage nach. Nicht besonders lange.

»Amsterdam. Zählt das?«

»Du Dummkopf. Das liegt in Holland!«

Haarspalterei war das. Belgier waren im Grunde nichts anderes als Holländer, die besseres Bier brauten. Zumindest was man so hörte und was im Internet stand. Wobei nicht alles stimmte, was man so hörte und was im Internet stand.

Da war er wieder, Goldberg. Ihr kennt den Kerl aus Minkins vergangenen Zufällen. Er war immer da, wenn man ihn nicht brauchte. Jetzt stand er wieder mitten in Minkins Zweiraumwohnung in Feuerbach am Wilhelm-Geiger-Platz. Nahm mit seiner nervösen Präsenz praktisch Minkins Wohnzimmer ein. Erstaunlich, diese Wirkung. Goldberg war nicht eben groß gewachsen. Eher das Gegenteil. Erinnerte an Danny DeVito mit Haarkranz. Er trug immer die teuersten Dreiteiler-Anzüge. Maßgeschneidert. Brachte nur nichts bei seiner krummen Statur. Goldberg hatte das gesetzliche Rentenalter vermutlich schon erreicht. Wo immer das Eintrittsalter gerade auch lag. Wusste man ja nie so genau, wo die Spezialdemokraten es gerade mal wieder für angemessen hielten. Er gab gern den Spiritus Rector. Wusste anscheinend, wo es lang geht. Ging Minkin damit gelegentlich auf den Sack. Aber wer tat das nicht.

Goldberg war seit Jahren Minkins Partner in unbehaglicher Allianz. Tauchte in unregelmäßigen Abständen bei ihm auf, um ihn mit den absurdesten Jobs zu beauftragen. Aufträge, die offensichtlich kein anderer haben wollte. Bei seinem letzten Job musste Minkin ein zweitausend Jahre altes Fass finden, das Jesus mit seinen Jüngern beim letzten Abendmahl geleert hatte. Klingt schräg? Dann wartet mal ab, was ihm jetzt wieder im Hirn rumspukt.

Minkin war das egal. Er war nicht mehr jung und brauchte das Geld. Goldberg gehörte praktisch zum Gründungsmythos seiner privaten Ermittlerkarriere. Der Pate ante portas. Hatte sich länger nicht blicken lassen seit der Sache mit dem Fass. Was das zu bedeuten hatte? Vermutlich nichts. Sollte man darauf wetten? Besser nicht.

Goldberg nahm auf dem einzigen freien Stuhl in Minkins Wohnzimmer Platz, der nicht mit Kleidern und getragenen Socken zugepackt war. Minkin war kein Messi, das sicher nicht. Aber eben auch kein Aufräumfetischist.

Minkin erwiderte lapidar:

»Belgien, weiß nicht. Hört man nicht nur Gutes.«

»Was meinst du?«, fragte Goldberg nach.

Da war dieser Kinderschänder vor ein paar Jahren. Marc Dutroux. Dann dieser ganze EU-Scheiß, kam aus Brüssel. Zulassung für Glyphosat, Patente auf Mais. Schlimm war das. Das verlor man mit den Jahren aus den Augen. Besser wurde es nicht dadurch. Furchterregender waren jedoch die Schauergeschichten über das Fruchtbier. Minkin hatte von einem Kirschbier gehört, das der Belgier mit Eiswürfeln trank. Aus Cocktailschwenkern. Ein offener Affront gegen alle aufrichtigen Biertrinker. Um nicht zu sagen: Blasphemie. Es war eine Sache, nicht an Gott zu glauben. Eine andere Sache war es, ihn zu verhöhnen. Kannte der Belgier denn überhaupt keine Scham? Sicher, es gab auch hierzulande Irrtümer, Verfehlungen. Schöfferhofer Weizen Pink Grape. Oder Kaktusfeige. Da hatte der Creative Director des Lebensmittelkonzerns auf der Suche nach der Singularität seiner Industrieerzeugnisse ganze Arbeit geleistet. Aber hey, das waren Ausnahmen. Was der Belgier tat, das tat der Belgier mit Absicht. Er war am Ende noch stolz drauf.

»Kirschbier meine ich damit«, erwiderte Minkin, um Goldbergs Nachfrage wieder aufzunehmen.

Goldberg seufzte:

»Dein Ernst? Darüber machst du dir Gedanken?« War eine rhetorische Frage.

Goldberg kannte die Antwort. Mit Minkin unernst über Bier zu diskutieren, war ähnlich Erfolg versprechend, wie mit dem Papst über Verhütung zu reden. Alles Leben kommt von Gott! Every sperm is sacred, every sperm is great!

Deutschland wurde geschlagen, wir alle haben verloren – Charles de Gaulle

»Was weißt du über den Zweiten Weltkrieg, Minkin?«, wechselte Goldberg das Thema.

Was war das denn für eine Frage? Minkin antwortete:

»Was ich darüber weiß? Nichts Gutes.« Der Zweite Weltkrieg war die Mutter aller Kriege. Gab keine treffendere Beschreibung für das Leid, das Elend, die Opfer. Ihr Name war Legion.

Goldberg fuhr fort:

»Nehme an, du weißt, wer ihn verloren hat?«

»Hat überhaupt jemand gewonnen?«

Musste man sacken lassen. Hatte Gewicht. Goldberg fragte deshalb nach:

»Wo hast du denn die Antwort gestohlen?«

»Kam mir eben in den Sinn.«

»Erzähl keinen Mist, das ist eine Etage zu tiefsinnig für dich.«

Konnte was dran sein.

Goldberg fuhr fort:

»Du weißt, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren hat?«

Das war unter der Gürtellinie.

»Goldberg, hören Sie mir zu, ich bin auf dem Land aufgewachsen, ja, genauer gesagt, im Kraichgau, was mitunter doppelt schwer wiegt, aber stellen Sie sich vor, es gab dort Schulen.«

Goldberg stichelte geradewegs weiter:

»Davon bin ich überzeugt, aber warst du auch dort?«

»Er kann mich am Arsche lecken.«

Minkin war angepisst. Goldberg versuchte es mit Deeskalation:

»Minkin, hab dich nicht so. Das war ein Elfmeter, den musste ich machen.«

Da war was dran. Den Gag hätte Minkin auch aufgelesen, wenn er ihn hätte auf der Straße liegen sehen. Minkin wollte Goldberg nicht so schnell vom Haken lassen.

»Das mit dem Humor ist mein Part in der Geschichte. Können wir uns darauf einigen?«

»Meinetwegen«, sagte Goldberg. Nahm den Faden wieder auf. »Hat man euch im Kraichgau erzählt, warum Deutschland den Krieg verloren hat?«

Puh, gab es darauf eine plausible Antwort?

»Die anderen waren mehr?« Und irgendwie hatte man auch den Eindruck, dass der Fisch vom Kopf her stank.

Minkin fragte:

»Was ist das für eine Frage, Goldberg. Gibt nicht die eine Antwort. Schätze mal, da kam einiges zusammen. Am Anfang hatten wir kein Glück und dann kam auch noch Pech hinzu.«

Treffsicherer als der Exfußballer Jürgen Wegmann hätte man es nicht beschreiben können. Goldberg fuhr fort:

»Entscheidend war ein Datum.«

Er machte diese theatralische Kunstpause. Erwartete eine Nachfrage. Tat Minkin ihm den Gefallen? Logo, sonst wäre die Sache hier durch.

»Nehme an, Sie brennen darauf, mir das Datum zu nennen, Goldberg.«

Goldberg ging drüber weg.

»Es war der 6. Juni des Jahres 1944. Klingelt es da bei dir, Minkin?«

»Nicht laut genug, Goldberg.«

»D-Day. Der Tag, an dem während des Zweiten Weltkrieges die Landung der alliierten Truppen in der Normandie begann, die lang geplante Eröffnung einer Westfront gegen Hitler-Deutschland.«

Davon hatte Minkin gehört, genauer gesagt, hatte er den Film mit Tom Hanks gesehen. Der Soldat James Ryan. Ganz schönes Schlachten. Was Unsinn war, es gab kein Schlachten, das schön war.

Goldberg fuhr fort:

»Einhundertfünfzigtausend Soldaten der Alliierten landeten an den Stränden der Normandie. Am Omaha Beach, am Utah Beach. Sie hatten den Stränden Codenamen gegeben. Nicht super originell, zugegeben. Die meisten Soldaten waren US-Amerikaner, dazu Briten, Kanadier, Polen und Franzosen. Die Wehrmacht hatte in der Gegend am Atlantikwall fünfzigtausend Soldaten stationiert.«

»Verhältnis 1:3. Klingt suboptimal«, sagte Minkin. »Haben die Deutschen nicht mit der Landung gerechnet?«

»Haben sie, allerdings weiter nördlich bei Calais. Dort war der Großteil der deutschen Divisionen stationiert. Aber das war nicht kriegsentscheidend. 1:3 mag ein wenig unausgewogen klingen, aber es war die Wehrmacht.«

Was war das denn? Minkin war überrascht.

»Goldberg, was ist los? Als Kriegsenthusiast haben Sie sich bisher nicht hervorgetan.«

Goldberg versuchte es mit einer Erklärung.

»Man mag von der Wehrmacht halten, was man will. Aber das deutsche Heer war eine vorzügliche Kampforganisation. Ausbildung, Kampfgeist, Elan, Truppenzusammenhalt und Elastizität. Wahrscheinlich war ihr unter den Armeen des 20. Jahrhunderts keine ebenbürtig. Noch dazu hatten sich die Alliierten einen verdammt schlechten Tag ausgesucht. Es stürmte, die See war unruhig. Sie mussten die Landung um einen Tag verschieben.«

»Einhundertfünfzigtausend klingt trotzdem nach einer ganzen Menge!«

»Die Zahl war nicht entscheidend, Minkin.«

»Sondern?«

»Die Wehrmacht war am Ende.«

Ganz schön lahme Erklärung. Minkin hatte mehr erwartet. Obwohl da was dran sein mochte. Der Krieg ging schon ein paar Jahre. Und die Normandie war nicht die Côte d’Azur. Calais war nicht Cannes. Wusste man spätestens seit dem Film Willkommen bei den Sch’tis.

Goldberg fuhr fort:

»Die Armee war kampfunfähig erkrankt.«

»Krank?« Hörte Minkin zum ersten Mal. »Was soll das gewesen sein?«

»Diarrhö.«

War Minkin zu unbestimmt.

»Hä?«

Goldberg erhob sich von seinem Stuhl. Trat einen Schritt näher heran in Richtung des abgewetzten Kunstledersofas, auf dem Minkin saß. Er fragte:

»Warst du nicht mal auf einer Hochzeit und hast dir dort das Norovirus eingefangen?«

Gott, ja. Und mit ihm die halbe Hochzeitsgesellschaft. Schöne Scheiße war das. Minkin verzog das Gesicht. Bekam jetzt noch Bauchschmerzen, wenn er nur daran dachte.

»In der Art musst du es dir vorstellen. Akute, heftige Brechdurchfälle, Flüssigkeitsverlust, Dehydration, Übelkeit, körperliche Ermattung, du kannst dich nicht mehr auf den Beinen halten. Kippst einfach um, willst sterben.«

Minkin schüttelte den Kopf.

»Sie wollen mir erzählen, die Wehrmacht hatte die Hosen voll und konnte die Landung der Alliierten deshalb nicht verhindern?«

»Das ist die Kurzversion, ja.«

Klang banal. Minkin war nicht überzeugt.

»Weiß nicht, Krankheit als Ursache für einen verlorenen Krieg, das stellt man sich dramatischer vor.«

»Wäre nicht das erste Mal, dass eine Großmacht wegen einer Seuche untergeht«, legte Goldberg nach. »Das Römische Reich verschwand wegen der Malaria, die sich im 5. Jahrhundert im Süden Europas ausbreitete, von der Weltkarte. Napoleons Armee wurde beim Russlandfeldzug nicht auf dem Schlachtfeld besiegt, sondern durch Fleckfieber und Ruhr. Übertragen durch Läuse. Von dreihundertfünfzigtausend Soldaten der Grande Armée haben es gerade noch zehntausend zurück nach Frankreich geschafft.«

»Und was hat die Truppe krank gemacht?«

»Bier.«

»Bier?«

»Bier!«, bekräftigte Goldberg.

Minkin schüttelte den Kopf:

»Oh Mann, Goldberg. Wie lange machen wir das hier schon?«

»Fünf Jahre.«

Ernsthaft?, dachte Minkin. War das schon fünf Jahre her? Kam ihm wie vorgestern vor, als Goldberg zum ersten Mal auf der Bildfläche erschien. Minkin hatte gerade seinen Job bei der Staatsanwaltschaft geschmissen. Gab böse Zungen, die behaupten, sie hätten ihn dort rausgeworfen, weil er in der Mittagspause gelegentlich ein paar Bierchen zischte. War kompletter Unsinn. Wer die Justiz kannte, wusste: Gepflegter Alkoholismus war nicht hinderlich. Eher der Grund für eine Beförderung. Da musste man schon richtig über die Stränge schlagen, um abserviert zu werden. Goldberg tauchte damals wie aus dem Nichts auf. Deus ex Machina. Der Gott aus der Maschine, der am Ende alles ins Lot brachte. Der Helfer in der Not. Gab den Retter der abendländischen Braukunst. Minkin sollte eine Liste mit Brauereien ausfindig machen, die ihr Bier panschten. Der Job kam Minkin entgegen. Inhaltlich. Das, was er immer schon machen wollte. Nichts mit Menschen. Was mit Bier. Führte ihn nach Sevilla. Klärte mal nebenbei noch die Dopingkarriere der spanischen Nationalmannschaft bei der WM 2010 auf. Kümmerte nur keinen, dass die Truppe betrogen hatte. Am Ende überreichte ihm Goldberg ein Bündel Bargeld. Seitdem waren sie einander verbunden. Konnte sein, dass Minkin ein Jahr lang nichts von Goldberg hörte. Dann stand er plötzlich wieder auf der Matte. So wie jetzt.

Minkin sagte:

»Genau, fünf Jahre und drei Geschichten, genau deshalb sollten Sie es besser wissen.«

Goldberg fragte nach.

»Was meinst du?«

Minkin ließ sich Zeit mit der Antwort.

»Bier ist nicht die Krankheit. Bier ist die Heilung.« Salvator mundi. Der Erlöser der Welt. Na ja, vielleicht nicht ganz, aber Potenzial in der Richtung war auf jeden Fall vorhanden. Zumindest, wenn man das Bier im Freien und aus Flaschen zu sich nahm, wie es der bekannte Berliner Virologe Dr. Drosten empfahl, dann war es nicht schädlich. »Unsinn. Bier ist frei von Viren, hat keine Bakterien. Wussten sie schon im Mittelalter, deshalb gaben die Mütter ihren Kindern Bier zu trinken, wenn die Brust leer war.«

»Da lag das Problem, Minkin. Die Résistance hatte es geschafft, den kompletten Biernachschub für die Deutsche Wehrmacht in der Normandie zu sabotieren.«

Biersabotage? Gab bösartige Sachen, sicher. Hundehasser legten Giftköder aus, Mountainbikefeinde spannten Drahtseile auf Downhillstrecken im Wald. Aber welcher Wahnsinnige würde Bier sabotieren? Das klang ja noch schräger als die Aluhutträger, die behaupteten, Angela Merkel wäre eine Echse und würde von Außerirdischen gesteuert.

Minkin schüttelte den Kopf, fragte:

»Sie wollen mir ernsthaft erzählen, dass der Zweite Weltkrieg aufgrund einer Biersabotage der Résistance verloren gegangen ist?«

Goldberg antwortete:

»Im Wesentlichen ist es das, ja. Die Wehrmacht hat sich am Abend vor dem D-Day richtig abgeschossen. Hatte nicht damit gerechnet, dass die Alliierten schon am nächsten Morgen landen würden. War nicht mehr viel zum Saufen da. Göring hatte den Franzosen systematisch den Wein und Champagner beschlagnahmt und nach Deutschland bringen lassen, es blieb also nur Bier. Gebraut in Frankreich. In einer einzigen Brauerei. Unter deutscher Zwangsverwaltung. Der Brauprozess wurde streng überwacht. Die Deutschen trauten den Kollaborateuren nicht. Obwohl es Franzosen waren und sie die Kollaboration quasi erfunden hatten. Am 5. Juni kam der Biernachschub aus dem Elsass in der Normandie an. Die Jungs hatten ordentlich Durst.«

Fing an, Minkins Interesse zu wecken.

»Wie haben sie das Bier sabotiert?«

»Wir wissen nicht wie, aber wir kennen seinen Namen.«

»Seinen Namen? Ein einzelner Mann?«

»Er hatte Unterstützer, sicher, aber im Wesentlichen hat er es vollbracht.«

Vollbracht! Klang Minkin anlässlich der niederträchtigen Tat eine Spur zu glorreich.

»Wer war es?«

Goldberg ließ sich ein wenig Zeit.

»Abbé Jean.«

»Abbé wer?«

»Abbé Jean«, wiederholte Goldberg den Namen. »Hörst du neuerdings schlecht, Minkin?«

Minkin hatte sich die Zähne richten lassen, die Augen operieren, aber die Ohren waren okay.

»Du musst ihn finden, Minkin.«

»Er lebt noch?« Minkin war überrascht. »Mein Gott, wie alt ist der Mann?«

»Dürfte fast um die hundert sein. In jedem Fall Risikogruppe. Bleibt also nicht mehr viel Zeit.«

Minkin kam ins Nachdenken. Was selten war.

»Ich weiß nicht, ob ich das will, Goldberg.«

»Was ist los, Minkin?«

»Na ja. Es ist eine Sache, gegen Nazis zu sein.«

»Aber?«, fragte Goldberg nach.

»Es ist eine andere Sache, Brauerzeugnisse zu sabotieren.«

Goldberg nickte.

»Ich weiß, was er getan hat, wäre unter normalen Umständen nicht zu verzeihen. Aber die Umstände waren anormale, Minkin.«

Mochte Goldberg recht haben. Normal waren sie nicht. Trotzdem hatte Minkin vom feeling her kein gutes Gefühl, um mal wieder den guten Andi Möller ins Spiel zu bringen. Es widerstrebte ihm. Andrerseits waren permanente Ambivalenzen Teil unseres Alltags in der Spätmoderne. Du weißt, dass du eigentlich genug hast, bestellst dir aber trotzdem noch einen Absacker, einen Schnitt, wie der Franke das nennt. Wer mit diesen Widersprüchen leben könnte, käme da draußen in der Spätmoderne vermutlich besser klar.

Minkin fragte:

»Und warum wollt ihr den alten Mann nicht in Ruhe lassen?«

Goldberg antwortete:

»Nun ja, wir würden gerne wissen, wie er es gemacht hat, ich meine, das ist bierhistorisches Kulturwissen. Das darf nicht verloren gehen. Und dann gibt es Menschen in diesem Land, die es gerne gesehen hätten, wenn die Sache in der Normandie anders gelaufen wäre.«

Die gab es. Ohne Zweifel. Und Xavier Naidoo schrieb den Soundtrack dazu. Minkin fragte:

»Wo finde ich Abbé Jean?«

»Hast du je von den Trappisten gehört?«

Trappisten, da war was. Aber Minkin wusste nicht genau, was.

»Helfen Sie mir auf die Sprünge.«

Goldberg erläuterte:

»Die Trappisten sind Mönche. Sie gelten neben den Kartäusern als der strengste Orden in der Katholischen Kirche. Sie leben nach der Regel des Heiligen Benedikt. Sie sind bekannt für ihre Vorliebe für körperliche Arbeit. Manche Klöster sind berühmt für ihr Bier.«

»Das klingt gut.« Bis auf das mit der körperlichen Arbeit.

»Ja, aber sie sind sehr verschlossen. Viele Ordensmitglieder haben ein Schweigegelübde abgelegt. Du wirst ihr Vertrauen gewinnen müssen.«

»Sie brauen Bier, ich trinke Bier, wir sollten eine Basis finden.«

Minkins Ansatz war simpel. Aber es war ein Ansatz. Er fragte:

»Wann geht’s los?«

Goldberg gab sich kryptisch:

»Du selbst bist die Antwort.«

»Das heißt?«

»Was glaubst du, was das heißt?«

»Nichts Gutes?«

»Außer man tut es.«

Minkin schüttelte den Kopf, sagte:

»Hören Sie, Goldberg, Abbé Jean ist ein alter Mann. Der Schöpfer wird ihn so oder so bald zu sich holen, um es mal sakral rüberzubringen. Oder um es mit Boris Palmer zu sagen: Der Mann ist deutlich über neunzig. Wir retten hier einen Menschen, der in einem halben Jahr eh tot ist.«

Goldberg ließ nicht locker.

»Hast du einen Facebook-Account, Minkin?«

Ungefähr das Letzte, woran Minkin denken würde.

»Eher würde ich mir eine Katze anschaffen. Oder ein Kind«, antwortete er.

Goldberg zog sein Smartphone aus der Tasche, wischte über den Bildschirm. Gab das Teil an Minkin weiter. Darauf waren zahlreiche Kommentare zu Abbé Jean. Im Kern ging es darum, dass man Abbé Jean um die Ecke bringen wollte. Man hatte sich in der Community committed, wie man das tun wollte. Bonhoeffer-Style.

»Was bedeutet das?«, fragte Minkin nach. Obwohl er die Antwort ahnte.

»Du weißt, wer Bonhoeffer war?«

Klar wusste Minkin das. Ein Pfarrer im Dritten Reich. Hat es sich mit den Nazis ordentlich versaut. Wurde von guten Mächten wunderbar verlassen im KZ Flossenbürg erhängt. Widerstand zwecklos. Woher Minkin das wusste?

1986 war Minkin mit der Realschule Elsenz eine Woche in West-Berlin. Kalt und grau war das im Februar 1986. Und so krude das heute erscheint, die Lehrer damals hatten einen enormen Bildungsdrang. Das war fast schon zwanghaft, dieser Hang zur Wissensvermittlung. Dazu gehörte auch das KZ Flossenbürg. In dem Bonhoeffer erhängt wurde. Solltest du dir mal anschauen, Kollegah Bushido.

»Ja, Goldberg, ich weiß, wer Dietrich Bonhoeffer war.«

»Du weißt, wie er umkam?«

Minkin nickte.

»Für Abbé Jean haben sie in etwa dasselbe vorgesehen. Sie wollen ihn auf grausame Art bestrafen für die Sabotageaktion in der Normandie.«

Goldberg zeigte Minkin das Posting. Dort war ein Fleischerhaken abgebildet mit dem Kommentar: Bonhoeffer ist dein Vorbild, Abbé Jean, dann kack auch so ab!

Klang krass, dachte Minkin. Aber es gab Leute, die wollten Merkel am Galgen sehen, erschossen Landräte, die sich für Flüchtlinge einsetzten, auf der heimischen Terrasse beim Schlummertrunk. Wo war die Überraschung?

»Du musst ihn finden, Minkin, bevor die anderen ihn finden.«

Minkin sah Goldberg an, fragte:

»Die anderen? Geht es ein wenig genauer? Wer sind die?«

Goldberg versuchte sich an einer Erklärung.

»Darauf gibt es keine ganz einfache Antwort. Es sind Einzelpersonen ohne Organisationsanbindung, Kleingruppierungen, virtuelle Netzwerke. Verbindendes Element ist die Ablehnung des Staates in der jetzigen Form, seine Legitimität. Deutschland existiert für sie nur in den Grenzen von 1938.«

Minkin erwiderte:

»Klingt schräg, ja. Aber gefährlich? Eher nicht.«

Goldberg ging einen Schritt auf Minkin zu. Baute sich vor ihm auf. Wirkte lächerlich. Minkin war kein Riese. Kaum größer als einsachtzig. Hängende Schultern, unsportlich. Immer leicht nach vorne gebeugte, schlaffe Haltung. Konnte man fast schon bucklig nennen. Aber gegen Goldberg wirkte selbst Minkin irgendwie physisch. Sagte:

»Wollen Sie mich beeindrucken? Wenn, ist es Ihnen nicht gelungen.«

Goldberg war erregt:

»Mir scheißegal, ob du beeindruckt bist. Diese Typen sind es jedenfalls nicht. Sie sind gewaltbereit, waffenaffin. Schrecken vor nichts zurück. Vor ein paar Monaten hat einer aus ihrer Szene kaltblütig einen Polizisten erschossen bei einer Verkehrskontrolle. Eine Kugel mitten in den Kopf. Mit dem Abbé haben sie Schlimmeres vor, wenn du ihn nicht vor ihnen findest, Minkin. Also krieg deinen gottverdammten Arsch hoch!« Da war er also wieder, dieser subtile Leistungsgedanke, den Goldberg furios ins Spiel brachte. Was Unsinn war in dem Kontext. Leistung war nicht Minkins Antrieb. Ging nicht um das Gewinnen.

»Hören Sie, Goldberg, ich halte es mit Eric Cantona, ich spiele gegen kein Team. Ich spiele, um gegen die Idee zu kämpfen, zu verlieren.«

Was stimmte. Minkin spielte bei seinen Zufällen nach seiner eigenen, bernsteinfarbenen Regel. Labern, nicht machen. Diesmal würde das nicht funktionieren.

»Ich tu mein Bestes, Goldberg.«

»Besser nicht, Minkin.«

»Wie?«, fragte Minkin nach.

»Lass es. Nichts wäre schlimmer, als ein Minkin mit Plan. Der Zufall ist dein Partner.«

Egal wie man es drehte. Ein Lob wurde nicht daraus. Aber hey, scheiß drauf, wenn nicht der Zufall ein verlässlicher Partner war in diesen Zeiten, wer dann?

Goldberg und der unsichtbare Feind

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