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Schwemme – Klug war es nicht, aber geil!

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Eine knappe Stunde später kam Minkin in Cannstatt am Bahnhof an. Es regnete. Cannstatt war am Wasser gebaut. Was sollte man erwarten. Minkin dachte an seine verstorbene Mutter, die ihm geraten hatte, Gewässer im Allgemeinen und Brücken im Besonderen zu meiden. Sie konnte nicht schwimmen. Konnte man ihr daher nicht übel nehmen. Minkin lernte spät Schwimmen, mit fünfzehn oder sechzehn war das. Brücken mochte er deshalb noch immer nicht.

Die Schwemme in Cannstatt war in Sichtweite.

Auf Sicht fahren, sagten sie neuerdings in den Nachrichten. Nichts leichter als das, dachte Minkin. Haben die es endlich begriffen, mit ihren Strategiedialogen, ihren Konferenzen, ihren Zukunftsplänen. War alles Unsinn, wenn die Wirklichkeit sich in der Realität breitmachte, konnten sie ihre Pläne in die Tonne treten. So einfach war das.

Der Saarländer stand vor der Schwemme.

»Und?«

»Selbst?«

»Wieso stehst du hier draußen?«, fragte Minkin.

Der Saarländer gab keine Antwort und öffnete die Tür. Die beiden traten ein. Die Gespräche der Stammgäste ebbten jäh ab. Was kein gutes Zeichen war.

Einer der Platzhirsche schnauzte in Minkins Richtung.

»Ihr habt hier Hausverbot!«

Guter Einstieg. Wenn du mit diesen Worten in einer Kneipe begrüßt wirst, gibt es genau zwei Möglichkeiten. Entweder es gibt auf die Fresse oder du bist in der Schwemme in Cannstatt. Könnte natürlich auch beides zutreffen. Minkin blickte einmal kurz durch den Schankraum. Hier in der Schwemme saßen die harten Jungs am Lagerfeuer. Erzählten sich Geschichten aus Walhalla.

Ein Krieger entblößt sein Herz nicht, solange ihm keine Axt die Brust öffnet. Ragnar würde sein Wikingerschiff mit Sicherheit hier festmachen, dachte Minkin. Er würde kurz rüber in die Wilhelma stampfen, mit bloßen Händen einen Elch erlegen und danach auf einen Met in der Schwemme einkehren.

Minkin hatte von der Schwemme in Cannstatt gehört. Klar, die Kneipe war eine Institution. Was dem Katholiken der Petersdom in Rom, das ist dem Schräggastrowiedergänger die Schwemme in Cannstatt. Eine der sieben Pilgerkneipen in der Neckarsiedlung. Eine Kapelle der Kontemplation. Come as you are. Geh als ein anderer.

Wer hier Station machte, der musste sein bisheriges Leben gründlich überdenken, soviel war Minkin klar. Nicht ohne kollateral-intellektuelle Unterstützung aus der Schwemme.

Dort hatte einer der heimischen Seher mit Kreide etwas auf eine Tafel geritzt. Das iPhone11 kostet so viel wie 412 Jägermeister – es ist deine Entscheidung! Eine Übung in Achtsamkeit war das. Sag was drauf. Scheiß auf Apple! Und ganz ehrlich, die Eingeborenen wussten, wovon sie redeten. Dort saßen die Gewinner. Die Schwemme Bulls, die Dartmannschaft der Kneipe, hatte den Aufstieg in die A-Liga geschafft. Respekt, wenn man es selber macht.

Die Aufmerksamkeit in der Schwemme hatte sich schon wieder gelegt. Minkin orderte beim Wirt zwei Flaschenbiere. Da war er inzwischen ganz Drostianer. Minkin und der Saarländer nahmen den Tisch bei der Eingangstür. War zugig, ja, der Fluchtweg in der Nähe war ein strategischer Vorteil. Da musste man den Luftzug in Kauf nehmen.

»Du wolltest mich treffen, Minkin?«, fragte der Saarländer.

»Ja.«

»Gut, dann hätten wir das auch geklärt.«

»Was weißt du über den D-Day«, fragte Minkin.

»Zuviel.«

Der Saarländer war Geschichtslehrer. Ernsthaft interessiert an dem Thema. Zumindest vor seinem Burn-out. Möglicherweise war er inzwischen wieder gesund.

»Arbeitest du eigentlich wieder?«

»Nein.«

»Immer noch Burn-out?«

»Nein.«

»Was Ernstes?«

»Lockdown.«

Lockdown? Musste das neue Burn-out der Akademiker sein.

»Ansteckend?«

»Nicht ansteckend, nein.«

»Gut.«

»Also noch mal wegen des D-Days.« War doch jetzt ein astreiner Genitiv, Herr Sick?

»Was ist damit?«

»Du weißt ja, dass ich hin und wieder ermittle?«

»So nennst du das neuerdings?« Der Saarländer konnte sich das Grinsen gerade verkneifen.

»Ich suche nach Sachen?«

Traf es eher. Minkin fand hin und wieder Dinge, von deren Existenz er zuvor noch nie gehört hatte. Eine Liste, eine Katze, eine Formel, ein Fass. Ein Ruf hatte sich zu festigen begonnen. Gegründet auf falschen Voraussetzungen.

Minkin wollte sich nicht lange aufhalten mit Phrasen, schon gar nicht beim Saarländer.

»Also, ich suche einen alten Kerl, eine Art Mönch. Abbé Jean. War in der Résistance. Er hat anscheinend das komplette Bier vergiftet, das die Wehrmacht am Abend vor dem D-Day geschluckt hat. Deshalb soll das in der Normandie ordentlich in die Hose gegangen sein.«

Der Saarländer nuckelte an seiner Bügelflasche.

Das war die Kurzversion der Geschichte. Die Aufmerksamkeitsspanne des Saarländers war begrenzt. Er war Lehrer. Was sollte man erwarten.

»Klingt schräg, oder?«, fragte Minkin.

»Nicht schräger als deine sonstige Materie. Wie soll der Kerl geheißen haben?«

»Heißen – er heißt Abbé Jean.«

»Hm. Abbé Jean, sagt mir nix.«

»Woher auch. Vermutlich Unsinn.«

»Gab einen Abbé Pierre in der Résistance«, erwiderte der Saarländer.

Minkin wiederholte:

»Abbé Pierre?«

Der Saarländer ergänzte:

»War eine Ikone in Frankreich.«

Verstand Minkin nicht.

»Dachte, die Franzosen haben es nicht so mit den Geistlichen und der Religion?« Nach Minkins Grundwissen spielten die Kirchen in Frankreich praktisch keine Rolle. Nannten es Laizismus. Hatten Religion praktisch aus ihrem Leben verdrängt. Aber wer Religion verdrängt, versteht weder die Geschichte noch die Gegenwart, soviel war mal klar.

»Das schon, aber es lag wohl weniger an der Religion, als an der Type. War wohl ein richtig Guter. Während der deutschen Besatzung verhalf Abbé Pierre Juden und politisch Verfolgten zur Flucht in die Schweiz, indem er Papiere fälschte und Widerstand gegen die deutsche Besatzungsarmee leistete. Nach der Befreiung Frankreichs gehörte Abbé Pierre der Verfassunggebenden Versammlung an. Im Winter 1953/1954 wurde Frankreich von einer Kältewelle heimgesucht, bei der viele Menschen starben. Abbé Pierre sammelte Spenden, gründete eine Hilfsorganisation. Das machte ihn unsterblich. Bis er am 22. Januar 2007 mit vierundneunzig Jahren starb. Mit einem Gedenktag und einem Trauergottesdienst in der Kathedrale Notre-Dame de Paris hat Frankreich den Armenpriester gewürdigt. Die gesamte Regierung, Präsident Jacques Chirac, zahlreiche Vertreter der Kirche und Kultur nahmen bei der Messe Abschied von dem Geistlichen. Zweitausendfünfhundert Menschen verfolgten die Zeremonie bei klirrender Kälte vor Notre-Dame auf einer Großleinwand. Frankreich hat damals das Gewissen der Nation verloren.«

Minkin war beeindruckt, sagte:

»Klingt nach einem astreinen Abgang. Aber meiner heißt Jean, nicht Pierre. Die beiden müssen sich gekannt haben. Goldberg hat etwas von einem Briefwechsel der Brüder erzählt, der im Nachlass des Abbé Pierre aufgetaucht ist.«

Der Saarländer schüttelte den Kopf.

»Da kann ich dir nicht helfen. Noch was, Minkin?«

»Ja?«

»Hol mal noch Bier.«

Endlich mal eine brauchbare Ansage vom Saarländer.

Minkin kam mit zwei Bügelflaschen an den Tisch zurück.

»Das mit dem D-Day, dass die Truppe vergiftet wurde. Wie klingt das für dich?«

»Wäre nicht der erste Krieg, der nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Lazarett entschieden wurde.«

»Ich weiß, die Römer litten an der Malaria, Napoleons Grande Armée am Fleckfieber. Erzähl mir was Neues.«

Der Saarländer war erstaunt.

»Hin und wieder überraschst du mich, Minkin.«

Diese Trumpfkarte hatte Minkin ausspielen müssen.

»Die Deutschen hatten im betroffenen Küstenabschnitt nur etwa fünfzigtausend Infanteristen und wenige Flugzeuge zur Verfügung«, fuhr der Saarländer fort. »Weiter nördlich, wo das Landungsunternehmen von der Heeresleitung erwartet wurde, war der Großteil der Divisionen des Westheeres stationiert. Das hat den Alliierten sicher in die Karten gespielt. Das Wetter war beschissen, keiner der Deutschen hätte gedacht, dass die Alliierten bei unruhiger See, Regen und Nebel übersetzen. Und der Führer hat das Ganze verschlafen im Obersalzberg in den Alpen. Auch nicht gerade hilfreich für die Truppe. Wenn dann noch eine ordentliche Scheißerei hinzukommt, ich meine, kann schon sein, dass das einem Heer den Rest gibt.«

Schlauer wurde Minkin dadurch nicht. Aber auch nicht dümmer. Man musste vom Saarländer nehmen, was man kriegen konnte.

»Weißt du was über Trappisten?«

»So viel wie du über Frauen.«

Das war unterste Schublade.

»Arsch.«

Der Saarländer sagte:

»War ein Witz, Minkin.«

War es nicht. Das war das Problem.

»Was macht eigentlich diese Pamela?«

War jahrelang Minkins Lieblingstresenfachkraft. Minkin war so kurz davor gewesen damals. Aber so kurz. Dann fing Pamela was mit Gabriella an. Minkin hatte die beiden einander vorgestellt. Gut gemacht, du Trottel.

»Nichts.«

»Und das Mädchen aus Venedig. Hattest du nicht bei ihr gepennt?«

Mariella. Brown Eyed Girl from the County Donegal. Guinness, my goodness. Hatte ihn für einen Asiaten sitzen lassen, bevor es überhaupt anfing.

»Nichts.«

»Ist vielleicht besser, ich meine Beziehungen, dafür muss man geboren sein. Ist nicht jeder geeignet.«

Wenn das Aufmunterung sein sollte, dann war sie gut getarnt.

Minkin war sauer.

»Halt einfach die Schnauze und hol noch zwei Bier.«

Das ließ sich der Saarländer nicht zweimal sagen.

Trappisten, Minkin dachte darüber nach, wer ihm weiterhelfen könnte. Kamen nur zwei Berufsgruppen in Betracht, die sich mit Trappisten auskannten, die man um ein wenig Wissen anschnorren konnte. Frag einen Pfarrer oder frag einen Brauer. Für welche Berufsgruppe er sich wohl entscheiden würde?

Der Saarländer war inzwischen wieder bei Tisch. Im Schlepptau zweimal das leichte Herrengedeck.

Erfreut? Ging so.

»Was ist das?«

»Nach was sieht es aus?«

»Nach Schmerzen.«

»Treffer.«

Ein perfekter Sturm braute sich zusammen. Wie das so war mit perfekten Stürmen, er würde sich nicht aufhalten lassen. It is too late to stop now. Um es mit Van the Man auszudrücken. Das hier war der Vorabend des Lockdowns, wer wusste, ob das alte Leben nicht ein für alle Mal rum war. Bräuchte man also ernsthaft einen Anlass zum Trinken? Das Trinken selbst war der Anlass. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Der Saarländer trat den Gang zum Tresen schätzungsweise noch dreimal an. Der Rest des Abends verschwand in einem schwarzen Loch.

Goldberg und der unsichtbare Feind

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