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Kapitel 1

August 1944

Es war nur schwer zu sagen, was schlimmer war: der Umstand, dass die in ein Drahtgitter eingefasste Lampe an der Decke Tag und Nacht brannte, oder die damit verbundene Begleiterscheinung, die sich durch ein fortwährendes elektrisches Summen äußerte. Hätte das Summen zur Schlafenszeit aufgehört, wäre diese Frage leicht zu beantworten gewesen, doch war es untrennbar mit dem eingeschalteten Licht verbunden. Sie waren wie zwei unermüdliche Quälgeister, die Köpfe eines gemeinen siamesischen Zwillings, die sich gegenseitig in ihrer nervtötenden Bosheit zu übertrumpfen suchten.

Rücklinks auf der schmalen Pritsche liegend, die mit Scharnieren an der Wand befestigt war und tagsüber hochgeklappt wurde, starrte der Häftling die Deckenleuchte an und versuchte zu ignorieren, wie die Metallstreben durch die dünne, durchgelegene Matratze in seinen Rücken schnitten. Schon nach wenigen Minuten begannen seine müden Augen zu schmerzen, dennoch zwang er sich, weiter in das Licht zu sehen. Nach einer Weile begannen seltsame Farben vor ihm zu tanzen, gelbe Kreise schwollen zu einem Meer aus Magma an, das von roten Flammen durchdrungen wurde. Die Ströme aus Feuer und flüssigem Gestein wirbelten durcheinander, verschmolzen miteinander, trennten sich wieder und wichen schließlich einem grellen Weiß, das bald das gesamte Zentrum der Erscheinung ausfüllte.

»Die Sonne«, dachte der Gefangene, »ich blicke in die Sonne. Ach, wenn es doch nur die Sonne wäre.« Eine stumme, eine leise Sonne, die abends hinter dem Horizont verschwindet und niemals auch nur das kleinste Geräusch von sich gibt.

Bald schien es dem Gefangenen, als nähme auch das Summen an Intensität zu. Zunächst war es, als befände sich eine einzelne verirrte und vergeblich nach einem Ausgang suchende Fliege mit ihm in der Zelle. Schon waren es zwei Fliegen, irgendwann zehn, schließlich handelte es sich um einen ganzen Schwarm, der nicht mehr nur Wände und Decke nach einem Schlupfloch ins Freie abtastete, sondern stattdessen Zuflucht in seinem Kopf zu suchen schien. Wirre Gedanken wogten durch sein Hirn wie Wein, den man allzu schwungvoll in einen Dekanter goss. Hier und da tauchten ein Name oder ein Wort auf: Gertrud, Harald, dann der Admiral, Heinz, die Dokumente … alles verwirrte sich scheinbar zusammenhanglos im unauflösbaren Knoten, der seinen Verstand gefesselt hielt. Die gleißende Sonne, der unsichtbare Fliegenschwarm, die Namen von Menschen, die er vermutlich niemals wiedersehen würde – es war zuviel für seinen erschöpften Geist. Der Gefangene spürte, wie sein Kopf immer schwerer wurde, sich mit flüssigem Blei füllte und tiefer in das Kissen sank, während sich sein Körper aufzulösen schien, bis er nicht einmal mehr das harte Metallgestell der Pritsche unter sich spürte. Endlich wurde er von einem sternenlosen schwarzen Weltall verschluckt und fiel in einen schweren Schlaf, der dem Tode näher war als dem Leben.

Tot aber war er nicht. Ob das nun gut oder schlecht war, das konnte er selbst nicht mit Sicherheit sagen. Als er erwachte, wusste er für einen kurzen Augenblick nicht, wo er sich befand, auch vermochte er nicht zu sagen, ob er eine Stunde oder einen Tag geschlafen hatte; das eine wäre ebenso gut möglich gewesen wie das andere. Schwach, widerwillig fast, entzündete sich der Funke seines Bewusstseins. Gleichzeitig verdeutlichten ihm die Schmerzen in seinem Rücken, dass er noch unter den Lebenden weilte. Erschrocken – ob durch die Schmerzen oder den Umstand, dass er lebte, war schwer zu sagen – riss er die Augen auf. Sofort war ihm, als schütte jemand einen Eimer gleißenden Lichts direkt in das Gesicht. Ein stechender Blitz drang in sein Gehirn, mit der Hand versuchte er seine Augen gegen die Glühbirne abzuschirmen und zu schützen. Er drehte sich zur Wand und versuchte dadurch, dem unbarmherzigen Gleißen zu entkommen. Angestrengt bemühte er sich, seine Gedanken zu ordnen. Seine Augen suchten die graue Zellenwand ab, schweiften über kleine Kratzer und tiefe Risse, über einen gewaltigen Krater, wo der feuchte Putz abgeblättert war und die darunterliegende Ziegelmauer freilegte.

Vom Gang hinter der Zellentür war ein kurzer Schrei zu hören, der sofort von einem dumpfen Geräusch erstickt wurde.

»Sonderegger«, dachte der Gefangene, »oder irgendein anderes sadistisches Schwein.« Von der Sorte gab es hier genug.

Oh ja, er wusste wo er war. Und er hatte Angst, das gestand er sich unumwunden ein. Trotzdem durfte er nicht zulassen, dass ihn sein Verstand im Stich ließ und ihn die Angst übermannte. Wenn er seinen Kopf jemals wieder in einen freien Himmel emporrecken wollte, wenn er seine Frau und seine Kinder jemals wiedersehen wollte, durfte er keine Schwäche zeigen, musste er gegenüber sich selbst die gleiche Härte walten lassen wie seine Peiniger. Sein Verstand, seine Unermüdlichkeit und seine Unnachgiebigkeit waren die einzigen wirklichen Waffen, über die er jemals verfügt hatte, und er konnte es sich gerade jetzt nicht leisten, dass diese Waffen stumpf wurden. Er musste ihre Schärfe erhalten, sie mussten schärfer werden als sie es jemals waren. Dann würde er auf eine Gelegenheit lauern, da sich seine Feinde eine Blöße gaben, und zuschlagen – genauso wie er es schon einmal getan hatte.

An irgendeinem Punkt jedoch musste er die falsche Richtung eingeschlagen haben, er hatte seine Deckung sinken lassen oder war schlichtweg nicht stark genug gewesen. Natürlich, letztlich war sein Verhängnis einer dummen Nachlässigkeit zu verdanken, einem winzigen Augenblick der Unaufmerksamkeit: Bei einem geradezu närrischen Versuch, noch bei der Verhaftung eines Freundes vor den Augen der Gestapo Unterlagen verschwinden zu lassen – ein Missverständnis eigentlich um zudem vollkommen unwichtige Dokumente, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte –, hatte er sich verdächtig gemacht und war unter Hausarrest gestellt worden. Monatelang hatte man ihn danach überwacht und war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt. Damals konnte ihm die Geheime Staatspolizei nichts anhaben, da sein Fall innerhalb der Jurisdiktion der Wehrmacht lag und vor dem Reichskriegsgericht verhandelt werden sollte. Doch dann, noch bevor es zur Hauptverhandlung kommen konnte und nur einen Tag nach diesem schicksalhaften 20. Juli, vor wenigen Wochen erst, war man wohl des Spieles überdrüssig geworden. Man hatte ihn aus der Wehrmacht ausgestoßen, die Ermittlung an die Gestapo abgegeben und ihn festgenommen. Tatsächlich aber hatte das Schicksal schon wesentlich früher seinen Lauf genommen, Jahre bevor er herausfinden musste, wie die Kellerräume dieses berüchtigten Gebäudes in der Prinz-Albrecht-Straße von innen aussahen. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wo er vom Weg abgekommen war, was er hätte tun können, ja ob er überhaupt jemals eine echte Chance gehabt hatte, sein Schicksal abzuwenden. Diese Frage ließ sich unmöglich beantworten, das wusste er, dennoch spukte sie unentwegt durch seinen Geist, quälte und folterte ihn, was fast noch schlimmer war als alles, was ihm seine Widersacher antun konnten.

Über sich vernahm der Gefangene wieder das gleichförmige Summen der Lampe. Erstaunlich, dachte er bei sich, wie doch ein einfacher, vollkommen alltäglicher Gegenstand in ein Instrument der Marter verwandelt werden konnte. Er wunderte sich, wer wohl als erster auf die im Grunde banale Idee gekommen sein mochte, ausgerechnet eine Glühbirne zu verwenden, um Menschen zu zermürben. Eine Erfindung, die dazu angedacht war, Licht in eine dunkle, bis dahin lediglich vom fahlen Kerzenschein schwach erhellte Welt zu tragen. Eine großartige technische Errungenschaft, die das Leben der Menschen grundlegend veränderte – fast immer zum Guten. Was wohl der geniale Thomas Edison zu dieser schändlichen Zweckentfremdung seiner Schöpfung gesagt hätte?

Der Gefangene zwang seine abschweifenden Gedanken in geordnete Bahnen zurück. Er lauschte, horchte nach Schritten, klirrenden Schlüsseln oder dem klickenden Geräusch eines Riegels, der sich aus dem Schloss schob, und versuchte herauszufinden, wie spät es sein mochte. Nach allem, was er wusste, konnte der Morgen noch nicht angebrochen sein, denn immerhin war es ihm noch immer gestattet auf seiner schmutzigen und unbequemen Pritsche zu liegen. Er schüttelte den Kopf und bewirkte damit nichts anderes, als neue Schmerzen hinter seiner Stirn heraufzubeschwören. Wieder hatte er sich völlig unsinnigen und wirren Gedanken hingegeben, die ihn kein Stück weiterbrachten. Die Uhrzeit spielte keine Rolle, der Wochentag ebenso wenig. Einzig entscheidend waren die Zeiteinheiten von Monat und Jahr, die beide möglichst im Fluge vergehen sollten, ohne dass es zu seiner Verurteilung käme.

Seine Gedanken wehrten sich vehement gegen die verzweifelten Kontrollversuche und schweiften erneut ab, wandten sich einem Detail der täglichen Routine zu, das hier drinnen leicht die gesamte Gedankenwelt vereinnahmen konnte. Mit etwas Glück gäbe es bald Frühstück: zwei Scheiben hartes Brot mit Margarine, die nach absolut gar nichts schmeckte, meist ranzig war und ein pelziges Gefühl im Mund hinterließ, sowie Marmelade, dazu einen Becher lauwarmen Ersatzkaffee. Wenn er Pech hatte, würde man das Frühstück großzügig übergehen, ihn stattdessen abholen und einem weiteren Verhör unterziehen. Gab es auch nur eine einzige Sache, die er in seiner Zeit in diesem Loch gelernt hatte, dann, dass es besser war stets mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Der Gefangene schloss die trockenen Augen und versuchte das Bild fettglänzender Marmeladenbrote aus seinem Geist zu verbannen. Resigniert musste er feststellen, dass die Brote blieben und seine Augen zudem noch stärker brannten, als wenn er sie offenließ. Er versuchte sich zu konzentrieren und bemühte sich, Hunger, Schmerz und Kummer in die tiefsten Winkel seines Ichs zu verbannen. »Der Plan«, murmelte er leise gegen die Zellenwand, »ich muss mich unbedingt an den Plan halten.«

In Gedanken durchlebte er noch einmal seine letzte Begegnung mit Heinz und dem Admiral. Es mochte erst ein paar Tage her sein, vielleicht waren es Wochen, das war schwer zu sagen. Ebenso gut hätten es aber auch Jahre sein können. Die Zeit, dieses ohnehin trügerische Konstrukt der zivilisierten Welt, verzerrte sich an diesem Ort fernab aller Zivilisation, wurde weich wie in der Sonne schmelzender Camembert, floss zäh dahin und entzog sich demjenigen, der sie zu fassen suchte. Ginge es nicht um Leben und Tod, so hätte man fast sagen mögen, Zeit spiele hier drinnen keine Rolle. Diese letzte Begegnung nun also lag eine nicht genau bestimmbare Anzahl an Tagen oder Wochen zurück. Gefesselt war er von einem Wachmann hinaus auf den Flur gezerrt worden, wo man ihn barfuß auf dem kalten Boden einige Minuten hatte warten lassen. Als man ihn schließlich vorwärts in Richtung des kleinen schäbigen Waschraums am Ende des Ganges getrieben hatte, war ihm aufgefallen, dass sich offenbar noch zwei weitere Häftlinge zu dem seltenen Ereignis der Körperhygiene hinzugesellen sollten ...

***

Schwerfällig watschelnd schleppte sich der Gefangene den Flur entlang. Auf dem eisigen Steinboden, der wie glühende Nadeln in die blanken Sohlen stach, erzeugten seine nackten Füße ein platschendes Geräusch. Erst, als sie zu dritt den Waschraum erreichten, erkannte er, dass es sich bei seinen Waschgenossen um Heinz und den Admiral handelte. Sie beide waren kaum wiederzuerkennen.

Den harten Haftbedingungen zum Trotz hatte Heinz kaum etwas von seiner kräftigen, stämmigen Statur eingebüßt. Er war schon immer zäh und ausgesprochen hart im Nehmen gewesen, lediglich die rot unterlaufenen Augen und die fahle Gesichtsfarbe verrieten, dass man dem Hauptmann wohl eine ähnliche Behandlung zuteilwerden ließ wie ihm selbst. Beim Anblick des Admirals hingegen erschrak er regelrecht. Der nicht sehr große Mann hatte selbst in seinen besten Jahren nie eine stolze Erscheinung dargeboten, nun jedoch wirkte er grau und eingefallen wie eine frische Mumie. Sein schneeweißes Haar war zerzaust und unordentlich und es schien, als sei sein ohnehin kleiner Körper noch einmal um die Hälfte geschrumpft. Alle drei waren sie fast nackt. Abgesehen von Heinz – warum man hierbei eine Ausnahme machte, wusste er nicht – waren ihnen außerdem die Hände gebunden worden. Als er sich der Blicke der beiden Männer bewusst wurde, die ihn mit einer Mischung aus Trauer, Mitleid und Schreck ansahen, musste er sich eingestehen, dass er selbst wohl keinen besseren Anblick bot. Einen Spiegel gab es in der Kammer nicht, worüber er in diesem Moment sogar froh war.

Der Wachmann zog sich in den Flur zurück und ließ die drei Männer allein. Über das Wunder, dass man sie hier für einige Minuten versammelte, konnte man nur staunen. Es war zu vermuten, dass der listenreiche Admiral dies irgendwie zu Wege gebracht haben mochte, doch sich darüber auszutauschen war keine Zeit. Zögerlich, beinahe schüchtern wie junge Burschen, die sich zum ersten Mal nackt in der Gemeinschaftsdusche präsentieren, rückten sie näher aneinander und steckten die grauen Köpfe zusammen.

Für Höflichkeiten bestand keine Not und so kam der Admiral direkt auf den Punkt. »Schon in sechs Wochen kann der Krieg vorbei sein, im ungünstigsten Fall dauert er vielleicht noch ein dreiviertel Jahr. Unsere einzige Chance, hier lebend wieder herauszukommen, besteht also darin, Zeit zu gewinnen. Wir dürfen unser Wissen nur Scheibchenweise preisgeben und müssen immer den Anschein wahren, als wüssten wir noch vieles mehr. So wird man uns als die vermeintlichen Hüter wichtiger Geheimnisse noch auf Monate in unseren Zellen brüten lassen. Ist dann der unvermeidliche Tag des Zusammenbruchs endlich da, werden wir von den Siegermächten befreit.«

Schnell einigten sich die Männer auf die Vorgehensweise, sich bei den Befragungen nur zögerlich Informationen entlocken zu lassen, und auch nur solche, die ihnen nicht unmittelbar gefährlich werden konnten. Weiterhin kam man darin überein, dass Hauptmann Heinz, der offiziell nur für die Presseabteilung der Abwehr zuständig gewesen war, also eine vergleichsweise unbedeutende Position bekleidet hatte, als ahnungsloser Handlanger dargestellt werden sollte, den man über die genauen Pläne im Unklaren gelassen hatte. Durch diese Taktik spekulierte man auf seine baldige Entlassung, sodass er die Befreiung seiner Komplizen in die Wege leiten oder sich wenigstens um die Beseitigung des noch reichlich vorhandenen belastenden Materials kümmern konnte.

Mit langen Blicken, aber ohne weitere Worte, verabschiedeten sich die drei Männer sodann voneinander – vielleicht für immer. Nicht einmal mit nur einem einzigen Tropfen des eiskalten Wassers in Berührung gekommen, führte man sie nacheinander genauso schmutzig und elend, wie sie gekommen waren, wieder aus dem Waschraum in ihre Zellen ...

***

In Embryonalstellung auf der Pritsche zusammengekrümmt, stieß der Gefangene einen leisen Fluch aus. Sein Magen knurrte fürchterlich. Nichts wünschte er sich in diesem Augenblick sehnlichster herbei als diese beiden lächerlichen Marmeladenbrote und den handwarmen Becher Muckefuck. Hunger und Durst erschwerten das Denken zusätzlich und es war zu vermuten, dass hinter der systematischen Auszehrung genau diese Absicht stand. Einschlafen konnte er dadurch ebenfalls nicht mehr und so brachte er eine scheinbare Ewigkeit in einem fieberartigen Dämmerzustand zu, in dem sich wirre Gedanken eine wilde Jagd lieferten – bis er irgendwann das Klirren eines Schlüssels vor seiner Zellentür vernahm.

Schwungvoll, ja wütend wurde die Tür aufgestoßen und zwei in Schwarz gekleidete SS-Wachen stürmten herein. Mit wenigen großen Schritten war einer der beiden an der Pritsche und verpasste dem noch immer mit dem Gesicht zur Wand daliegenden Gefangenen ohne Vorwarnung einen heftigen Schlag gegen das linke Ohr. Zum augenblicklich einsetzenden stechenden Schmerz gesellte sich ein widerwärtiges schrilles Pfeifen, das sich mit Lichtgeschwindigkeit im Kopf des Häftlings ausbreitete. Noch ehe der auch nur den Versuch unternehmen konnte, sich zu erheben, wurde er bereits von groben Händen gepackt und von seinem Lager gezerrt. Ohne den Sturz abfedern zu können, knallte er rücklings auf den harten Zellenboden und prellte sich dabei das Steißbein.

»Los, steh auf, du Verräterschwein! Heute gibt’s ne Sonderbehandlung für dich.«, maulte eine der Wachen.

Unsanft wurde das sogenannte Verräterschwein von den beiden SS-Männern unter den Achseln gefasst und auf die Beine gezogen. Mehr verwirrt als verängstigt, sah er die beiden an und versuchte, benommen von Schmerz, Hunger und Erschöpfung, zu sich zu kommen. Das Pfeifen in seinem Ohr und das Pochen in seinem Gesäß erschwerten diese Bemühung zusätzlich.

»Wenn du pissen musst, dann lass laufen. Sollte dir oben auch nur ein Tropfen entweichen, dann schwöre ich dir, lernst du mich kennen!«

Er musste nicht pissen. Wie könnte er auch, hatte er doch seit vielen Stunden nicht das kleinste bisschen Flüssigkeit zu sich genommen, in einem entsprechend ausgetrockneten Zustand befand sich sein Körper. Ihm wäre ohnehin gar keine Zeit hierfür geblieben, denn noch bevor diese Drohung richtig ausgesprochen war, wurde er halb getragen, halb geschoben auch schon hinaus auf den Flur befördert.

Auf dem Weg in den ersten Stock sah der Verräter erstmals seit Äonen, wie es ihm vorkam, das Tageslicht. Obwohl von Sehen im eigentlichen Sinne keine Rede sein konnte, denn obschon draußen ein schöner Sommertag zu sein schien, war ihm, als sei alles um ihn herum wie bei einer überbelichteten Fotografie in gleißendes Weiß getaucht. Das von den kahlen Wänden reflektierende Licht war sogar noch greller als die kleine summende Sonne in seiner Zelle, und so hielt er fast die ganze Zeit über den Kopf gesenkt und blinzelte auf seine Füße. Dadurch hoffte er wenigstens nicht zu stolpern, was unweigerlich weitere Schläge und Misshandlungen durch seine Bewacher nach sich gezogen hätte. Nachdem das Dreiergespann einige Gänge und Korridore durchschritten hatte, erreichten sie den Verhörraum. Den kannte der Verräter bereits besser als ihm lieb war.

Drinnen war es bis auf eine einzelne, waagerecht ausgerichtete Lampe stockdunkel.

Als die Wachen ihn in den Raum stießen und die Tür schlossen, wurde er von einer rauchigen, beinahe schönen Männerstimme begrüßt. »Mein lieber Oster, schön, dass Sie es einrichten konnten!«

Einer der SS-Männer grunzte vor Häme.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz und leisten mir etwas Gesellschaft. Ich bin mir sicher, wir haben noch einiges zu besprechen.«

Der Häftling namens Oster wurde zu einem Stuhl geführt, der im Zentrum des Scheinwerferlichts stand, und unsanft darauf niedergedrückt. Sein geprelltes Steißbein protestierte sofort und jagte ihm einen Stich durch den Unterleib. Man fesselte seine Arme und Beine, sodass er sich kaum rühren konnte, während ihm die Lampe direkt ins Gesicht schien.

»Schon wieder Licht.«, dachte er angeekelt. Gab es denn auf dieser Welt keine Nacht, keine richtige Dunkelheit mehr? »Edison, was hast du mir mit deiner unglückseligen Erfindung nur angetan!«

Der Gestapo-Beamte mit der rauchigen Stimme saß ihm gegenüber an einem Schreibtisch. Seitlich hinter dem Beamten befand sich die Lampe, sodass Oster ihn nicht richtig sehen konnte und gezwungen war, gegen das Licht anzublinzeln. Ein freches Glühwürmchen tanzte vor Osters zusammengekniffenen Augen, der Rauch einer Zigarette stieg ihm in die Nase. Für ein paar Züge hätte er sogar eines seiner erbärmlichen Marmeladenbrote geopfert. Doch die hatte man ihm bislang nicht nur vorenthalten, es stand auch zu bezweifeln, ob sich der Gestapo-Mann auf diesen Tausch eingelassen hätte.

»Nun, Oster …«, begann der Beamte von neuem und zögerte einen Moment. »Darf ich Hans zu Ihnen sagen? Das ist doch viel persönlicher, nicht wahr? Und als persönlich kann man unser Verhältnis wohl durchaus bezeichnen, meinen Sie nicht auch?«

Hans Oster gab darauf keine Antwort. Zu sehr war er damit beschäftigt, sich dem Licht, so gut es ihm in seinem gefesselten Zustand möglich war, zu entziehen. Gleichzeitig mühte er sich, seine Gedanken zu sammeln, um sich gegen das unmittelbar bevorstehende Verhör zu verteidigen.

Auf ein unsichtbares Zeichen des Beamten hin wurde Hans Oster von hinten am Kopf gepackt. Während sich sein Schädel anfühlte, als wäre er in einen Schraubstock eingespannt worden, machte sich ein weiteres Paar Hände in seinem Gesicht zu schaffen. Eins nach dem anderen wurden seine Augenlider hochgezogen und mit Hilfe von Klebestreifen aus Leukoplast an seinen Augenbrauen fixiert. Nun waren seine Augäpfel völlig ungeschützt dem gnadenlosen Scheinwerferlicht ausgeliefert. Er stöhnte vor Schmerz und Unbehagen.

Geduldig ließ der Beamte die Bestrahlung wirken. Der menschliche Körper war doch etwas Wunderbares, sinnierte er rauchend. Hinderte man diesen auch nur an der Ausübung der einfachsten Funktionen, konnte das großes Unbehagen auslösen.

»Mit wenigen Worten können Sie sich selbst das hier ersparen – und auch das, was wir sonst noch für Sie auf Lager haben, sofern Sie nicht bald den Mund aufmachen. Kommen Sie schon, Hans, Sie wissen doch, was ich hören will. Sagen Sie mir, dass Sie von den Attentatsplänen auf den Führer gewusst haben. Und geben Sie mir Namen.« Der Stimme des Beamten war nun jeder Hauch gespielter Liebenswürdigkeit abhandengekommen.

Oster war, als beuge sich der andere nach vorne, um der Bedeutung seiner Worte besonderes Gewicht zu verleihen.

»Sie wissen, dass Sie so gut wie tot sind. Ein Landes- und Hochverräter, das sind Sie. Die Beweise, die gegen Sie vorliegen, sind schon jetzt mehr als erdrückend. Ihr alter Freund Dohnanyi sitzt im Konzentrationslager Sachsenhausen, müssen Sie wissen. Er hat Sie schon nach ein paar Stunden verpfiffen. Sogar Ihr ehemaliger Beschützer, der Admiral, hat Ihnen mit seinen Aussagen nicht gerade einen Gefallen getan. Wenn es darauf ankommt, denkt doch jeder nur an sich selbst – eine Vorgehensweise, die ich auch Ihnen nahelegen würde.«

Hans Oster wand sich unter Verhör und Folter gleichermaßen, kämpfte darum, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Dass ihn Dohnanyi und der Admiral verraten haben könnten, glaubte er nicht für eine Sekunde. Durch Lügen und Täuschung wollte man ihn verunsichern und weichklopfen in der Hoffnung, dass er, angetrieben von Rachegefühlen, seine Komplizen preisgab.

Immer wieder im Verlauf der vergangenen Jahre hatten sie sich so gut wie möglich darauf vorbereitet, dass man sie irgendwann verhaften könnte. Sie hatten gewusst, sodann würde es auf einheitliche, aufeinander abgestimmte Aussagen ankommen, Widersprüche oder Lücken konnten sie den Hals kosten. Zudem hatten sie sich nichts vorgemacht: Es gab zu viel belastendes Material gegen sie, als dass sie noch glaubhaft hätten behaupten können, von nichts gewusst zu haben. Ihre Strategie hatten sie deshalb um einen zwar makabren, dafür aber überzeugenden Schachzug ergänzt. Belastet werden sollten nämlich lediglich Personen und Mitwisser, die entweder bereits tot oder auf der Flucht waren. Niemals, so versicherte Oster sich selbst erneut, würde ihn jemand anschwärzen, um seine eigene Haut zu retten.

»Ich will ja reden«, keuchte er, »machen Sie nur dieses verfluchte Licht aus.«

Mit einer knappen Kopfbewegung gab der Beamte den Wachen ein Zeichen. Ein großer Schatten legte sich daraufhin über Hans Oster. Der Schatten besaß ein Gesicht, war aber nur undeutlich zu erkennen, weshalb das gemeine Grinsen, das sich darin abzeichnete, mehr zu spüren als zu sehen war. Dann verpasste ihm der Schatten unvermittelt einen heftigen Magenschwinger.

Oster schnappte nach Luft. Am liebsten hätte er sich umgehend übergeben, brachte aber nichts weiter als ein trockenes Würgen und ersticktes Husten heraus. Zu viel mehr war sein leerer Magen nicht imstande.

»Sie haben hier rein gar nichts zu fordern.«, schalt ihn der Beamte ruhig, aber streng wie ein Oberlehrer, der einen Schüler maßregelt. »Was bilden Sie sich eigentlich ein? Sie haben mir zu geben, was ich will, und sonst nichts.«

Einige Minuten lang sah er seinem Gefangenen schweigend dabei zu, wie dieser keuchend und schnaufend darum kämpfte, sich dem gnadenlosen Licht zu widersetzen. Dann, wie um seine eigenen Worte Lügen zu strafen, klappte der Beamte nach einem Moment des Zögerns den Lampenschirm nach unten und ließ durch ein Zeichen großmütig die Klebestreifen an den Augenlidern des Häftlings entfernen. Bei dieser Gelegenheit büßte der Malträtierte einen Teil seiner Oberaugenbehaarung ein.

Mehr routiniert als genüsslich zog der Gestapo-Mann an seiner Zigarette. Auch dieses Mal unterließ er es, Oster einen Zug anzubieten. Die Lust darauf war diesem aber ohnehin vergangen, wahrscheinlich wäre er im Augenblick auch gar nicht dazu in der Lage gewesen. Schwer nach Atem ringend, krümmte er sich, soweit es der Spielraum der Fesseln erlaubte, auf seinem Stuhl.

»Sie sehen, ich lasse durchaus mit mir reden«, schmeichelte der Beamte sich selbst, »sofern Sie vernünftig sind. Begreifen Sie doch, dieses Theater, das Sie hier veranstalten, all die Ausflüchte und Beteuerungen, das ist alles gänzlich zwecklos. Kindisch möchte ich fast sagen. Sie können sich hier abmühen und irgendeiner abstrusen Hoffnung hingeben, im Grunde ist mir das ganz gleich. Bedenken Sie jedoch, dass Sie dadurch nur ihr eigenes Elend verlängern.« Der Beamte lehnte sich in seinem Stuhl zurück, eine Hand ließ er entspannt auf dem Schreibtisch ruhen. »So gesehen haben Sie hier die Fäden in der Hand und nicht ich. Sie allein können nämlich entscheiden, wann es vorbei ist – bis zu einem gewissen Grad natürlich. Seien wir doch ehrlich, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir genügend Beweise und Aussagen beisammenhaben. Dann wird es ganz unerheblich sein, ob und was Sie aussagen.«

Allmählich erholte sich Oster von dem Schlag. Es war erstaunlich, wie ihn der Umstand, langsam wieder vernünftig atmen zu können, in eine fast schon optimistische Stimmung versetzte. Ihm war durchaus aufgefallen, dass sich der Gestapo-Beamte soeben widersprochen und zugegeben hatte, dass die Beweislast gegen ihn wohl doch nicht so erdrückend war, wie eingangs behauptet. Der Moment, seinen Plan zu entfalten, schien gekommen. »Ja«, sagte er nur und machte danach eine lange Pause.

Der Beamte betrachtete ihn und überlegte, ob der Gefangene zu Atem komme wollte oder darüber nachdachte, was er sagen sollte. Nicht, dass ihn das interessiert hätte. Er versuchte lediglich zu entscheiden, wie sich wohl ein weiterer Hieb auf dessen Redseligkeit auswirken würde.

Als der Gestapo-Mann schon ungeduldig zu werden drohte, fuhr Oster fort. »Ich gebe es also unumwunden zu: Ich war unzufrieden mit den Verhältnissen. Ich wollte, dass sich etwas ändert. Ich wollte nicht warten, bis es zu spät war. Ich wollte die Sache selbst in die Hand nehmen.«

»Indem Sie einen Plan zur Ermordung des Führers ausarbeiteten.«, ergänzte sein Gegenüber ermunternd. Der Beamte wähnte sich schon am Ziel und sah Oster interessiert an.

Der schüttelte vorsichtig den Kopf. »Es ging uns zunächst nur darum, SS und Gestapo auszuschalten und die Rechtstaatlichkeit wiederherzustellen. Wir haben geglaubt, der Führer wisse nichts von den Machenschaften der SS. Unserer Ansicht nach arbeitete Himmler daran, die Macht an sich zu reißen. Wir wollten den Führer nicht umbringen. Wir wollten ihn retten …«

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