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Kapitel 4

Februar 1938

Der Monat wurde mit einer weiteren Niederlage eingeläutet. Reichsweit mühte sich die Gestapo, General Werner von Fritschs ehemalige Burschen ausfindig zu machen und zu befragen, ob sie dieser zu irgendeinem Zeitpunkt zu sexuellen Handlungen aufgefordert habe. Der Fahrer des Generals ebenso wie dessen Haushälterin wurden von den Beamten tagelang festgesetzt und einem eingehenden Verhör unterzogen. Weiterhin spürte man zwei ehemalige Hitlerjungen auf, denen Fritsch vor geraumer Zeit einen freien Mittagstisch in seinem Haus angeboten hatte. Kurzum: die Geheime Staatspolizei setzte alles daran, die Vorwürfe gegen den General, homosexuell veranlagt zu sein und diese Veranlagung auch ausgelebt zu haben, durch die Beschaffung von Zeugen zu untermauern.

Wie sich zeigte, war der inoffiziell bereits zurückgetretene Oberbefehlshaber des Heeres dem Druck nicht gewachsen, der auf ihm lastete. Irgendwo zwischen den skandalösen Anschuldigungen, den wiederholten erniedrigenden Befragungen durch die Gestapo sowie der Infragestellung seiner Ehre und der damit verbundenen persönlichen Kränkung durch den Führer brach er innerlich zusammen.

Hans Oster bekam nach einem gemeinsamen Telefongespräch einen derart furchtbaren Eindruck vom Gemütszustand des Generals, dass er schon fürchtete, dieser könne sich etwas antun. Da er selbst verhindert war, sah sich Oster daher genötigt, seinen Mitarbeiter und Vertrauten Friedrich Heinz zu ihm schicken, um den General von etwaigen nicht wiedergutzumachenden Schritten abzuhalten. Heinz erreichte die Wohnung des Generals rechtzeitig und unternahm einmal mehr den Versuch, ihm in Osters Sinne ins Gewissen zu reden.

Trotz allen Zuredens war Fritsch nicht mehr von seinem Entschluss abzubringen und reichte am 3. Februar sein schriftliches Rücktrittsgesuch ein.

Viele, die dank Hans Oster überhaupt erst von den Vorgängen im Oberkommando erfahren hatten, hielten das Einlenken des Generals ebenfalls für einen großen Fehler. Ohne Fritschs herausgehobene Stellung innerhalb des Heeres war alles, das dieser noch besaß und zu seiner Verteidigung in die Waagschale werfen konnte, sein persönliches Ansehen. Dieses erwies sich zwar trotz der laut gewordenen Vorwürfe in Wahrheit als unangetastet, denn innerhalb der Wehrmacht glaubte niemand ernsthaft daran, der Oberbefehlshaber könnte sich unsittlicher Handlungen schuldig gemacht haben. Dennoch war es ein großer Nachteil, dass Fritsch seine Stellung, immerhin eine der mächtigsten Positionen innerhalb des Staatsapparates überhaupt, einfach kampflos aufgab.

Natürlich war es einfach, Fritsch dafür zu kritisieren. Wer sich nicht selbst in einer umwälzenden und geradezu dramatischen persönlichen Situation wiederfindet, dem fällt nichts leichter als über andere ein nüchternes und logisch begründetes Urteil zu fällen und die Handlungen des Betroffenen in Frage zu stellen. Nur allzu leichtfertig lässt man dabei außer Acht, was fernab von Logik und rationalem Denken nicht weniger das menschliche Wesen auszeichnet: ein komplexes Gefühlsleben. Ein Mensch nun, der sein Leben lang nichts anderes Soldat gewesen ist, der in den preußischen Tugenden von Ehrhaftigkeit und Treue erzogen worden war, der für sein Land sein Leben riskiert und im großen Krieg eine schwere Verwundung davongetragen hatte, dem die Wohlfahrt seiner Heimat alles bedeutete, einen solchen Menschen konnte es unmöglich unbeschadet lassen, wenn ihm diese Treue und Ehrhaftigkeit nicht auf die gleiche Weise vergolten wurde. Daher bestand die einzige Möglichkeit für einen Mann, der seine persönliche Ehre durch den eigenen Dienstherrn befleckt sah, dessen Dienste man mit einer wegwerfenden Geste kurzerhand für obsolet erklärt hatte, darin, seinen Posten zu räumen.

Bestärkt durch General Beck und Oberstleutnant Oster blieb der Geprellte nur in einem Punkt unnachgiebig, denn er beharrte auch weiterhin auf der Verhandlung seines Falles vor einem Kriegsgericht. Hitler lehnte das erneut ab mit der Begründung, allein das Aufkommen derartiger Gerüchte mache einen Oberbefehlshaber unhaltbar, woran auch ein offizielles Verfahren nichts ändern könne. Erst nachdem sich die Generäle Rundstedt und Brauchitsch ebenfalls für ein Kriegsgericht ausgesprochen hatten, kam der Diktator dieser Forderung schließlich zähneknirschend nach. Schon allein dieser Umstand war Beweis genug, dass Hitler auch nach fünf Jahren an der Macht noch keineswegs unverrückbar fest im Sattel saß. Durch eine Einigkeit der Offiziere war es durchaus möglich, ihn in seinem Kurs zu beeinflussen. Auch die Spitze des NS-Regimes musste das erkennen – und war fest entschlossen, diese Achillesferse so schnell wie möglich auszumerzen.

Nur zwei Tage nach Fritschs Rücktrittserklärung gab Hitler daher vor dem Reichskabinett einschneidende personelle Veränderungen bekannt. Neben Blomberg und Fritsch wurden vierzehn weitere Generäle, außerdem Außenminister Neurath sowie mehrere Botschafter in den Ruhestand verabschiedet. Daneben ordnete man die Karten neu, indem man sechsundvierzig Generäle auf teils bedeutungslose Posten versetzte und gegen regimetreue Hardliner austauschte. Gleichzeitig erklärte der Diktator, dass er ab sofort selbst die Rolle des Kriegsministers übernehmen werde, weshalb eine Neubesetzung des Ministeramtes hinfällig sei. Mit diesen Maßnahmen verfolgte man ein Doppelziel: Einerseits nutzte man die Affäre um die Generäle Blomberg und Fritsch aus, um sich anderer unbequemer Persönlichkeiten zu entledigen; zum anderen sollte gerade die »Blomberg-Fritsch-Affäre«, wie sie später genannt werden sollte, durch ein großes Personalrevirement kaschiert und vertuscht werden. Letzteres gelang allerdings nur ungenügend. Selbst die niedersten militärischen Ränge bekamen bald Wind von der Affäre.

***

Während Hans Oster und andere entgegen dessen ausdrücklichen Wunsch unermüdlich an Fritschs Entlastung arbeiteten und Admiral Canaris in diesem Zusammenhang sogar bei Hermann Göring persönlich vorstellig wurde, betrat eine weitere Figur die Bühne der Ereignisse. Der aus Schlesien stammende General Erwin von Witzleben erfuhr durch in der Armee kursierende Gerüchte von den Hintergründen, die zum Rücktritt des Oberbefehlshabers geführt hatten. Es fiel ihm nicht schwer, aus diesen Gerüchten Gewissheiten werden zu lassen, denn Witzleben war sowohl mit Oster als auch mit Beck schon seit den 20er Jahren bekannt, Fritsch selbst hatte er noch während des Krieges kennen und schätzen gelernt. Vornehmlich Hans Oster aber war es, der den General ins Vertrauen zog und detailliert über die denkwürdigen Vorgänge unterrichtete. Schon bei früheren Gelegenheiten hatte keiner der beiden gegenüber dem anderen einen Hehl daraus gemacht, was er von den nationalsozialistischen Ideen hielt. Nun wurden die Gleichgesinnten vom Lauf der Ereignisse erneut zusammengebracht. So wie beinahe jeder Heeresoffizier zeigte sich Witzleben empört über die Behandlung, die man Fritsch angedeihen ließ. Was ihn jedoch von der Mehrheit seiner Kameraden unterschied, war die Entschlossenheit, die aus seiner Wut gegen die Nationalsozialisten erwuchs.

Das war nicht immer so gewesen, denn auch Witzleben hatte sich nach 1933 dem neuen Regime gegenüber zunächst aufgeschlossen gezeigt. Vor allem das überparteiliche Auftreten und die nationale Idee, für die die NSDAP stand, hatte er damals begrüßt und als Fortschritt gegenüber dem oft von selbstsüchtigen Bestrebungen gekennzeichneten Parteiengeplänkel der Weimarer Zeit wahrgenommen. Adolf Hitler hingegen empfand er zwar schon von Beginn an als plump und ungebildet, auch beunruhigte ihn das zunehmend kriminelle Auftreten der Partei. Doch redete er sich ein, dabei handle es sich lediglich um vorübergehende Erscheinungen einer noch jungen und unerfahrenen politischen Strömung. Einer Zäsur glich für Witzleben letztlich der sogenannte Röhm-Putsch, im Zuge dessen im gesamten Reichsgebiet zahlreiche Morde begangen wurden. Das brutale Vorgehen der Partei schockierte den General zutiefst. Dieses Schockerlebnis nahm er zum Anlass, sich der nicht unerheblichen Mühe zu unterziehen, Hitlers Buch »Mein Kampf« zu lesen, um sich über die wirklichen Ziele der Nazis Klarheit zu verschaffen. Sein Bestreben sollte nicht enttäuscht werden. Der Autor des Machwerkes nahm darin kein Blatt vor den Mund, erklärte offen seine mittel- bis langfristigen Ziele, und offenbarte die radikale wie rücksichtlose Natur seines Charakters. Dies war der Punkt gewesen, von dem an Witzleben der Diktatur mit wachsender Kritik gegenüberstanden hatte. Und seine Besorgnis wuchs noch, denn zunehmend wurde deutlich, dass es sich bei dem, was Hitler schriftlich niedergelegt hatte, nicht nur um einen losen politischen Leitfaden handelte.

Witzleben hegte mittlerweile keinen Zweifel daran, wohin der Weg führte, Hitler selbst hatte ihn unmissverständlich in seinem Manifest vorgezeichnet. Besonders besorgniserregend erschien dabei die Vorstellung vom sogenannten »Lebensraum im Osten«, die Witzleben als einen der Eckpfeiler der nationalsozialistischen Ideologie erkannt hatte. Niemand konnte sich einer Illusion darüber hingeben, dass diese fixe Idee über kurz oder lang zu einem neuen europäischen Krieg führen musste, vielleicht sogar zu einem zweiten Weltkrieg. Das war nach Witzlebens Ansicht auch der Grund, weshalb das Regime keine Kritiker oder Nebenbuhler duldete, denn zur Durchsetzung seiner aberwitzigen Ziele benötigte es die unumschränkte Herrschaft über das Land. Und das Militär war der einzige Faktor im Reich, der sich diesen Zielen noch in den Weg stellen konnte, ein Faktor, der nun offenbar Stück für Stück ausgeschaltet werden sollte. Blomberg und Fritsch waren nur der Anfang.

Der selbstproklamierte Führer, der nicht nur als bloße Galionsfigur fungierte, sondern Herz und Seele der Partei verkörperte, ja ohne den die Partei nichts als ein kopfloser, lebensunfähiger Körper wäre, ließ sich längst nur noch auf einem Wege von seinem absolutistischen Thron stoßen, nämlich durch Gewalt. Es war General Witzleben nicht leichtgefallen, sich zu dieser radikalen Erkenntnis durchzuringen, doch mittlerweile war er sich sicher, dass es keine andere Möglichkeit gab. Zu tiefgreifend waren die von der Partei Stück für Stück durchgesetzten Veränderungen, um einen Machtwechsel noch auf legalem Wege herbeizuführen. Das Volk war seiner Stimme beraubt worden, es war machtlos, nur die Armee besaß noch die Mittel, etwas zu bewirken. Wie es der Zufall wollte, verfügte ausgerechnet Witzleben über das vielleicht entscheidende Ass im Ärmel. Denn was ihn als Kommandeur des Wehrkreises III von allen anderen Befehlshabern des Heeres unterschied, war der Umstand, dass ihm der wohl wichtigste militärische Bezirk des gesamten Reiches unterstellt war: Berlin.

Die erste Frage, die er sich stellen musste, war, wie er die ihm zur Verfügung stehenden Truppen optimal einsetzen konnte. Ein Umsturz bot nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es gelingen würde, Hitler – und idealerweise gleich die gesamte Führungsetage mit ihm – festzunehmen und im selben Zug wichtige Regierungsgebäude zu besetzen. Die gesamte Operation müsste zudem innerhalb weniger Stunden zu einem erfolgreichen Abschluss kommen, damit den Nazis keine Zeit bliebe, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Panzer wären ein unverzichtbares Werkzeug, um in den weitläufigen Straßen der Reichshauptstadt die Oberhand zu gewinnen und die Kontrolle anschließend auch zu behalten. Neben einer sorgfältigen Planung wären Überraschung und Schnelligkeit die beiden Faktoren, die den Ausschlag geben würden.

Aber es bestand noch eine weitere, viel größere Schwierigkeit als die rein technische Umsetzung eines solchen Planes. Wie nämlich konnte ein Vorgehen gegen die eigene Regierung den Soldaten gegenüber gerechtfertigt, wie sie von der Notwendigkeit dieser Maßnahmen überzeugen werden? Was war nötig, um sicherzustellen, dass diesbezügliche Befehle auch befolgt wurden? Witzleben war sich bewusst, dass bei weitem nicht alle Offiziere dieselben Schlüsse ziehen würden wie er. Das NS-Regime besaß in der Truppe großen Rückhalt, ganz besonders unter den jüngeren Offizieren fanden sich zahlreiche begeisterte Anhänger. Die Partei war jung, die nationalsozialistische Bewegung war jung, beides hatte ein heftig loderndes Feuer der Begeisterung entfacht, das nicht einfach zu löschen sein würde. Die nicht mehr länger auf Staat und Verfassung, sondern auf die Person des Führers abgestellte Eidesformel der Wehrmacht würde das Vorhaben sicher nicht leichter gestalten. Eine Aufforderung, diesen Treueeid zu brechen, musste bei jedem einzelnen Soldaten zwangsläufig eine schwere Gewissenskrise auslösen.

Hervorgerufen durch die Affäre um den Oberbefehlshaber Fritsch, beherrschten solcherlei Überlegungen General Erwin von Witzlebens Gedanken. Der Sechsundfünfzigjährige wurde derart von seiner Grübelei in Beschlag genommen, dass er darüber sogar eine seit längerem anstehende, dringend notwendige Magenoperation vor sich herschob. Noch in den Schützengräben des Weltkrieges hatten seine diesbezüglichen Beschwerden ihren Anfang genommen, in den vergangenen zwanzig Jahren waren sie stetig schlimmer geworden. Zuletzt, tatsächlich sogar bis vor wenigen Tagen, hatte er die Schmerzen kaum mehr ertragen können und war für mehrere Wochen ans Bett gefesselt gewesen. Die Ärzte rieten ihm ohne weitere Verzögerung zu einer Operation, seine Leben könne davon abhängen. Doch gerade jetzt wollte er sich keinesfalls in ein Krankenhaus begeben, konnte sich die aktuelle Krise doch jederzeit zuspitzen und Anlass zu sofortigem Handeln liefern. Witzleben musste unbedingt bereit sein, die Zügel zu ergreifen, sobald der richtige Augenblick gekommen war.

Noch während sich der General über diese Fragen den Kopf zerbrach und dadurch seinen Magen nur umso mehr in Mitleidenschaft zog, meldeten sich zwei Offiziere im Hauptquartier des Generalkommandos in der Berliner Kurfürstenstraße. Hauptmann Henning von Tresckow und Leutnant Wolf Graf von Baudissin vom 9. Infanterieregiment in Potsdam suchten den Kommandeur des Wehrkreises III auf und ersuchten ihn um Rat. Witzleben kannte die Männer gut und genoss ihr vollstes Vertrauen. So war es denn auch nicht verwunderlich, dass sie ungeschönt aussprachen, was ihre Gemüter bewegte.

Die Gerüchte um den Oberbefehlshaber Fritsch seien auch ihnen zu Ohren gekommen, eröffnete Hauptmann Tresckow. Es sei skandalös, wie mit dem OB umgesprungen werde, zugleich empfänden sie beide es als ernüchternd, wie wenig Unterstützung Fritsch aus den eigenen Reihen zuteilwurde. Der Vorfall offenbare daher nicht nur die Respektlosigkeit, die einige Regierungsvertreter der Wehrmacht entgegenbrachten, er zeige auch, wie zerrüttet der Zusammenhalt innerhalb der Armee bereits sei. Baudissin und er seien daher entschlossen, mit gutem Beispiel voran zu gehen, ein Zeichen zu setzen und aus Protest ihren Dienst zu quittieren. Bevor sie jedoch ihr Vorhaben in die Tat umsetzten, wollten sie den General um Rat fragen, ob er solches für gut und sinnvoll hielte. Vielleicht sehe er auch eine andere Möglichkeit, wie man sich unterstützend für den OB einsetzen könne.

Witzleben saß die ganze Zeit über an seinem Schreibtisch, hörte ruhig zu und vermied es sorgsam, Tresckow zu unterbrechen. Nachdenklich besah er sich die zwei vor ihm stehenden Offiziere, und während er darüber grübelte, welchen Rat er ihnen erteilen sollte, fasste er zugleich neuen Mut. Vielleicht fand sich hier die Lösung des Problems. Vielleicht musste er innerhalb der ihm unterstellten Einheiten lediglich genügend kritische Offiziere wie diese beiden ausfindig machen und ins Vertrauen ziehen, um sein Vorhaben im entscheidenden Moment ins Rollen zu bringen. Sofern eine ausreichend hohe Zahl der Männer mitspielte, würde möglicherweise die Schwerkraft der Befehlsordnung allein ausreichen, um die Kontrolle über die Truppe zu wahren. Witzleben beschloss daher, das in ihn gesetzte Vertrauen zurückzugeben. Schließlich fragte er Hauptmann Tresckow und Leutnant Baudissin geradeheraus, ob sie auch weiterhin entschlossen seien, Widerstand zu leisten, wo immer die Umstände dies erforderten.

Beide beantworteten diese Frage ohne zu zögern mit »ja«.

Sodann forderte der General die Offiziere schlicht und ergreifend auf, weiterhin Soldaten zu bleiben. Damit löste er zwar nicht die Problematik der Gewissensfrage, aber er machte deutlich, dass durch einen Rücktritt nichts zu erreichen sei. Das habe schon Fritsch mit seinem übereilten Schritt am eigenen Leib erfahren müssen, wie er betonte. Witzleben entließ die Männer mit der Versicherung, sobald die Zeit reif sei, werde er auf ihre Unterstützung angewiesen sein.

Wenige Tage nach dieser Unterredung verabredeten sich General Witzleben und Oberstleutnant Oster mit dem Polizeivizepräsident von Berlin, dem Grafen Fritz-Dietlof von der Schulenburg. Zunächst zeigte sich Witzleben Osters Vorschlag gegenüber skeptisch, denn er kannte Schulenburgs Vater bereits aus dem Krieg und es war gemeinhin bekannt, dass es sich bei diesem um einen glühenden Nationalsozialisten handelte. Der Sohn jedoch, und dafür verbürgte sich Hans Oster, sei von gänzlich anderem Schlag und unbedingt vertrauenswürdig.

Die Berliner Polizei wäre ein Verbündeter von unschätzbarem Wert, so Osters Kalkül, sollte man die Kontrolle über der Reichshauptstadt wirklich übernehmen wollen. Immerhin müsste sodann eine ganze Anzahl an staatlichen Einrichtungen, Ämtern und Behörden besetzt und geschützt werden – Aufgaben also, bei denen die Polizei eine willkommene Hilfe wäre. Schulenburg war zwar nicht der erste Mann in der Rangordnung der Berliner Polizei, doch erstens durfte man durch ihn auf aufschlussreiche Informationen hoffen, wie eben jener Mann an der Spitze einer Konspiration gegenüberstand. Zweitens wäre es interessant zu erfahren, welche Maßnahmen für ein erfolgreiches Unternehmen von Seiten eines in polizeilichen Angelegenheiten Versierten als unbedingt erforderlich angesehen wurden.

Zunächst war Oster nicht wenig überrascht darüber gewesen, wie weit Witzleben offenbar tatsächlich zu gehen bereit war. Zwar wusste er längst, dass der General kein Freund des Regimes war, auch zeigte der sich schon nach wenig Überzeugungsarbeit überraschend aufgeschlossen gegenüber Osters Vorschlag, den Polizeivizepräsidenten miteinzubeziehen. Das alles waren aber bislang nicht viel mehr als theoretische Überlegungen unter vier Augen gewesen. Zu hören, wie Witzleben an Schulenburg die Frage richtete, ob dieser einen etwaigen Putsch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen würde, war dann aber doch etwas ganz anderes, als lediglich unter vorgehaltener Hand Kritik zu äußern oder sich irgendwelchen Umsturzphantasien hinzugeben. Als er nun also den hageren General mit der Adlernase und dem weit zurückgewichenen Haaransatz betrachtete, stieg in ihm die Hoffnung auf, in Erwin von Witzleben einen Truppenkommandeur gefunden zu haben, der tatsächlich bereit war, etwas zu unternehmen. Es fragte sich nur, was nötig wäre, ihn zum letzten Schritt zu veranlassen, ihn gewissermaßen über die Schwelle zu schupsen, die fraglos noch irgendwo im Verborgenen lauerte. Die aktuelle Krise um die beiden höchsten Führungspersonen der Wehrmacht bot ihre Möglichkeiten, wenn man die Karten vorteilhaft auszuspielen verstand und die richtigen Männer zusammenbrachte. Witzleben und Schulenburg waren ein vielversprechender Anfang.

Letzterer bestätigte denn auch ohne Umschweife, dass er ein militärisches Vorgehen gegen das nationalsozialistische Regime befürwortete. Problematisch sehe er allerdings die angestrebte Zusammenarbeit mit der Berliner Polizei, für die er als Vizepräsident nicht garantieren könne. Zum einen genieße die Partei auch unter den Beamten große Unterstützung, zum anderen sei mehr als fraglich, inwieweit man auf Polizeipräsident Helldorff zählen könne. Ihm sei zwar bekannt, dass der mittlerweile seine eigenen Vorbehalte gegen die Diktatur hege. Helldorff sei aber unter den Polizeibeamten nicht sonderlich beliebt und gerade deshalb könne niemand mit Gewissheit voraussagen, ob jene dessen Anweisungen im Falle eines Falles auch wirklich Folge leisten würden.

Helldorff – ja, das war ein Fall für sich, wie Oster wusste. Ein schmierigerer und widersprüchlicherer Charakter war ihm selten begegnet. Es war kein Geheimnis, dass es sich bei dem Polizeipräsidenten um einen Nazi der ersten Stunde und zudem um einen Judenhasser durch und durch handelte. Gemeinhin bekannt waren außerdem dessen Spielsucht und sein jugendlich-unbekümmerter Umgang mit Geld, wodurch es ihm letztlich gelungen war, das stattliche Familienerbe in Rekordzeit zu verjubeln. Zu den delikateren Aspekten von Helldorffs Persönlichkeiten zählte das Gerücht, er sei einem jüdischen Wahrsager hörig, der ihm regelmäßig die Zukunft voraussagte und sich dafür fürstlich entlohnen ließ. Ein Antisemit und ein Jude mit einer Glaskugel – was für ein ungewöhnliches Paar!

Aber Schulenburg offenbarte noch einen weiteren Punkt, den man nicht außer Acht lassen durfte. Seiner Aussage zufolge war es nämlich ausgerechnet Helldorff gewesen, der Hermann Göring Wochen zuvor eine gewisse Polizeiakte zugespielt hatte: jene Akte, die Blombergs Ehefrau als Prostituierte führte und letztlich den Rücktritt des Kriegsministers zur Folge haben sollte. Helldorff war also jemand, auf den nicht nur kein Verlass war, offenbar spielte er zudem ein doppeltes Spiel. Ernüchtert stellte Hans Oster fest, dass man dem Polizeipräsidenten keinesfalls vertrauen durfte und die Berliner Polizei daher nur sehr begrenzt in die Planungen miteinbeziehen konnte.

Witzleben ließ sich davon nicht entmutigen. Die Polizei wäre eine große Hilfe gewesen, soviel stand auch für ihn außer Frage. Hinsichtlich der zahlenmäßigen Stärke wie auch der Schlagkraft war die Polizei aber nicht mit dem Militär zu vergleichen. Den Divisionen und Regimentern unter Witzlebens Kommando würde ohnehin der Hauptteil der Aufgaben zufallen, nun musste man eben zusehen, die zur Verfügung stehenden Kräfte so effizient wie möglich einzusetzen. Wie sich dabei diese Kräfte zusammensetzten, das wusste nicht einmal Witzleben genau und musste unbedingt in Erfahrung gebracht werden. Daher konnte der nächste Schritt nur darin bestehen, sich der Loyalität gleichgesinnter Truppenkommandeure im Kompetenzbereich von Witzlebens Wehrkreis zu vergewissern. Und bei wem es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Gleichgesinnten handelte, davon hatte Erwin von Witzleben eine ziemlich genaue Vorstellung.

Denn bei der Alten Garde noch aktiver Offiziere aus Reichswehrzeiten, also aus der Ära Weimar, als die Armee personell wie auch waffentechnisch noch den strengen Restriktionen des Versailler Vertrags unterworfen war, handelte es sich um eine relativ kleine, größtenteils gemeinsamen Wertvorstellungen anhängende Gemeinschaft von Soldaten im mittleren bis fortgeschrittenen Alter. In aller Regel kannte man sich persönlich, hatte nicht selten sogar zusammen im Krieg gedient und wusste daher genau, mit wem man es zu tun hatte.

Kurz darauf stattete der General daher dem 50. Infanterieregiment in Landsberg an der Warthe einen Besuch ab. Der nur gut hundertfünfzig Kilometer von Berlin entfernten Garnisonsstadt würde schon allein aufgrund ihrer Nähe zum Regierungssitz eine entscheidende Rolle zukommen. Wie erhofft erklärte sich denn auch der Kommandeur des IR 50, Oberst Paul von Hase, sofort bereit, sein Regiment nach Westen zu führen, sobald Witzleben den entsprechenden Befehl dazu erteilen würde. Das war ein wichtiger Erfolg, aber bei weitem noch nicht genug. Ein einzelnes Regiment mit einer Stärke von etwa dreitausend Mann würde in einer Millionenstadt wie Berlin nicht sonderlich viel ausrichten können. Zudem verfügte die Einheit über keine gepanzerten Fahrzeuge, wie Witzleben sie für eine effektive Besetzung der Hauptstadt für unabdingbar hielt. Seine Suche nach weiteren regimekritischen Truppenkommandeuren im Einzugsbereich der Reichshauptstadt, die bereit waren, sich ihm anzuschließen, hatte daher gerade erst begonnen.

Als er schon zu neuer Höchstform auflaufen wollte, wurde Witzleben in seinem Treiben jäh unterbrochen. Nicht ein äußerer Feind war es, der etwa sein verräterisches Vorhaben durchschaut hatte und ihm unversehens in die Quere kam, sondern sein eigener Körper. Witzlebens Magen zeigte sich von den kürzlich auftretenden hektischen Aktivitäten nicht allzu begeistert und schickte sich an, ein entscheidendes Wörtchen mitzureden. Die altbekannten Schmerzen meldeten sich mit Macht zurück, der Gesundheitszustand des Generals verschlechterte sich zusehends.

Die Clique der Ehrlosen

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