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ОглавлениеDas Schlimmste, das Johannes Baldauf jemals erlebt hatte, war der Christopher Street Day vor zwei Jahren in Berlin. Er war kurz zuvor mit seiner Frau und seinem heranwachsenden Sohn in die Hauptstadt gezogen. Das Sanitärunternehmen, für das Baldauf fast zwei Jahrzehnte im ostwestfälischen Oelde gearbeitet hatte, war von der internationalen Konkurrenz geschluckt worden. Fast die Hälfte der 250 Angestellten stand auf der Straße. Baldauf hatte das große Glück gehabt, als einer der Ersten gefragt worden zu sein, mit nach Berlin zu kommen, wo der neue Eigentümer seinen Stammsitz hatte. Wobei das mit dem Glück so eine Sache war. Johannes Baldauf fielen Veränderungen schwer. Er war in seinem fast fünfzig Jahre langen Leben nie gerne gereist und auch nur einmal über die deutsche Landesgrenze hinausgekommen. Kurz nach dem Mauerfall hatte er mit zwei Freunden eine dreiwöchige Reise nach Budapest gemacht. Noch heute erzählte er bei jedem Anlass, wie unfassbar günstig Speisen und Getränke damals in der ungarischen Hauptstadt waren und wie sehr sich die Zeiten und Sitten seither geändert hätten. Die wenigen Freunde, die Baldauf und seine Frau Martina noch besuchten, waren aus der alten Heimat Westfalen. In Berlin hatten die Baldaufs keine engen Kontakte knüpfen können. Oder wollen. Der Besuch des Christopher Street Days machte Johannes Baldauf diese Stadt noch suspekter als zuvor.
„Überall Multikulti, jeder scheint hier mit jedem zu vögeln“, sagte er und verzog dabei angewidert sein Gesicht, während sein Sohn Frank dem bunten Treiben des CSD aufmerksam folgte. Ein Transvestit auf Plateausohlen näherte sich Frank mit riesigen Schritten und blieb unmittelbar vor ihm stehen. Franks Gesicht steckte plötzlich in einem künstlichen Dekolleté, er wurde von zwei kräftigen Armen gepackt und hochgehoben. Der Kuss, den er bekam, war ein überaus intimer.
In diesem Augenblick brannten bei Johannes Baldauf alle Sicherungen durch. Das wilde Kriegsgeschrei, das er anstimmte, ließ die umstehenden Besucher des CSD wie auf Kommando herumfahren. Sie sahen einen völlig entfesselten Mann, der erst einen Mülleimer aus seiner Verankerung riss, um dann mit demselben auf den Transvestiten und seinen bedauernswerten Sohn einzuschlagen. Körperlich eigentlich hoffnungslos unterlegen, war es die unbändige Wut, die Johannes Baldauf an diesem Tag um ein Haar zu einem Mörder werden ließ. Zwei der unzähligen Schläge hatten den Transvestiten schwer am Kopf getroffen, sodass dieser erst taumelte und dann zu Boden sank. Frank Baldauf lag blutüberströmt auf dem Bürgersteig und hielt schützend die Hände vor sein Gesicht. Wären dem Transvestiten nicht zwei couragierte CSD-Besucher zur Hilfe geeilt, wer weiß, was noch alles geschehen wäre. Mit vereinten Kräften wurde Johannes Baldauf niedergerungen und so lange festgehalten, bis die Polizei vor Ort war und ihn in Gewahrsam nehmen konnte.
Tatsächlich musste man Baldauf bereits zwei Stunden später wieder laufen lassen, weil der Transvestit im allgemeinen Chaos verschwunden war und sein Sohn vor lauter Angst keine Aussage machen wollte. Die Zeugen, die Baldauf schlussendlich überwältigt hatten, sagten lediglich aus, dass der Transvestit und Baldauf offenbar in eine Schlägerei verwickelt waren und sich die Verletzungen vermutlich daraus ergeben hätten. Baldauf selbst hatte auf Notwehr abgestellt und zudem betont, dass er seinen Sohn in Gefahr sah. Zu Hause angekommen, nahm Baldauf sich Frank noch mal vor.
„Um deinen Vater zu verteidigen, machst du dein Maul wohl nicht auf? Aber wehe, es kommt so eine Tucke daher und will dir ihre Zunge bis zum Anschlag in den Hals stecken! Das scheint genau dein Ding zu sein, richtig? Ich weiß nicht, was bei dir schiefgelaufen ist, aber ich komme mehr und mehr zu dem Entschluss, dass es damals eine Fehlentscheidung war, dich nicht abzutreiben. Hätte ich mich mal durchgesetzt.“
Frank Baldauf schnappte nach Luft und sah seinen Vater ungläubig an.
„Ja, du hast schon richtig gehört. Du warst ein Unfall. Eigentlich hättest du von einer Gummiwand abprallen und dann im Müll landen sollen. Das Scheißding ist aber geplatzt und wir hatten den Salat. Na ja, kein Wunder, dass du dich nun in eine solche Richtung entwickelt hast.“ Baldauf zog seine Spucke hoch und spie Frank vor die Füße. „Von heute an bist du nicht länger mein Sohn. Geh deinen Weg, lass dich meinetwegen von jedem Dahergelaufenen begrapschen. Ist mir ab sofort wurscht. Was deine Mutter daraus macht, geht mir ebenfalls am Arsch vorbei.“
Martina Baldauf arbeitete seit knapp sechs Monaten in einem Berliner Kinderkrankenhaus. So gelang es ihr wenigstens während der Schichten, dem täglichen Wahnsinn, der sich zu Hause abspielte, zu entfliehen. Sie hasste ihren Mann. Mit jedem Tag wurde es schlimmer. Viel länger würde sie es mit ihm nicht aushalten. Frank war nun alt genug und konnte auf eigenen Beinen stehen. Zur Not würde sie eine Zeit lang mit ihrem Sohn zusammenleben. Irgendwo weit weg von diesem Scheusal. Warum wurden solche Menschen niemals zur Rechenschaft gezogen?
Als Alexej Sobukov Monate später die Wohnungsklingel der Familie Baldauf betätigte, hatte Martina Baldauf Frühschicht.