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„Es gibt vermutlich nichts Schlimmeres für einen Jungen als das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Wenn dein Vater dich spüren lässt, dass du für ihn ein Versager bist, ist es so, als würde jemand den Stecker bei dir ziehen.“

Johannes Baldauf wachte langsam auf. Die Betäubung ließ ihn nur ganz allmählich das wahrnehmen, was um ihn herum passierte. Sein Nacken schmerzte höllisch, was offenbar daran lag, dass er rücklings auf dem Ehebett lag und sein Kopf am Fußende des Bettes herabhing. Seine Erinnerungen an die letzten Stunden waren mehr oder minder ausgelöscht. Jemand hatte an der Wohnungstür geklingelt. Das war’s, was Baldauf noch wusste.

Die Schmerzen hielten ihn nur für eine kurze Zeit davon ab, den Kopf zu heben. Schließlich wollte er wissen, woher die Stimme kam. Vor allem aber musste er möglichst schnell herausfinden, warum Kopf und Hals die einzigen Teile seines Körpers waren, die er spürte.

Musik erklang. Jemand hatte wohl das Radio eingeschaltet, das im Flur auf der Anrichte stand. Es lief derselbe Sender, den seine Frau immer hörte, wenn sie von der Arbeit kam und entspannen wollte. Deutsche Schlager hatten es Martina Baldauf angetan. Ihre Helden waren Karel Gott, Howard Carpendale und Roland Kaiser. Ihren Hochzeitstanz hatten Johannes und Martina Baldauf zu Ti Amo hingelegt. Baldauf hatte mit Schlagern selbst nichts am Hut, kannte aber durch Martinas Faible fast jeden Song aus dem Effeff.

Rocky von Frank Farian war einer der vielen Schlagerklassiker, die er abgrundtief verabscheute. Warum lief dieser Schund ausgerechnet jetzt? Baldauf wollte protestierend die Hand heben, musste aber sogleich feststellen, dass sie ihm nicht gehorchte, sondern schlaff auf dem Bett liegen blieb.

„Sie sagte: Rocky, ich hab noch nie ein Kind bekommen. Ich will es dir gern geben!“

Irgendjemand sang den Refrain mehr schlecht als recht mit. Ein scheußlicher osteuropäischer Akzent kam hinzu. ‚So muss es klingen, wenn Klitschko singt‘, dachte er.

Baldauf drehte seinen Kopf in alle Richtungen, konnte aber niemanden sehen.

„Ich sagte: Kopf hoch, Baby, lehn dich an mich. Es wird schon irgendwie gehen!“

Ein Mann tanzte durch den Flur und spielte dabei Luftgitarre.

„Sie sagte: Rocky, ich habe solche Angst zu sterben. Ich weiß nicht, was da noch kommt!“ Bei diesem Satz tanzte er ins Schlafzimmer und kniete sich hinter Baldaufs Kopf auf den Teppich.

„Niemand weiß, was da noch kommt, oder?“

Panik erfasste Johannes Baldauf. Über ihm schwebte bedrohlich das irre Gesicht eines Mannes, den er noch nie zuvor gesehen hatte und der ihm offenbar mithilfe eines Schlagertextes etwas Wichtiges mitteilen wollte.

„Was wollen Sie?“, krächzte Baldauf, „Was haben Sie mit mir gemacht? Ich spüre meinen Körper nicht mehr.“

Das Gesicht näherte sich Baldauf bis auf wenige Milli­meter.

„Gibt es einen neuen Morgen in einer anderen Welt?“

Alexej Sobukov griff hinter sich und zog einen schwarzen Koffer zu sich heran. Baldauf erkannte aus den Augenwinkeln, dass es sich dabei um einen Arztkoffer handelte.

„Was soll das werden? Machen Sie mich sofort los oder ich …!“

Sobukov stand abrupt auf und tanzte zu den letzten Takten von Rocky. Mit einer eleganten Drehung landete er wieder auf dem Teppichboden, diesmal jedoch fixierten beide Knie Baldaufs Kopf. Triumphierend hob er die linke Hand.

„Oder du wirst was? Jungchen, du hast keine Ahnung, mit wem du’s hier zu tun hast. Ist aber auch überhaupt nicht kriegsentscheidend. Möchtest du eigentlich gar nicht wissen, warum ich mir ausgerechnet dich ausgesucht habe?“

Baldauf versuchte zu nicken, schaffte es aber nicht.

„Ich werde es dir erklären. Aber zuerst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen.“

Baldauf hatte keinerlei Optionen. Er lag da und konnte nur hoffen, dass dieser Irre ihn nicht töten würde. Und was zum Geier hatte der Typ da zwischen seinen Fingern? Sobukovs Hand schnellte vor und befestigte eine Wäscheklammer auf Baldaufs Nase. Verzweifelt versuchte er, weiterhin normal durch die Nase zu atmen, aber es gelang ihm nicht.

„Bitte den Mund jetzt ganz weit öffnen!“, säuselte Sobukov und griff in seinen Koffer. Mit einer winzigen LED-Taschenlampe leuchtete Sobukov in Baldaufs Mund.

„Ui, das sieht aber gar nicht gut aus. Bitte notieren Sie: Backenzahn unten rechts kariös, Extraktion unvermeidlich. Von Zahnpflege hast du die letzten Jahre nicht so viel gehalten, nicht wahr, Jungchen?“

Sobukov blickte sich um und schüttelte den Kopf.

„Na so etwas. Meine Assistentin hat wohl bereits ihre Mittagspause angetreten. Aber was soll’s: Den einen Zahn kann ich mir auch selber merken. Leider sind mir die Betäubungsmittel ausgegangen, aber ich denke, so ein kleines bisschen Zahnweh wirst du verkraften können. Oder, Jungchen?“

Baldauf wollte losschreien, heraus kam aber nur ein heiseres, gutturales Röcheln. Als Nächstes musste er den Kopf irgendwie aus der Umklammerung bekommen, um zu verhindern, dass der Wahnsinnige weiter in seinem Mund rumwerkeln konnte. Sobukov schaute sich die zwecklosen Versuche seines Opfers kurz an, um dann blitzschnell einen trockenen Handkantenschlag auf das Jochbein seines Opfers zu platzieren. Baldauf spürte, wie ihm der Schmerz die Sinne zu rauben drohte. Sobukov drehte seinen Kopf, als wollte er genau beobachten, wie lange es wohl dauern würde, bis sein Opfer vor Schmerzen losschreien würde. Aber Baldauf tat ihm diesen Gefallen nicht.

„Der Radiosender meint es heute besonders gut mit uns“, sprach Sobukov plötzlich mit heiterer Stimme. „Spitz deine Ohren doch mal, Jungchen, was sie gerade spielen.“

Baldauf hörte im Hintergrund den Refrain von Abschied ist ein scharfes Schwert und brach in hysterisches Lachen aus. Das alles musste ein schlechter Traum sein. Vermutlich würde er gleich daraus erwachen und bereits den frischen Kaffee aus der Küche riechen können, den ihm Martina, sofern sie nicht bei der Frühschicht war, jeden Morgen zubereitete. Ein weiterer kräftiger Schlag seines Peinigers ließ ihn abrupt verstummen.

„Jungchen, das ist genau dein Problem. Du hast einfach keinen Respekt. Weder vor der Kunst noch vor deinem Sohn. Und warum ist das so? Weil du schlichtweg ein dummer Mensch bist!“

Ehe sich Baldauf fragen konnte, was sein Sohn Frank mit alldem hier zu tun hatte, griff Sobukov erneut hinter sich und reckte nun beide Hände in die Luft.

„Du hast die Wahl: Bohrer oder Zange? Langsam oder schnell? Schmerzhaft oder sehr schmerzhaft? Hm, was meinst du?“

Nach einer kurzen Pause, in der Baldauf nur noch panisch die Augen aufreißen konnte, fuhr Sobukov fort.

„Oh, ich sehe schon: Du möchtest, dass ich das entscheide. Nun gut, wenn dem so ist, dann machen wir uns mal flott ans Werk!“

Das Geräusch des Bohrers mischte sich mit dem letzten Refrain, den Roger Whittaker mit samtweicher Stimme vortrug.

Totkehlchen

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