Читать книгу Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne - Thomas Mergel - Страница 14
1.1 Die griechische Polis
ОглавлениеEtwa seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. entstanden in der kleinräumlichen, küstennahen Landschaft Griechenlands poleis, Stadtstaaten, die sich zu Stadtrepubliken entwickelten. Sie stützten sich auf eine Schicht freier Bürger (polites), für die das Recht auf Mitbestimmung in der periodisch (in Athen bis zu vierzigmal im Jahr) tagenden Volksversammlung, auf die Besetzung von periodischen Wahlämtern und der Rechtsprechung mit der Pflicht zum Kriegsdienst einhergingen. Die wohlhabenden Bürger hatten sich finanziell oder mit Dienstleistungen an Gemeinschaftsaufgaben zu beteiligen. Für diese öffentliche Tätigkeit brauchten sie Zeit: Sie mussten abkömmlich sein, und das konnten sie nur, weil der Lebensunterhalt von Sklaven erwirtschaftet wurde: Die Bürgerfreiheit der Polis war die einer kleinen Minderheit. In unterschiedlichen Ausformungen, von denen uns die athenische Demokratie die bekannteste – allerdings auch die radikalste – ist, entwickelte die Polis eine „urbane Territorialstaatlichkeit“ (Stefan Breuer), die im Inneren relativ gewaltfrei war, weil der Wettbewerb um Macht rechtlich eingehegt war, man die Mitbewerber also nicht einfach totschlagen konnte; eine Staatlichkeit mit dauerhaften Formen der Entscheidungsfindung und der Administration sowie – das war ganz neu – einer Form der breiten Partizipation, die seit dem 5. Jahrhundert mit dem Begriff der Demokratie belegt wurde.3 Die Amtsinhaber agierten im Wesentlichen ehrenamtlich; die Spitzenpositionen wurden hauptsächlich durch Los (unter der Annahme, dass alle Bürger gleich und gleich befähigt seien), aber auch durch die Wahl besetzt.4 Sie mussten sich um dieses Amt bewerben, was eine gewaltfreie Form des Wettbewerbs und die rhetorische Ansprache an die Bürger, also den öffentlichen Diskurs über politische Fragen beförderte. Sie mussten sich für ihr Tun verantworten, bis dahin, dass sie von der Volksversammlung in die Verbannung geschickt wurden, wenn man der Ansicht war, sie hätten gegen ihre Pflichten verstoßen. Durch diese Formen der wettbewerblichen Politik gelang es, der Usurpation der Macht durch kleine oligarchische Eliten einen Riegel vorzuschieben: Während in anderen Gesellschaften einzelne und ihre Familien herrschten (und zwar meist gestützt auf nackte Gewalt), war es in der griechischen Polis die Schicht der bevorrechteten Stadtbürger, und deren Herrschaft wurde im Wesentlichen für legitim gehalten.
Die griechische Polis, die auch nach Kleinasien und Sizilien exportiert wurde, hat in der Rezeption und Mythenbildung der westlich-europäischen Tradition den Status einer „Zauberformel“ (Lundgreen) erhalten; demgemäß ist der Begriff kritisiert worden.5 Abgesehen von der Vielzahl von politischen Mitbestimmungsformen, die sich dahinter verbergen, ist häufig Athen, das in mancherlei Hinsicht wohl eher eine Ausnahme war, als pars pro toto für die Polis gesetzt worden. Darüber hinaus ist die oben gegebene Schilderung bei genauerer Beschreibung auch für Athen differenzierungswürdig. So etwa war die Grenze zwischen freien Vollbürgern und mit minderen Rechten ausgestatteten Einwohnern, gar den Sklaven nicht immer trennscharf. Unter Perikles etwa wurden 457 v. Chr. Diäten für die ärmeren Vollbürger eingeführt, damit sie an den politischen Veranstaltungen teilnehmen konnten, ohne sich um ihren Unterhalt zu sorgen. Die Bürger waren also nicht alle so wohlhabend, wie man sich das denken würde.
Dennoch ist festzuhalten, dass sich in den griechischen Städten erstmals eine neue Form der politischen Integration vollzogen hat, in den Worten Uwe Walters „sicher kein Moderner Staat, aber ebenso sicher ein sehr moderner Staat“.6 Mehr noch: Speziell in Athen haben sich Mitbestimmungsformen entwickelt, die zwar nur einer relativ kleinen Schicht von Bürgern zugutekamen, die aber als historische Vorbilder bis in die Moderne gewirkt haben. Allerdings funktionierte diese Form von Staatlichkeit auf der Basis von relativ kleinen Gesellschaften. Die Polis war eine face-to-face-Veranstaltung: Die Bürger kannten sich persönlich, wussten um ihre Bindungen und Traditionen und konnten somit eine Zusammengehörigkeit aufbauen, die auf persönlichen Beziehungen beruhte. Platon dachte sich sein Konzept eines „Idealstaats“ als eine kleine Gemeinschaft mit nicht mehr als 5040 Vollbürgern. Als aber im 5. Jahrhundert Athen über die eigentliche Stadt hinauswuchs und sich über ganz Attika ausdehnte, umfasste die athenische Polis vielleicht 30–40.000 Vollbürger – Platon hätte ihr die Funktionsfähigkeit abgesprochen.
Die griechische Polis und vor allem Athen hat nicht nur Institutionen hervorgebracht, die die moderne Staatlichkeit schon in nuce aufwiesen. Sie hat vor allem eine Selbstbeobachtung und Selbstreflexion entwickelt: Die ersten modernen Staatstheorien sind in der griechischen Polis entstanden.7 Besonders wichtig ist Aristoteles geworden, der in seiner „Politeia“ eine politische Philosophie entworfen hat, die zu einer normativen Grundlage moderner Staatlichkeit geworden ist. Er entwickelte die Lehre von den Staatsformen, die – vereinfacht – eine Abfolge der drei „guten“ Formen mit drei „schlechten“ Formen kennt, die jeweils aufeinander folgen. „Gut“ heißt: am Gemeinnutz orientiert; „schlecht“: es geht um den Eigennutz:
(1.) Die Einzelherrschaft: Monarchie – nicht notwendig ein König, wohl aber eine dem Gemeinwohl dienende Alleinherrschaft; sie kann zur Tyrannis degenerieren, einer Alleinherrschaft, die nicht dem Gemeinwohl dient.
(2.) Die Herrschaft von wenigen ist die Aristokratie, die Herrschaft „der Besten“, der „Tugendhaftesten“; ihre Degenerationsform ist die Oligarchie, also die Herrschaft von wenigen, die aber nur am Eigennutz interessiert sind.
(3.) Die Herrschaft von vielen nennt Aristoteles „Politie“: die Herrschaft der Besonnenen, der Vernünftigen. Degeneriert sie, wird sie zur Demokratie oder auch Ochlokratie (die Herrschaft der Armen, des Pöbels).
[Das Schulwissen, dass „Demokratie“ die gute, „Ochlokratie“ die schlechte Form sein soll, ist postfaschistische Geschichtspolitik, jedenfalls insoweit sie sich auf Aristoteles beruft, der ausdrücklich die politie so bezeichnet und die Demokratie eher negativ, als Herrschaft der kleinen Leute beschreibt. Allerdings herrschte in der athenischen Alltagssprache wohl „Demokratie“ vor – vielleicht ein Hinweis darauf, dass die realen Bürger der Polis weniger wohlhabende Sklavenhalter als eher Handwerker und kleine Händler waren. Die positive theoretische Besetzung des Demokratiebegriffs geht auf den griechischen Historiker Polybios zurück, der 200 Jahre nach Aristoteles lebte; seine Begriffsbildung reflektiert die gewandelten sozialen Bedingungen der griechischen Stadt, die damals nur im Ausnahmefall noch eine selbständige politische Einheit war.]
Die politische Philosophie des Aristoteles hat zwei weitere, bis weit in die Neuzeit reichende Vorstellungen von Staatsformen entwickelt: Erstens die Theorie der gesetzmäßigen Abfolge von Verfassungsformen und zweitens die Idee, dass es die Mischverfassungen sind, die beste Ergebnisse zeitigen. Noch die Diskussion der amerikanischen Verfassung in den 1780er Jahren war von dieser Vorstellung geprägt, dass es eine Mischverfassung von monarchischen (Präsident), aristokratischen (Senat) und „demokratischen“ (Repräsentantenhaus) Momenten sei, die ein politisches System stabil mache. Vor allem in Europa hat sich die Mischverfassungstheorie etwa im Zwei-Kammern-Prinzip gezeigt: Ein Ober- und ein Unterhaus wie in England repräsentiert bis heute die Vorstellung, dass die verschiedenen Klassen der Gesellschaft in eine institutionell harmonierende Form gebracht werden müssen.