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1.3 Entstaatlichung im Mittelalter
ОглавлениеAuch wenn eine neuere Forschung Momente von Staatlichkeit auch im Mittelalter entdeckt und auch auf den neuen Begriff der Governance Bezug nimmt, vor allem aber gegen die Vorstellung einer Linearität argumentiert, wird man trotzdem am Befund einer Entstaatlichung im Mittelalter nicht vorbeikommen.12 Über lange Zeit kam die soziale Ordnung weithin ohne staatliche Momente aus. Dieser Umstand war im 19. Jahrhundert und bis weit darüber hinaus lange Zeit nicht wirklich zur Kenntnis genommen worden. Vor allem für die deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts war der mittelalterliche „Staat“ eine Etappe auf dem Weg zum modernen Staat. Sie konstatierten eine kontinuierliche, aufsteigende Linie und begründeten die Momente der Staatlichkeit mit einer (wie sich bald herausstellte: recht imaginierten) Konstruktion einer spezifisch germanischen Staatlichkeit. Otto Brunners These und Begrifflichkeit von „Land und Herrschaft“ ist in der Rezeption selbst in die Kritik geraten, nicht zuletzt deshalb, weil Otto Brunner die nationalsozialistische Imprägnierung seiner Denkfiguren auch mit vielerlei Korrekturen nicht aus der Welt schaffen konnte. „Herrschaft“ war eben auch ein sehr deutscher Begriff. Dennoch ist festzuhalten, dass man die mittelalterlichen politischen Ordnungen nicht einfach als Vorgeschichte des modernen Staates sehen kann, viel weniger als die antiken Ordnungen. Anders gesagt: Rom und Griechenland sind unserem Verständnis von politischer Ordnung viel näher als das europäische Mittelalter. Dieses allerdings dürfen wir uns ebenso wenig als eine aufsteigende Linie (sozusagen: Das finstere Mittelalter wird mit der Zeit immer ein wenig heller.) vorstellen, sondern als unterschiedliche Stufen der Intensität von Staatlichkeit, die mal besser, mal schlechter funktionierte und die sich etwa in Frankreich eher und stabiler ausbreitete als im deutschen Sprachraum.
Die globale Ordnung des Römischen Reichs zerfiel mit der sogenannten Völkerwanderung13, also seit dem 5. Jahrhundert, in fluide und fragile Stammesgesellschaften (die man sich keineswegs als ethnische Verbände vorstellen muss, wie dies eine ältere Forschung annahm!), die wenig soziale und politische Struktur hatten, die weithin auf mündlichen Beziehungen beruhten und vielfach auch ohne überregionale Wirtschaftsbeziehungen auskamen. Allerdings überlebten noch längere Zeit spätrömische Momente von Staatlichkeit, die von den germanischen Stammeskönigen (die ja oft Militärs in römischen Diensten gewesen waren) teilweise übernommen wurden: Römische Verwaltungsbezirke blieben, Infrastrukturen wie das Straßensystem (soweit es nicht verfiel), die Funktion der Bischöfe, teilweise sogar das Steuersystem. Aber die politische Macht lag weitgehend auf dem Land, das Ernährung bot. Sehr viel besser organisiert war in diesen Jahrhunderten das von Mohammed begründete islamische Reich, das seit dem 7. Jahrhundert mit überlegener militärischer und kultureller Kompetenz nach Europa expandierte. Es wies im Übrigen eine vergleichbare Verbindung von religiöser Kultur und politischer Institutionalisierung auf.
Erste Momente der Staatlichkeit bildeten sich im früheren provinzialrömischen Bereich aus: Ober- und Mittelitalien (Langobarden, Ostgoten), Frankreich (Westgoten, Franken, Burgunder). „Germanische“ (mit aller Vorsicht des Begriffs) Völker gingen hier Verbindungen mit römischer Kultur ein, die im Wesentlichen aber nur kirchlich überliefert wurde. Die aktuelle Forschung konstatiert durchaus Ausprägungen von Staatlichkeit, die weiter entwickelt war als man das bisher angenommen hatte, die aber auch Auf- und Abschwünge erfuhr. Beispielsweise wird Karl der Große, der ein Großreich aufgebaut hatte, das sich explizit als Nachfolge des Römischen Reichs verstand, ein intensives Bemühen um den Aufbau einer Beamtenschaft, einer Kirchen- und Schriftreform oder einer stärkeren Kontrolle der lokalen Machthaber attestiert. Unter den Ottonen im 10. Jahrhundert ging die Schriftlichkeit der Herrschaft wieder zurück. Sie wurde dezentraler, und zentrale Herrschaft musste sich mehr den lokalen und regionalen Adelsfamilien unterordnen und war von kirchlichen Institutionen abhängig. Allgemeine Steuern wurden nicht erhoben, eine allgemeine Heeresfolgepflicht gab es offenbar nicht.14
„Weltliche“ politische Herrschaft war im Früh- und Hochmittelalter nur in enger Verbindung mit kirchlicher Herrschaft vorstellbar, und in dieser Hinsicht ruhte die frühmittelalterliche Staatlichkeit (wenn man sie denn so nennen will) auch auf der spätrömischen Grundlage auf. Ämter erwuchsen hauptsächlich aus religiöser oder aus militärischer Kompetenz. Bischöfe bekleideten meist auch hohe Reichsämter, Klöster übten Gerichtsbarkeit aus oder hatten das Recht, Münzen zu prägen und Zölle zu nehmen. Politische Herrschaft wurde, so die Vorstellung, im göttlichen Auftrag ausgeübt, denn das christliche Mittelalter lebte weiterhin in der Erwartung eines nahen Endes der Zeiten, die schon die römische Christlichkeit geprägt hatte.
Im späten 11. Jahrhundert änderte sich das: Der Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst gilt als Wegmarke, dass diese enge Verwiesenheit aufeinander aufbrach und Konflikte schuf. Wer ist dem anderen vorgesetzt? Dürfen weltliche Fürsten geistliche Würdenträger einsetzen? Der Kaiser sagte: Ja; der Papst argumentierte umgekehrt, dass im Gegenteil er als Nachfolger des Apostelfürsten Petrus berufen dazu sei, die kirchlichen Fürsten einzusetzen. Nach jahrzehntelanger, teils kriegerischer Auseinandersetzung konnte der Papst den Anspruch des Kaisers abwehren; aber die langfristige Folge war eine Entzweiung von kirchlicher und politischer Herrschaft. Konnte die politische Herrschaft bisher nur als Ausdruck der Heilsgeschichte gesehen werden, so gewann sie nun eigene Legitimität (etwa als Friedenswahrerin); für die kirchliche Herrschaft wurde immer schwerer begründbar, dass sie auch Teil der politischen Herrschaft sein müsse. Das sollte freilich noch Jahrhunderte dauern.
Für die größeren Herrschaftsbildungen (das Reich Karls des Großen erstreckte sich von Polen bis Spanien und von Dänemark bis Rom!) bedurften die Könige der Statthalter: Herzöge und Grafen, die in königlichem Auftrag regieren sollten. Diese gingen aber sogleich daran, eigene Herrschaften aufzubauen. Versuche Ottos des Großen, so etwas wie eine Reichsbeamtenschaft heranzubilden, scheiterten, weil die Ressourcen dafür fehlten. Die Ressourcen: Das war im Wesentlichen das Land. So kam es zu einer typisch mittelalterlichen Form von Herrschaft: dem Lehenswesen (Lehen = Leihe). Ausgehend von der Fiktion, dass alles Land dem König gehörte, erhielt der Gefolgsmann (Vasall) im Austausch für seine Folgebereitschaft Land (später auch Ämter, die Geld einbrachten, wie beim Zollwesen), das er ausbeuten (lassen) oder auch an Untervasallen für deren Folgebereitschaft weitergeben konnte. Formal waren diese Länder und Ländereien nur verliehen. Faktisch tendierte das Lehenswesen aber dazu, dass die Lehensnehmer selbst politische Herrschaft aufbauten und dynastisch sicherten.
Das Lehenswesen als Moment politischer Herrschaft ist in den letzten Jahrzehnten Gegenstand lebhafter Diskussionen gewesen.15 Dabei hat sich ergeben, dass seine Bedeutung keineswegs für das ganze Mittelalter gelten konnte. Vielmehr bildete es sich erst im Hohen Mittelalter langsam heraus; seine ganze Bedeutung erhielt es erst im Spätmittelalter. Die Bindungen des Vasallen waren bis dahin (und darüber hinaus) sehr viel mehr personaler Art (Gefolgschaft, Freundschaft) als nur gewissermaßen politische Geschäftsbeziehungen. Als solche stabilisierte es die politischen und sozialen Ordnungen. In Hinsicht auf die Staatlichkeit ist diese Personalität wichtig zu bemerken; sie war bis weit in die Neuzeit hinein ein Grundstein politischer Herrschaft. Der Mediävist Theodor Mayer hat demzufolge – gleichzeitig und in Auseinandersetzung mit Otto Brunner – diese Form einen „Personenverbandsstaat“ genannt und diesen dem modernen „institutionalisierten Flächenstaat“ gegenübergestellt.16
Für das Heilige Römische Reich galt, dass die Lehen dauerhaft vergeben wurden.17 Vor allem die großen Lehensnehmer, allen voran die Herzöge und Grafen von Bayern, Sachsen, Böhmen oder Österreich, entwickelten hier ihre eigene Herrschaft, aus den Lehen wurden mit der Zeit selbständige politische Einheiten: Es entstanden territorialstaatliche Gebilde. Anders war das in Frankreich, wo der (spätere) König von der Île de France aus seit dem 12. Jahrhundert in endlosen Kriegen seine Lehensnehmer, die gleichzeitig Konkurrenten waren, unterwarf. In England führte der Einfall der Normannen unter Wilhelm dem Eroberer (der selbst ein Vasall des französischen Königs war!) im 11. Jahrhundert zu einer Ausbildung von Machtstrukturen und -ressourcen, die vor allem die unterworfene Bevölkerung niederhalten sollten. Das zentrale Herrschaftssymbol, der von Wilhelm dem Eroberer erbaute Tower in London, war zunächst nichts anderes als eine Burg inmitten von Feinden. In England ist eine frühere und intensivere Ausbildung staatlicher Strukturen festzustellen, die nicht nur, aber auch auf diese Eroberung zurückzuführen ist. Hier bildete sich eine modifizierte Lehensverfassung aus, die anders als auf dem Kontinent die (großen) Lehen nicht erblich ausgab, sondern immer wieder neu verteilte, was ein treffliches Instrument der Machtkonzentration darstellte. Bereits vor dem Einfall der Normannen hatte der Aufbau einer Zentralverwaltung begonnen, und schon Anfang des 12. Jahrhunderts gab es ein Schatzamt, das eine Übersicht über Einnahmen und Ausgaben führte. Der König beanspruchte ein Burgenbaumonopol, und noch aus angelsächsischer Zeit gab es Volksgerichte, die nach Grafschaften organisiert waren; seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert gab es einen ständigen Gerichtshof: Recht war ein Gut, das in England sehr früh zu einem staatlichen Zentralbereich wurde. Die Magna Charta von 1215 hat zwar die Macht der hohen Adligen gegenüber dem König gestärkt. Gleichzeitig hat sie zur Ausbildung von Verfahren geführt, die Rechtssicherheit und politische Mitsprache (in den Parlamenten) ermöglichten.
England ging mithin voran und ist in gewisser Weise eine Ausnahme. Insgesamt gilt (mit charakteristischen Abweichungen): Zentrale akzeptierte Herrschaft zu etablieren, gelang bis ins Spätmittelalter den meisten Herrschern nur sehr unvollständig und instabil. Nur selten schafften sie es, eine kontinuierliche Militärmacht aufzubauen, die zentrale Herrschaft blieb darin von ihren Vasallen, den hohen Adligen abhängig. Ein Gewaltmonopol des Staates nach innen ließ sich nicht durchsetzen, vielmehr beharrten die Freien auf ihrem Recht, Konflikte selbst gewaltsam auszutragen: dem Fehderecht.18 Eine einheitliche Administration oder eine bürokratische Elite entwickelten sich nicht auf Dauer. Auch eine integrierte Rechtslandschaft entstand nicht; vielmehr überlagerten sich die Rechtstitel und waren mit den jeweiligen Territorien nicht identisch. So gab es beispielsweise in mittelalterlichen Städten nicht nur das Gebiet, über das die Stadt als Korporation verfügte, sondern auch Areale, die dem Recht anderer Herrschaftsträger unterstanden, sei es dem Kaiser oder Adligen, sei es die sogenannte „Kirchenfreiheit“: Die Distrikte um die Kirchen und Friedhöfe unterstanden kirchlichem Recht, hier galt das Recht der Stadt nicht. Auch die Universität war im Mittelalter ein Ort eigenen Rechts. Und mit diesem territorialen Recht ging immer auch das Recht über Personen oder Personengruppen einher.