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2.1 Die Bellizität der Epoche 5
ОглавлениеWarum in dieser Zeit die Gewalt so explodierte, ist nicht leicht zu sagen. Ein erster Grund war vermutlich militärtaktischer und militärtechnischer Art. Der britische Historiker Michael Roberts hat in den 1950er Jahren die These von einer militärischen Revolution im 16./17. Jahrhundert vertreten.6 Die Niederlande und Schweden, so der Schwedenhistoriker Roberts, hätten demzufolge eine neue Infanterietaktik (die Lineartaktik mit einer geschlossenen Schlachtreihe) eingeführt, die (Disziplin vorausgesetzt) sehr viel effizienter funktionierte als die vorherigen losen Haufen. Die These von der Militärischen Revolution ist seither intensiv diskutiert, differenziert und ergänzt worden, vor allem dahingehend, dass derlei Neuerungen bereits seit dem Spätmittelalter zu beobachten sind, und dass weitere Momente dafür ausschlaggebend waren, etwa im Befestigungswesen. Statt einfache Mauern wurden nun nach italienischem Vorbild sternförmige Bastionen gebaut, die einen Sturmangriff leichter abwehren ließen und gegenüber den neuen Kanonen besser gesichert waren. Die Heeresgröße änderte sich deutlich, bedingt durch die Ablösung der gepanzerten Ritter durch billige Fußsoldaten: von ca. 20.000 Soldaten, die sich im Jahre 1500 auf dem Schlachtfeld einfanden, auf ca. 150.000 im Dreißigjährigen Krieg. Die neuen Feuerwaffen führten jedoch dazu, dass Feldschlachten eher gemieden wurden und Belagerungen höher im Kurs standen. Dabei lag der Hauptvorzug von Muskete, Arkebuse und Feldkanonen in der ungleich höheren Durchschlagskraft, nicht in einer schnellen Schussfolge. Ein Bogenschütze konnte bis zu 15 Pfeile pro Minute abschießen, ein Musketenschütze maximal einen Schuss abgeben. Die Zielgenauigkeit war gering. Die oranische Heeresreform hat in den Niederlanden in den 1590er Jahren dann diesen Nachteil durch die Einführung des Contremarsches auszugleichen gesucht, bei dem die Schützen der ersten Reihe nach dem Schuss zurücktreten und denen der zweiten Reihe Platz geben, während sie selbst wieder laden können. Dadurch wurde ein ununterbrochener Kugelhagel möglich.
Nach Jahrzehnten der Diskussion und intensiver empirischer Forschungen würde man heute nicht mehr von einer zentralen Revolution sprechen und auch den Zeitrahmen nicht mehr so eng fassen, wie dies Roberts tat. Die Militärische Revolution wird vielmehr – aufgelöst in mehrere Revolutionen – als eine sich selbst verstärkende Innovationsdynamik verstanden, die seit dem späten 15. Jahrhundert die staatliche Handlungsfähigkeit von ständigen militärischen Neuerungen – taktischer, technologischer oder strategischer Art – abhängig machte. Da Kriege das wesentliche Tableau waren, auf dem staatliche Konkurrenz sich äußerte (und sehr viel weniger ökonomischer oder ideologischer Wettbewerb), brachten militärische Neuerungen einen relevanten Standortvorteil, weshalb jeder Staat darauf erpicht sein musste, in dieser Hinsicht die Nase vorne zu haben. In der Rückschau aus dem 21. Jahrhundert fragt sich freilich, ob diese Innovationslogik jemals an ein Ende gekommen sei, anders formuliert: ob die damals angestoßene Militärische Revolution nicht seither zu einer permanenten Revolution geworden sei. Fraglos aber hat sich an der Wende zur Neuzeit ein Schub an militärischen Innovationen ergeben, ohne die die Bellizität der Epoche nicht zu erklären ist, die aber etwa auch den europäischen Militärformationen systematische Vorteile über andere Gesellschaften zuteilwerden ließ, weshalb Geoffrey Parker die Militärinnovationen ursächlich mit dem Aufstieg des Westens in Verbindung bringt.7 Dass die osmanische Expansion nach Europa am Ende des 17. Jahrhunderts zum Stehen kam, ist auch darauf zurückgeführt worden.
Auf diesen militärischen Innovationen ruhte – zweitens – der Erfolg der ständischpartikularen Anerkennungskämpfe auf, die verschiedene Regionen aus den größeren politischen Zusammenhängen herauslösten: die Schweiz, die sich noch im Mittelalter verselbständigte; die „Generalstaaten“ (= Generalstände) der Niederlande, die kriegerisch aus dem Habsburgerreich ausschieden, und zwar gestützt auf ihr wehrhaftes Bürgertum, was den Niederlanden in marxistischer Lesart die Ehre einer „frühbürgerlichen Revolution“ eingetragen hat.8 Beide Länder – langsam begann man schon von „Nationen“ zu sprechen – zeichneten sich durch militärische Innovationen aus. Weniger erfolgreich war der Versuch Böhmens, aus dem Reichsverband auszuscheiden: Mit dem Böhmischen Aufstand begann 1618 der Dreißigjährige Krieg. Ab da wusste man in europäischen Regierungsstuben allerdings, was die Uhr geschlagen hatte, und wandte sich mit massiver Gewalt gegen ähnliche Versuche, „abtrünnig“ zu werden. Der Feldzug des revolutionären englischen Diktators Oliver Cromwell gegen Schottland im Englischen Bürgerkrieg (1648) gehört in diese Linie oder auch die kriegerischen Versuche Spaniens, den Abfall Portugals, Kataloniens oder Aragons zu verhindern, was wiederum zum Streit mit Frankreich führte. Parallel zum Dreißigjährigen Krieg führten in dieser Zeit und aus diesem Grund Spanien und Frankreich 24 Jahre lang Krieg gegeneinander (1635–1659)!
Ein dritter Grund, damit verknüpft, waren die konfessionellen Verwerfungen, die ja nicht nur in Deutschland zu politischen Konflikten führten.9 Die Reformation eröffnete eine Dimension von Solidarisierung wie von Verfeindung. Dass man sich mit denen zusammentat, die gleichen Glaubens waren, ist in diesem Zusammenhang die idealistische Interpretation. Die materialistische – man könnte auch sagen: die politische – trifft wahrscheinlich die Sache eher: dass man mit denen, denen man sich zugehörig oder von ähnlichen Interessen glaubte, eines Glaubens sein wollte. Konfession wurde zu einem Instrument wie auch Faktor politischer Homogenität. Evangelisch wurden deshalb in Deutschland viele Fürsten, die schon zu Territorialherren geworden waren und mittels des Glaubens auch ihre politischen Interessen schützen wollten, gegen einen katholischen Kaiser. Der gleiche Glaube bedeutete auch einen politischen Kitt. „Cuius regio eius religio“, also die religiöse Homogenität in einem Herrschaftsbereich: Das erlaubte umgekehrt auch, den Herrschaftsbereich nach konfessionellen Mustern zu strukturieren und so eine vorpolitische Zusammengehörigkeit zu ermöglichen, die ihrerseits staatsbildend wirken konnte – und hier lag wiederum ein wesentliches Hemmnis für das konfessionell gespaltene Reich, zu einem Staat zu werden. Im stärker zentralisierten Frankreich und in England waren es dagegen nicht Regionen, sondern bestimmte soziale Gruppen, die reformatorischen Gedanken zugeneigt waren. In England wandten sich der Hochadel und König Heinrich VIII. von Rom ab und gründeten die anglikanische Nationalkirche. Teile des Adels, vor allem in Schottland, blieben dagegen katholisch; zwei königliche Sukzessionslinien unterschiedlicher Konfession entwickelten sich damit: die anglikanischen Tudors und die katholischen Stuarts. Davon wiederum setzten sich unter verschiedenen Namen (Puritaner, Presbyterianer, Kongregationalisten, Baptisten) radikale Protestanten in reformierte Freikirchen ab, die sowohl Katholizismus als auch Anglikanismus zu klerikal fanden. Vor allem städtische Bürger und kleine Adlige (Gentry) gehörten ihm an. In Frankreich waren es ebenfalls vor allem städtische Gruppen und kleine Adlige (auffallend viele in Südwestfrankreich, wo es seit dem Mittelalter eine solide Ketzertradition gab), die sich als „Hugenotten“ zu einer calvinistischen Version des reformierten Protestantismus bekannten und die die staatskirchliche Position der katholischen Kirche, die eng mit dem König verbunden war, ablehnten. Die konfessionelle Spaltung (die genau betrachtet eine Spaltung in drei war: Katholiken, Lutheraner/Anglikaner, Reformierte/Puritaner) hatte somit das Zeug zu einem Bürgerkrieg, in dem neue Gruppen (Bürger, Territorialherren) in Konflikt mit etablierten mächtigen (weltlichen oder kirchlichen) Gruppen gerieten. Und alle hier beschriebenen Konflikte haben auch zum Krieg geführt.
Ein vierter Grund für den Krieg war die Entstehung verschiedener Staaten selbst. Denn die Zeitgenossen (jedenfalls auf dem Kontinent) waren es nicht gewohnt, dass es mehrere Reiche nebeneinander gab. Es gab nach herkömmlicher Vorstellung nur ein universales Reich, in der Nachfolge des Römischen Reiches und des Petrusstuhls. Die anderen politischen Gebilde waren als Vasallen gedacht. Dafür stand der Begriff des Kaisers – eben in der Nachfolge des römischen Caesar. Wenn (bis ins 17. Jahrhundert üblich) „die Christenheit“ synonym war mit „Europa“, dann war an dieses universale Reich gedacht. Eine Koexistenz verschiedener gleichrangiger und strukturell ähnlicher Gebilde konnte es also nicht geben, höchstens eine Nachfolge. Diese Konstellation war auf internationaler Ebene ausgesprochen konfliktträchtig. Nicht nur das Heilige Römische Reich mit seinem Kaiser erhob nämlich diesen Anspruch, sondern auch Frankreich, dessen „allerchristlichster König“ (so seine Selbstbezeichnung) viele Kriege im 16. und im 17. Jahrhundert mit dem Anspruch führte, die Nachfolge des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation anzutreten. Es gab aber nicht nur diese Kandidaten. Auch der schwedische König Gustav Adolf verstand sich als Inkarnation eines skandinavischen Universalreichs in der Nachfolge der Goten (also quasi ein Gegenkonzept zum Römischen Reich). Und das Russische Reich sah sich seinerseits in der Nachfolge des Oströmischen Reichs von Konstantinopel in einer universalmonarchischen Mission. Ein ähnliches Selbstverständnis hatte aber auch – jedenfalls in der Wahrnehmung der christlichen Europäer – der Sultan des Osmanischen Reiches – auf den Islam als legitimierende Religion gestützt, aber eben vom alten Ostrom, Konstantinopel, aus.