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2.2 Kriegführung und frühe Staatlichkeit
ОглавлениеBeschleunigend wirkte, dass diese Staaten im Entstehen institutionell noch ausgesprochen instabil waren. Die Regeln, nach denen Politik verlaufen sollte, standen noch nicht eindeutig fest, wurden nicht eingehalten und Verstöße waren nicht nach einem allgemeinen Regelkatalog sanktionierbar. Das erwies sich beim Verhältnis von Monarch und Ständen (vor allem in England) oder bei der Frage der Einhaltung von Verträgen. Insbesondere an der monarchischen Nachfolge entzündeten sich häufig internationale Konflikte, so dass Erbfolgekriege ein häufiger Typus frühneuzeitlicher Kriege waren. Generell gilt: Das Fehlen anerkannter Regeln und Verfahren bedingte, dass man schnell zur Waffe griff.
Die Kriegführung selbst reflektierte die hybride und noch unausgebildete Staatlichkeit. Die politische Herrschaft verfügte im Allgemeinen nicht über die Möglichkeiten, eigene stehende Heere aufzustellen, die eigenen Bauern waren militärisch zu wenig kompetent und mussten ja außerdem das Land bestellen, so dass der Krieg gewöhnlich mit kurzfristig angeworbenen, freiberuflichen Söldnern geführt wurde, die am Ende des Krieges wieder entlassen wurden. Deshalb war in Friedenszeiten die Banditenplage ein viel größeres Problem als im Krieg, weil die arbeitslosen Söldner sich neue Formen des Lebensunterhalts suchten. Manche Gegenden wie die Schweiz haben aus dem Söldnertum ein einträgliches Geschäft gemacht: Die Schweizer Bauernsöhne, die sich jedes Jahr nach der Ernte für die europäischen Kriegsschauplätze anwerben ließen, waren für ihre Kriegsfertigkeit (man könnte auch sagen: Brutalität) berühmt. Ein Überrest ist die vatikanische Schweizergarde.
Die großen Kriege überließ der frühmoderne Staat im Wesentlichen privaten Kriegsunternehmern, die auf eigene Rechnung arbeiteten und mit Subunternehmern weitere Verträge schlossen; diese stellten die Offiziere der verschiedenen Einheiten, die dann notdürftig zu einer Armee zusammengebaut wurden. Im Dreißigjährigen Krieg waren 1500 Militärunternehmer verschiedenster Größenordnung tätig. Der Krieg wurde damit nicht privatisiert; er war ja vorher nicht öffentlich gewesen. Vielmehr könnte man ihn vielleicht als eine public-private partnership bezeichnen: als eine Auftragsübernahme der Staatsgewalt durch Private, in ständiger Konkurrenz um die Grenzen dieses Auftrags, denn viele Kriegsunternehmer wollten mehr als nur Subunternehmer sein und ihrerseits stabile politische Herrschaft bilden. Die relative Stärke der in dieser Zeit schon erreichten Staatsgewalt sieht man umgekehrt daran, dass es keinem der Kriegsunternehmer, nicht einmal Wallenstein, dem Erfolgreichsten, gelang, dauerhaft selbst staatsbildend erfolgreich zu werden.
Die Währung, in der die privaten Unternehmer bezahlt wurden, konnte Geld, das Recht zu plündern, aber auch den Aufbau ganzer Adelsherrschaften umfassen. Das verlängerte den Krieg, denn die Soldaten und ihre Führer hatten ein regelrechtes beschäftigungspolitisches Interesse am Krieg, und es sind Fälle bezeugt (so bei der Belagerung von Groningen um 1500), wo Söldner im Dienste des Erhalts ihres Arbeitsplatzes einen Friedensschluss verhinderten.10 Und je länger die Kriege dauerten, je dichter sie aufeinander folgten, je mehr Ressourcen der Staat auch abschöpfen konnte, desto eher lohnte sich der Aufbau stehender Heere, die dann wiederum ein Kern der staatlichen Kriegführung im 18. Jahrhundert geworden sind. Insofern hat die Bellizität der Epoche den Aufbau eines staatlichen Militärapparats befördert, und damit auch den Ausbau einer staatlichen Steuer- und Schuldenverwaltung vorangetrieben11
Die Allgegenwart der kriegerischen Auseinandersetzungen führte dazu, dass die Grenze zwischen dem eigenen Herrschaftsbereich und dem des Feindes klarer definiert wurde und dass damit präziser bestimmbar wurde, wann der Kriegsfall eintrat: nämlich bei der Überschreitung dieser Grenze.12 Das galt vor allem für die sich langsam entwickelnden Nationalstaaten. In den Imperien – dem Osmanischen Reich, dem Habsburgerreich, dem Russischen Reich –, in denen Grenzen ohnehin nicht klar bestimmbar waren und deshalb eher von Grenzzonen als von Grenzlinien gesprochen werden muss, war das weniger der Fall. Aber Nationalstaaten beschrieben sich durch klare Grenzen, die sie durch den Bau von Verteidigungsanlagen präzise festlegten; umgekehrt wurde auch ihre Entwicklung durch die klarere Bestimmung von Grenzen begleitet. Der französische Festungsbauer Sebastian de Vauban, Pionier seines Faches, zog einen Ring von hochentwickelten Festungen um das, was nun als „Frankreich“ zu gelten hatte. Diese Festungen dienten nicht nur als Verteidigungsorte und als permanente Drohung gegen den Nachbarn, sondern auch als Zeichen nach innen: Hier herrschte nur der französische König. Die klare Abgrenzung von Territorien diente demgemäß ebenso der Durchsetzung eines einheitlichen Rechts wie auch der finanziellen Abschöpfung. „Untertan“ – später sollte der Staatsbürger daraus werden –, war nun derjenige, der auf diesem Territorium lebte, von gewissen Ausnahmen abgesehen. Und auf diesen Untertanen hatte die Obrigkeit Zugriff, nicht nur in ökonomischer oder militärischer Hinsicht, sondern auch, was seinen Glauben betraf. Diese territoriale Grenzziehung hatte sich schon mit dem Prinzip „Cuius regio, eius religio“ des Augsburger Religionsfriedens von 1555 angedeutet. Der Westfälische Friede von 1648 stellte dieses Prinzip auf Dauer. Danach wurden eindeutige Grenzziehungen zu einem Standardmoment auf Landkarten, um unterschiedliche Staaten zu bezeichnen.
An den Rändern Europas waren diese Grenzen auch Kulturgrenzen, was ebenfalls nicht hieß, dass dies „harte“ Grenzen waren. Die Grenze zur muslimischen Kultur, etwa an der iberischen frontera, war das ganze Mittelalter hindurch nicht nur kriegerische „heiße Grenze“, sondern auch Zone des Austauschs. Gleichzeitig haben diese Grenzgesellschaften den Aufbau staatlicher Strukturen erleichtert, weil hier die Ressourcen so energisch wie möglich zusammengehalten und mobilisiert werden mussten.13 Man könnte zuspitzen: Die – kriegerische oder friedliche – Grenze zur muslimisch-arabischen Kultur war ein Grund dafür, warum sich in Spanien ein Staat im modernen Sinn relativ früh ausgebildet hat.
Im Unterschied zu den Menschen, für die der permanente Krieg die Planung der Zukunft erschwerte, führte er für die entstehenden Staaten dazu, dass sie strategischer zu wirtschaften begannen, weil sie ja damit rechnen mussten, dass nächstes Jahr wieder Krieg war. Dadurch veränderte sich der Blick auf Land und Leute. Die Fürsten begannen ihre Territorien als ökonomische Einheiten zu sehen, die für politische (meist: militärische) Zwecke zu gestalten und strategisch auszubeuten waren. Die Frage, ob man mehr ein- oder ausführe, ob man sozusagen am Handel verdiente oder draufzahlte, war die Leitfrage einer neuen Wirtschaftspolitik, die sich im 17. Jahrhundert zunächst in Frankreich etablierte, dann aber auch in anderen Ländern aufgenommen wurde. Sie hat den Namen „Merkantilismus“ erhalten, ein Begriff, der inzwischen in die Kritik geraten ist, weil er sehr viele unterschiedliche Wirtschaftspolitiken zusammenfasst und eine einheitliche „Idee“ suggeriert.14 Aber einiges war doch geteilt zwischen einer französischen, auf die Intensivierung von innerstaatlichem Handel fokussierten Politik, einer „kameralistischen“ Politik in Deutschland, die nach den die staatlichen Finanzen zerstörenden ewigen Kriegen die Staatsfinanzen restaurieren wollten, oder der britischen Politik, die auf Außenhandel und Infrastruktur setzte:15 Ausgehend von der Vorstellung, dass der Reichtum der Welt sich nicht vermehrt, sondern stets nur anders verteilt werden kann, wollte diese Wirtschaftspolitik möglichst viel Reichtum im eigenen Land ansammeln. Das konnte geschehen durch eine aktive Außenhandelspolitik, die eine positive („aktive“) Wirtschaftsbilanz zustandebringen sollte und deshalb die Einfuhrzölle drastisch erhöhte. Das konnte auch dadurch geschehen, dass im Inneren Binnenzölle eingeschränkt, Manufakturen und Handelsbetriebe gefördert und eine effizientere Besteuerung erreicht werden sollte (ohne allerdings die Privilegien von Adel und Kirche anzutasten). Es konnte auch geschehen durch die Ansiedlung ökonomisch aktiver und innovativer Gruppen, wie etwa der in Frankreich verfolgten Hugenotten in Preußen seit dem späten 17. Jahrhundert. Für alles dies benötigte man eine effizientere Verwaltung; das Handels- und Gewerbebürgertum wurde gefördert. Es entwickelte sich die Idee eines staatlichen (und langsam auch: nationalen) Gesamteinkommens, das in Konkurrenz zu anderen Staaten die Machtressourcen definierte. Auch dafür bedurfte es eines klaren Wissens vom staatlichen Raum und seinen Bewohnern, das im 18. Jahrhundert unter dem Begriff der „Statistik“ (= Wissenschaft vom Staat) systematisiert wurde.16 Die entstehenden Staaten förderten systematisch wirtschaftliche Aktivitäten und suchten deren Bedingungen zu verbessern; sie etablierten regelmäßige Steuersysteme, die durch den Krieg (und für den Krieg) auch besser begründbar waren, aber vor allem auf einen ständigen Geldzufluss zielten. Zunft- und Zollschranken wurden abgebaut, die Existenz einer Marktökonomie erleichtert und so die Entwicklung des Kapitalismus unterstützt. Sofern sie Zugang zu kolonialen Ressourcen hatten, wie Spanien und Portugal in der ersten Phase, die Niederlande und dann England und Frankreich danach, so versuchten sie diese im Sinne des Staatshaushaltes auszubeuten.