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VERKRÜMELN

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Nicht, dass er sonderlich überrascht gewesen wäre, und natürlich hatte er kein Wort von dem geglaubt, was ihm da als Erklärung angeboten wurde. Von wegen Personalengpass in New York, lächerlich. Der gute Max Snyder wollte keinerlei Risiko eingehen und ihn aus dem Weg haben. Seine Organisation konnte es sich nicht leisten, irgendwelche Spuren zu hinterlassen. In Washington schien ihnen offenbar das Risiko bei seinem plötzlichen Tod zu groß, das war mit Sicherheit in New York kleiner. In solch einer Riesenmetropole wurden jeden Tag viele Menschen umgebracht. Einer mehr oder weniger fiel da nicht ins Gewicht, schon gar nicht angesichts einer notorisch unterbesetzten Polizei.

Bestätigt in seinen Überlegungen hatte ihn der Schatten, der ihm seit seinem gestrigen Gespräch mit Snyder folgte. Er hatte ihn sofort erkannt. Er wusste zwar seinen Namen nicht, aber mit Sicherheit war der ihm in der Organisation schon über den Weg gelaufen. Warum wollten die ihre eigenen Leute überwachen? Dafür gab es nur eine Erklärung. Sein Entschluss war daher schnell gefasst. Er würde nach Deutschland zurückgehen. Schließlich hatte er noch seine deutschen Papiere, seine Wohnung in München, seine Kreditkarten und seine ordnungsgemäße Entlassungsbescheinigung aus dem Gefängnis. In Deutschland kannte er sich aus, und mit diesem Aas von Kaminski würde er schon fertig werden.

Er hatte seinen unscheinbaren Duffle Bag aus abgewetztem Leder aus dem Schrank geholt und die Moleskinhose und - jacke sowie das großkarierte Baumwollhemd eingepackt. Hinzu kamen neben Unterwäsche und Socken noch seine aus weichem Rindsleder gefertigten Stiefel. Jeder Soldat hätte ihn um diese beneidet.

In Washington musste er aber zunächst seinen Schatten loswerden. Er hatte sich im Taxi zum Reagan Airport fahren lassen, schließlich hatte ihm Snyder einen Flug bei Delta Airlines gebucht, und er musste zumindest so tun, als ob er diesen auch nehmen würde. Dann war er in das mit Leuten vollgestopfte Terminal gegangen. Als er seinen Schatten ebenfalls aus seinem Taxi steigen sah, verließ er das Gebäude durch einen Seiteneingang. Wieder im Taxi hatte er sich zur Union Station fahren lassen und die ganze Zeit auf den rückwärtigen Verkehr geachtet.

Sein kleiner Trick hatte offenbar funktioniert, weit und breit war von einem Verfolger nichts zu sehen. In der Union Station erstand er eine Fahrkarte für den Amtrak nach New York. Als er drei Stunden später in der Pennsylvania Station in New York den Zug verließ, hatte sein Äußeres nichts mehr mit John Norton alias Konrad Pair gemein. Er trug jetzt die Moleskinsachen, das Baumwollhemd und seine Stiefel. Eine Baseballkappe komplettierte sein Outfit als Holzfäller. Dafür war er aber selbst für Manhattan ziemlich markant, schließlich liefen hier nicht allzu viele dieser Typen herum. Aus diesem Grund hatte er auf ein Taxi verzichtet und es vorgezogen, den langen Weg zu den Port Authorities, dem Startpunkt der Greyhound-Busse, zu Fuß zurückzulegen. Schließlich sollten die Silbersteins es nicht so leicht haben, seine Fährte aufzunehmen.

In der Nähe des Union Square angekommen gönnte er sich eine Pause in einem mexikanischen Restaurant mit einem kleinen Außenbereich. Dort bestellte er erst einmal ein Corona und studierte die Speisekarte. Seine letzte Mahlzeit lag eine Weile zurück und die Fahrt mit dem Greyhound sollte ungefähr neun Stunden dauern. Da war es gut, vorher noch einmal anständig zu essen.

Die Würfel waren ja gefallen, und bis jetzt hatte alles ganz gut geklappt. Er war in den Amtrak gekommen, ohne seine Identität preisgeben zu müssen, und auch im Zug selbst war das Personal mehr als nachlässig gewesen. Jetzt musste er es nur noch beim Greyhound schaffen, aber das dürfte wohl schwieriger werden. Schließlich würde der Bus auf dem Weg nach Montreal die Grenze passieren, und in solchen Fällen wurden üblicherweise bereits beim Erwerb der Fahrkarte die Personalien aufgenommen.

Spätestens aber die kanadischen Grenzbehörden wollten mit Sicherheit seinen Ausweis sehen. Innerlich zuckte er mit den Schultern. Na wenn schon, dann würde er sich halt wieder in Konrad Pair verwandeln und seinen deutschen Pass hervorzaubern. Wichtig war es vor allem, in New York seine Identität geheim zu halten. In Montreal selbst würde er den Flughafen ansteuern und mit seiner Konrad Pair-Kreditkarte einen Flug nach Paris buchen. Von dort könnte er mit einem Mietwagen bequem nach Deutschland fahren. Damit dürfte es jeder sehr schwer haben, seinen Weg nachzuverfolgen.

Seine Gedanken wurden von einer Stimme unterbrochen. »Entschuldigen Sie, mein Herr, hätten Sie wohl etwas Geld für mich?«

Konrad Pair schaute von seinem Tisch auf und sah sich einem ungefähr 25-jährigen Mann gegenüber, der in respektvoller Entfernung von seinem Tisch verharrte.

»Wofür?«

Die Antwort war entwaffnend ehrlich. »Ich habe Hunger.«

Er musterte sein Gegenüber. Intelligentes Gesicht, wache Augen und nicht ungepflegt. Vermutlich ein Student, dachte er. »Sie haben Hunger? Dann setzen Sie sich und bestellen sich etwas. Ich lade Sie ein.«

»Kein Scherz?«

»Nun machen Sie schon oder wollen Sie da noch ewig herumstehen?«

Das ließ der junge Mann sich nicht zweimal sagen und hatte im Nu Enchiladas und eine Cola bestellt. Dann sah er ihn verlegen an.

»Ich bin übrigens Daniel. Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen und kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin. Die meisten Menschen hätten mich bestenfalls einfach nur mitleidig angesehen.«

»Was ist Ihr Problem?«

»Ein ganz banales. Ich bin Student und meine Eltern sparen sich meine Studiengebühren vom Mund ab. Ich muss also für meinen Lebensunterhalt selbst sorgen, und nun habe ich letzte Woche meinen Nebenjob als Bartender verloren. Die Bar musste schließen. Ein neuer Job ist schwer zu finden, eine Erfahrung, die nahezu alle meine Kommilitonen ebenfalls machen. Jeder ist auf einen Nebenverdienst angewiesen. Deswegen bin ich heute zum Union Square gekommen, in der Hoffnung, in einem der vielen Restaurants hier etwas zu finden. Leider Fehlanzeige, aber ich versuche es nachher weiter.«

Konrad Pair lächelte ihm aufmunternd zu. »Nicht aufgeben, Sie finden bestimmt etwas.«

»Darf ich fragen, was Sie in New York machen? Vom Akzent her würde ich Sie in Deutschland oder Holland verorten.«

»Da liegen Sie ziemlich richtig. Ich bin in der Tat aus Holland. Amsterdam, um genau zu sein.«

»Und was machen Sie hier in New York, sind Sie Tourist?«

Die Kellnerin, die just in diesem Moment das Essen servierte, enthob ihn einer Antwort. Er nickte Daniel zu. »Na, dann wollen wir uns das mal schmecken lassen. Genießen Sie es.«

Die Geschwindigkeit, mit der die Enchiladas vertilgt wurden, war rekordverdächtig. Konrad Pair konnte nicht umhin, den korrekten Umgang mit Messer und Gabel bei seinem Gast zu registrieren. Offenbar stammte er aus einem guten Haus und hatte Tischmanieren gelernt, ganz im Gegensatz zu den barbarischen Essgewohnheiten, die er sonst bei Amerikanern sah. Während des Essens nahm in ihm eine zuerst vage Idee immer mehr konkrete Gestalt an. Da bot sich ihm vielleicht die Gelegenheit, seinen Häschern ein Schnippchen zu schlagen.

»Das hat Ihnen offenbar geschmeckt«, sagte er. Und nach dem bestätigenden Nicken: »Möchten Sie noch eine Cola?«

»Nein, danke, ich bin Ihnen schon genug zur Last gefallen.«

»Aber ganz und gar nicht, es war mir ein Vergnügen. Wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen gern noch einmal helfen. Ich gebe Ihnen hier eine Kreditkarte. Mit der gehen Sie jetzt in den Publix dort hinten und kaufen für sich Lebensmittel ein. Damit kommen Sie dann einige Tage über die Runden. Ich trinke hier noch ein Bier und warte darauf, dass Sie mir die Karte zurückbringen. Was meinen Sie?«

»Oh, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Warum tun Sie das alles?«

»Sagen wir mal, ich war auch mal Student und kann mich ziemlich gut in Ihre Situation hineinversetzen.«

Immer noch ungläubig nahm Daniel zögernd die ihm gereichte Kreditkarte entgegen und machte sich auf den Weg zum Supermarkt. Konrad Pair winkte die Kellnerin heran und beglich die Rechnung. Als Daniel im Publix verschwunden war, stand er auf und machte sich eiligen Schrittes auf den Weg zur Port Authority. Durch den Einkauf würde Daniel eine falsche Spur legen, falls die Kreditkarten-Aktivitäten eines John Norton nachverfolgt wurden. Und er war sich sicher, dass dies geschehen würde. Wenn ihn der Student nach seiner Rückkehr nicht mehr vorfand, würde er die Kreditkarte entweder wegwerfen oder weiter benutzen. Letztere Variante wäre perfekt, denn sie würde suggerieren, dass er sich immer noch in New York aufhielt. Er pfiff vor sich hin. Seine neuen Kollegen hatten da eine schöne Nuss zu knacken.

Bei den Port Authorities angekommen, war er doch ein wenig platt. Sein Alter prädestinierte ihn nicht gerade für diese Art von Gewaltmärschen. Obwohl er mit 50 noch ziemlich fit war, hatte ihn doch sein, insbesondere seit dem Union Square, hohes Tempo ganz schön aus der Puste gebracht. Er hatte keine Mühe, die Abfahrtsplattform für den Bus nach Montreal zu finden. Dankenswerterweise fuhr der erst in einer guten Stunde los, so dass ihm noch genügend Zeit blieb, sich für die lange Fahrt mit Getränken und Sandwiches einzudecken.

Zunächst jedoch ging er zum Fahrkartenschalter. Der übergewichtige Mann in dem Glaskasten sah ihn kurz an, wobei sein schwarzes Gesicht eigentlich nur Langeweile verriet. »Fahrkarte?«

»Ja, nach Montreal bitte.«

»Hin und zurück?«

»Nein, nur hin.«

Nun schaute der Schaffner doch etwas interessierter. »Aha«, wobei sich das bedeutungsschwere Aha auf alles Mögliche beziehen konnte, »das macht 86 Dollar.«

»Okay.« Konrad Pair fingerte einen 100 Dollar-Schein aus der Hosentasche.

»Pass.«

Da hatte er es, dieser schläfrig wirkende Typ hatte nicht nach dem in den USA üblichen Führerschein gefragt, sondern den Pass angemahnt. Sein Akzent hatte ihn wohl gleich als Ausländer entlarvt. Konrad Pair fingerte einen weiten Hunderter aus der Hose und legte ihn auf den Counter. Der Schaffner zeigte keinerlei Reaktion, stempelte das Ticket ab und ließ den Geldschein verschwinden. Dann reichte er ihm die Fahrkarte und sah ihn mit einem unlesbaren Gesichtsausdruck an.

»Ich habe Sie nie gesehen. Gute Fahrt.«

Tanz der Finanzen

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