Читать книгу Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt - Thomas P Fenner - Страница 24
Nestlés gewagte Expansionsstrategie zur Sicherung seiner Marktstellung
ОглавлениеDer Erste Weltkrieg eröffnete den Herstellern von Kondensmilch, Kaffee- und Kakaogetränken nicht nur gesicherte Absatzbedingungen durch die stetig steigende Nachfrage in den Krieg führenden Ländern. Die Kampfhandlungen erschwerten auch den internationalen Warenverkehr. Besonders der uneingeschränkte U-Boot-Krieg der Deutschen blockierte die Transportwege auf den europäischen Meeren und führte zu einem gewaltigen Preisanstieg auf Rohmaterialien.
Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Rohstoffbeschaffung verschlechterten sich die Qualität und die verfügbaren Mengen auf den Milch-, Kaffee- und Kakaomärkten zusehends: An die Stelle von Kaffee und Kakao traten immer öfter Kaffeesurrogate von fragwürdiger Qualität, welche dem Ruf des Zichorienkaffees schadeten, sowie minderwertiger «Kakao-Tee» aus Kakaoschalen. Ausserdem nahm die Milchproduktion in der Schweiz – von wo aus Nestlé etwa einen Drittel ihrer Milchdosen exportierte – aufgrund von politischen Massnahmen und fehlenden Futtermitteln für die Kühe stetig ab, was schliesslich selbst im damals bedeutendsten Milchexportland zu einer Milchknappheit führte. Anfang November 1915 ermächtigte die Schweizer Regierung das Volkswirtschaftsdepartement, die Kondensmilchproduktion zeitweilig oder dauerhaft einzustellen, um die dadurch freiwerdenden Milchmengen zur Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Trinkmilch verwenden zu können.
Die Nestlé & Anglo-Swiss reagierte auf diese neuen Marktbedingungen, indem sie einerseits bedeutende Vorräte an Waren und Rohmaterialien anlegte, um sich vor Lieferungsengpässen und kurzfristigen Preissteigerungen auf Rohmaterialien zu schützen.221 Andererseits begann sie ab 1915 mit amerikanischen Milchunternehmen Verträge abzuschliessen, um deren Kondensmilch unter den eigenen Marken in Europa verkaufen zu können.222
Als sich die Milchknappheit in der Schweiz im Winter 1916/17 allerdings dermassen zuspitzte, dass die Nestlé & Anglo-Swiss mehrere Schweizer Milchsiedereien schliessen musste und die enorme Nachfrage nach Kondensmilch von den bisherigen Fabrikationsstandorten aus – die sich hauptsächlich in Europa befanden223 – nicht mehr befriedigt werden konnte, geriet Nestlés Hegemonie auf den Kondensmilchmärkten Europas und in den europäischen Kolonien zunehmend in Gefahr: Amerikanische Unternehmen begannen ihre Kondensmilch nach Europa zu exportieren, während australische Gesellschaften auf den Exportmärkten im Fernen Osten tätig wurden.224
Da den kooperierenden US-Gesellschaften die Mittel fehlten, um ihre Produktionskapazitäten auszuweiten, entschied sich die Nestlé & Anglo-Swiss am 6. September 1917, eine bedeutende Delegation nach Amerika zu schicken, um mit Borden über die Auflösung der geografischen Marktaufteilung von 1905 zu verhandeln, welche auf dem Abkommen aus dem Jahr 1902 beruhte. Das Schweizer Unternehmen sollte damit die Möglichkeit erhalten, der Milchknappheit durch die Übernahme und den Ausbau ihrer verbündeten Milchunternehmen in den Vereinigten Staaten zu begegnen. Am 27. Dezember 1917 wurde mit Borden schliesslich eine Lösung225 gefunden, welche Nestlé sowohl die Fabrikation von Kondensmilch in Nordamerika als auch den Eintritt in den amerikanischen Kondensmilchmarkt ermöglichte. Damit war das Startsignal für den Aufkauf zahlreicher amerikanischer Unternehmen durch die Nestlé & Anglo-Swiss gegeben:
Mit der Hires Condensed Milk Company in Philadelphia und der John Wildi Evaporated Milk Company in Columbus erwarb Nestlé 27 Fabriken, welche etwa acht Millionen Kisten Kondensmilch produzierten. Damit hatte Nestlé ihre Produktionskapazitäten auf einen Schlag verdoppelt, doch der enorme Expansionsdrang war damit noch nicht beendet. Bis 1920 übernahm das Unternehmen mit der International Condensed Milk Company, der Wisconsin Milk Company, der Alpine Milk Company226 sowie sechs weiteren Milchsiedereien insgesamt weitere 18 Fabriken in den Vereinigten Staaten.227
Zeitgleich mit der Expansion nach Amerika schloss Nestlé auch mit verschiedenen australischen Unternehmen wie der Baccus March Concentrated Milk Company Kontrakte ab, in denen sich diese bereit erklärten, ihre Produkte unter Nestlés Marken zu verkaufen. Die Abkommen brachten für beide Parteien Vorteile: Nestlé konnte damit eine ernsthafte Gefährdung ihrer Stellung auf den südostasiatischen Märkten verhindern, andererseits konnten die australischen Unternehmen ihre Kondensmilch unter der Marke Milkmaid teurer verkaufen als unter den eigenen Marken, da diese als Qualitätsprodukt wahrgenommen wurde. 1920 übernahm Nestlé die australischen Unternehmen schliesslich.228 Ein Jahr später gründete Nestlé 1921 mit dem Bau einer Milchfabrik in Araras (Brasilien) ebenfalls ihre erste industrielle Niederlassung in Lateinamerika. Sie stellte die erste Produktionsanlage des Unternehmens in den Tropen dar, wo die Milchproduktion noch praktisch inexistent war.229
Die Expansion nach Amerika stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der Nestlé & Anglo-Swiss dar. Während sich die Produktion des Unternehmens bis 1916 schwerpunktmässig auf die Schweiz, Norwegen und Grossbritannien konzentriert hatte und die Nestlé & Anglo-Swiss von dort aus ein Milchimperium aufgebaut hatte, welches Europa und seine Kolonien umfasste, veränderten sich die Verhältnisse bis 1919 grundlegend: Die Vereinigten Staaten entwickelten sich neu zum wichtigsten Produktionsstandort des Unternehmens, wo Nestlé nun fast die Hälfte der Kondensmilch herstellte, während die Schweiz ihre einstige Bedeutung auf diesem Gebiet verlor. Grossbritannien blieb zwar weiterhin ein beachtlicher Produktionsstandort und wichtigster Absatzmarkt des Unternehmens, verlor gegenüber anderen Produktionsstandorten in Amerika und Australien aber ebenfalls an Gewicht. Die aussergewöhnliche Produktionsverlagerung ist dabei auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Nestlé damals glaubte, ihre führende Stellung auf den Weltmärkten nur dann langfristig halten zu können, wenn sie in den Vereinigten Staaten tätig wurde. Denn die amerikanische Milchindustrie stellte zu jener Zeit rund dreimal mehr Kondensmilch her als die aller anderen Länder der Welt, hatte diese allerdings aufgrund der grossen Binnennachfrage nicht in grösserem Umfang ins Ausland exportiert.230