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Vom Krieg in die Krise

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Die geografische Verlagerung der Produktion nach Nordamerika und Australien durch die Übernahme zahlreicher Milchunternehmen sowie die grossen Waren- und Rohstoffvorräte sicherten der Nestlé & Anglo-Swiss während des Ersten Weltkriegs genügend grosse Kondensmilchmengen, um ihre Vormachtstellung in Europa und den Kolonien in Afrika und Asien zu behaupten. Zwischen 1916 und 1920 konnte Nestlé die Produktionskapazitäten fast verdoppeln.231

Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit nahm die Nachfrage nach Kondensmilch weiter zu, obschon mit dem Waffenstillstand von 1918 die Armeeaufträge ausblieben. Dies liess bei Nestlé die Hoffnung auf eine langfristige Zunahme des Kondensmilchkonsums keimen. 1919 wurde daher eine neue Verkaufszentrale in Paris gegründet, die als Pendant zur Londoner Exportzentrale nach Übersee die Überwachung aller kontinentalen Märkte zum Ziel hatte. Zudem wurde die auf Expansion ausgelegte Geschäftspolitik in Europa und Nordamerika weitergeführt. Die Unternehmensführung war sich dabei der Risiken einer temporären Überproduktion zwar bewusst, der Wachstumskurs blieb jedoch unbestritten, denn nur so glaubte das Unternehmen seine hegemoniale Stellung gegenüber der Konkurrenz verteidigen zu können.232 Den enormen Kapitalbedarf von über 150 Millionen Schweizer Franken für die Firmenübernahmen in den Vereinigten Staaten und Australien beschaffte sich das Unternehmen durch eine Aufstockung des Aktienkapitals von 60 Millionen Schweizer Franken auf 205 Millionen Schweizer Franken und zusätzlichen Obligationenanleihen von 45 Millionen Schweizer Franken.

Gleichzeitig erholte sich die Milchwirtschaft in weiten Teilen Europas jedoch von der kriegsbedingten Krise und begann nun gewaltige Milchmengen zu erzeugen. Dies traf insbesondere in den Niederlanden zu, wo während des Ersten Weltkriegs grosse Flächen Ackerland in Weideland umgewandelt worden waren. Die Abnahmeverträge mit den Bauern zwangen die Nestlé & Anglo-Swiss nun, weiterhin deren gesamte Milchproduktion zu kaufen, wodurch die Waren- und Rohstofflager überproportional zum Umsatz wuchsen. Nestlé sah sich dadurch plötzlich mit einer Überproduktion konfrontiert.

Die gewaltige Ausweitung der Produktionskapazitäten und die steigenden Waren- und Rohstofflager, die während des Kriegs die Versorgungssicherheit garantiert hatten, führten 1920 zu einem äusserst labilen Finanzgleichgewicht. Den Guthaben und Besitzbeständen, die zu einem grossen Teil in Beteiligungen an US-Fabriken (110 Millionen Schweizer Franken) und Warenvorräten (220 Millionen Schweizer Franken) fixiert waren, standen Schulden und Obligationsanleihen in Wert von 377 Millionen Schweizer Franken gegenüber.

Währenddessen mehrten sich die Anzeichen, dass die Nachfrage nach Dauermilch empfindlich abnehmen würde: Zum einen begann der Grossteil der Bevölkerung, der während des Kriegs Kondensmilch oder Milchpulver konsumiert hatte, wieder Frischmilch zu trinken. Einzig in den europäischen Grossstädten und Industriegebieten, wo die Frischmilch von schlechter Qualität war, blieb die hohe Nachfrage nach Kondensmilch aufrecht. Zum andern wies die aus Amerika importierte Kondensmilch teilweise qualitative Mängel auf, was das Industrieprodukt in Europa bald in einem schlechten Licht erscheinen liess. Weitere Kunden verlor Nestlé 1921, als die steigende Inflation in Europa zu einer Aufwertung des US-Dollars führte und die in Amerika hergestellte Kondensmilch des Unternehmens gegenüber der europäischen Konkurrenz eine zusätzliche Verteuerung erfuhr.233

Angesichts der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der sinkenden Kaufkraft der Bevölkerung begannen zahlreiche Konkurrenten in Grossbritannien gleichzeitig ihre Dauermilchprodukte in grossen Mengen abzustossen und verschärften dadurch das Überangebot auf dem Markt.234 Innerhalb von zwei Jahren halbierte sich dadurch der Umsatz von Nestlé auf den Britischen Inseln.235 Das Unternehmen blieb auf seiner amerikanischen Kondensmilch und den Vorräten an Rohmaterialien sitzen, die es 1920 teuer eingekauft hatte und die nun aufgrund der sinkenden Rohstoffpreise einen starken Wertverlust erfuhren. Diese Ereignisse hatten für Nestlé schliesslich verheerende Folgen und führten 1921 zu einem Verlust in der Grössenordnung von 100 Millionen Schweizer Franken.

Als der Verwaltungsrat im November 1921 die Öffentlichkeit erstmals über die beträchtlichen Verluste des Unternehmens unterrichtete, kam es an der Börse zu panikartigen Verkäufen der Nestlé-Aktien. Während diese im Januar 1920 noch für 1020 Schweizer Franken gehandelt worden war, betrug ihr Wert zwei Jahre später nur noch 145 Schweizer Franken. Dadurch rutschte das Unternehmen endgültig in die Krise: Da die finanziellen Ressourcen der Nestlé & Anglo-Swiss zu einem grossen Teil durch die Firmenübernahmen und die gewaltigen Rohstoffvorräte gebunden waren, geriet die Liquidität des Unternehmens in Gefahr, zumal während des Kriegs bereits alle Möglichkeiten zur Aufnahme von Krediten ausgeschöpft worden waren. Hatte das Schweizer Unternehmen zwischen 1916 und 1921 die Produktion ungeachtet der Kosten bis an die äussersten Grenzen forciert, galt es nun, die enormen Überkapazitäten an Kondensmilch und die erdrückende Schuldenlast so rasch als möglich abzubauen.

Um operative Verluste durch Überproduktion zu vermeiden, hatte Nestlé bereits frühzeitig die Fabrikation gedrosselt und 1921 mehrere Produktionsanlagen in Australien, Norwegen, Grossbritannien, der Schweiz und den Vereinigten Staaten als vorübergehende Sofortmassnahme geschlossen.236 In den Vereinigten Staaten verfügte die Nestlé & Anglo-Swiss über Produktionskapazitäten von mehr als zehn Millionen Kisten, von denen 1922 aber nur etwa ein Drittel ausgelastet werden konnten. 20 der 48 neu gekauften Fabriken standen still oder verkauften die angelieferte Frischmilch direkt weiter und waren dadurch praktisch wertlos.

Im Hinblick auf die Zukunft war die Unternehmensleitung damals allerdings nicht bereit, die Fabriken in Nordamerika zu verkaufen und damit ihre Milcheinzugsgebiete preiszugeben. In Amerika fielen dadurch bei Nestlé wesentlich höhere Kosten an als bei der US-Konkurrenz, was die Buchhaltung des Unternehmens schwer belastete.237

Des Weiteren war nicht nur die Milchindustrie, sondern ebenso die Schokolade- und Instantkaffeeindustrie von der Nachkriegskrise schwer getroffen worden: Die Schokolade von Peter-Cailler-Kohler konnte Nestlé nur mit Verlusten verkaufen, und die Absatzzahlen von Milkmaid Café au lait erreichten mit 6500 Kisten nicht einmal mehr das Vorkriegsniveau.238Auch andere Schweizer Schokoladehersteller wie Suchard und Tobler kämpften in der Nachkriegszeit mit Überkapazitäten oder mussten Verluste ausweisen,239 während der abrupte Markteinbruch viele Hersteller von löslichem Kaffee in den Bankrott trieb. Einzig im angelsächsischen Raum scheinen Instantkaffee und Kaffee-Extrakte noch eine gewisse Nachfrage gefunden zu haben. Selbst dort verloren aber Marken wie G. Washington’s Coffee den grössten Teil ihrer Anhängerschaft nach dem Krieg wieder.240

Um den finanziellen Kollaps zu verhindern, musste die Nestlé & Anglo-Swiss Ende 1921 in London zusätzliches Kapital in Form von Prioritätsaktien aufnehmen und ein Jahr später das Aktienkapital der Stammaktien von 160 Millionen Schweizer Franken auf 80 Millionen Schweizer Franken halbieren, was zwischen den Aktionären und der Unternehmensspitze zu einem tiefen Misstrauen führte.241 Besonders in der Kritik standen der überdimensionierte Produktionsapparat und das bisherige Unternehmensprinzip, auf den Kondensmilchmärkten mit grossen Umsatzmengen und kleinen Gewinnmargen gute Ergebnisse erwirtschaften zu wollen. Dieses neige notwendigerweise zu konstanter Überproduktion. Insbesondere die Tatsache, dass die Nestlé-Führung das verlustreiche Geschäft in den Vereinigten Staaten und Australien nur reorganisierte und nicht abstiess, sorgte bei den Aktionären für Unverständnis:242 «Der fehlerhafte Riesenaufbau des Organismus [Nestlé-Konzern] muss mit innerer Notwendigkeit wieder zur krankhaften Erweiterung der Kapitalbasis führen – darüber hilft kein Moralisieren hinweg. Unsere Forderung für Abbau der wirtschaftlich durch nichts gerechtfertigten Weltorganisation, deren Existenzberechtigung einzig im Machtdünkel einzelner Persönlichkeiten gesucht werden darf, ist aus diesem Grunde berechtigt. Dulden die Aktionäre jetzt, solange sie noch das Heft in den Händen haben, dass die Reorganisation des Unternehmens verschleppt und verhindert wird, so müssen sie damit rechnen, dass nach einer neuen lügnerischen Scheinblüte mit raffinierter Ausnützung derselben zwecks Aktienkapitalerhöhung auch die jetzt belassenen zweihundert Franken per Aktie völlig verloren sein werden. Krankhafte Konstruktionen haben ihre innere Logik der Fäulnis»,243 lautete beispielsweise der Zeitungskommentar in der «Finanz Revue».

Die Situation der Nestlé & Anglo-Swiss im Dezember 1922 zeigte die Grenzen der bisherigen Strategie, mit Skalenerträgen die weltweiten Milchmärkte zu beherrschen, deutlich auf: Einerseits gelang es der Nestlé & Anglo-Swiss zwar, ein feinmaschiges Distributionsnetzwerk in Europa und seinen Kolonien aufzubauen. Andererseits krankte das Unternehmen – wie schon die Anglo-Swiss um 1900 – wiederum an den zu hohen Produktionskapazitäten in den Vereinigten Staaten, welche nach dem Zusammenbruch des kriegsbedingten Kondensmilch-Booms die Rentabilität des Unternehmens arg schmälerten. Die Grösse des Unternehmens erwies sich dabei nicht als Wettbewerbsvorteil, sondern als Hypothek für die Nestlé & Anglo-Swiss.

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