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II. Voraussetzungen
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Voraussetzung des Eingreifens des ordre public ist, dass das bei regelentsprechender Anwendung einer ausländischen Norm erzeugte (1) Ergebnis im Einzelfall mit (2) wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts (3) offensichtlich unvereinbar ist.
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1. Art. 6 ist auf materiell-rechtliche und kollisionsrechtliche Regelungen im ausländischen Recht anwendbar. Es genügt aber nicht, dass eine solche Norm abstrakt gegen wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts verstößt, zB formal eine ausländische Kollisionsnorm an das Heimatrecht des Ehemannes anknüpft. Zunächst ist vielmehr das Ergebnis der Anwendung der ausländischen Norm im konkreten Fall zu ermitteln, ehe beurteilt werden kann, ob sich der deutsche ordre public gegen dieses Ergebnis wendet. Eine Anpassung (Rn 562 ff), durch die im konkreten Fall ein unerträgliches Ergebnis vermieden wird, schließt die Anwendung des Art. 6 aus.
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ZB wäre es im Fall des mehrfach verheirateten Ägypters (Rn 567) verfehlt, damit zu argumentieren, dass polygame Ehen dem deutschen ordre public widersprechen. Da jede der Ehen im Ausland geschlossen wurde, fehlt es insoweit am hinreichenden Inlandsbezug (dazu Rn 590 ff). Das gleichzeitige Bestehen mehrerer Ehen einer Person ist in Abwägung gegen die kulturelle Prägung der Familie hinzunehmen, zumal selbst nach deutschem Recht eine bigamische Ehe nur aufhebbar ist (§§ 1314 Abs. 1, 1306 BGB). Was den Unterhalt angeht, wird ein unerträgliches Ergebnis, nämlich die Überforderung der Leistungsfähigkeit des Mannes, durch eine Anpassung im deutschen Recht vermieden. Anders verhält es sich in der Fallgruppe einer in Deutschland weitergeführten Kinderehe, die nicht nur im Entstehen, sondern in ihrem Bestand in Deutschland den ordre public berührt (Rn 591).
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2. Wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts umfassen die in der Vorgängernorm (Art. 30 aF) genannten guten Sitten und den Zweck deutscher Gesetze, werden aber durch die Begriffe nicht ausgeschöpft. Art. 6 ist vielmehr eine umfassende Generalklausel, die jedoch hinsichtlich der Eingriffsschwelle eng auszulegen ist.
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a) Die guten Sitten unterliegen dabei dem Wertewandel, wie er auch in der internen Rechtsprechung zu § 138 BGB Ausdruck findet. Der Zweck eines deutschen Gesetzes ist – in Hinblick auf das Erfordernis der „offensichtlichen“ Unvereinbarkeit – eng auszulegen. Es genügt nicht, dass die ausländische Regelung grundlegend von der deutschen abweicht, selbst wenn die deutsche Regelung intern zwingendes Recht ist. Art. 6 schützt nur den internationalen ordre public, also den nach außen gerichteten Durchsetzungswillen von Grundsätzen des deutschen Rechts gegenüber einer eigentlich anwendbaren ausländischen Rechtsordnung. Der interne ordre public als Summe aller zwingenden (nicht zur Disposition stehenden) Regeln des deutschen Rechts greift erheblich weiter.
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b) Besondere Bedeutung kommt der Konkretisierung des deutschen ordre public durch die Grundrechte[5] (Art. 6 S. 2) zu. Art. 6 greift ein, wenn die Anwendung der ausländischen Norm im konkreten Fall zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führt. „Grundrechte“ iSd Art. 6 S. 2 sind nicht nur die Grundrechte des GG, sondern auch die der Länderverfassungen sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention.
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3. Eine offensichtliche Unvereinbarkeit setzt einen eklatanten Verstoß des Ergebnisses im Einzelfall gegen die genannten Maßstäbe voraus. Neben die Bedeutung des Grundsatzes, gegen den verstoßen wird, muss hierzu immer auch ein genügender Inlandsbezug des Sachverhalts treten.
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Selbst wenn die Anwendung einer ausländischen Bestimmung gegen ein deutsches Grundrecht verstößt, ist damit ein eklatanter Verstoß noch nicht indiziert; lediglich der Maßstab der Prüfung ist bei einer Grundrechtsverletzung einer Abwägung nicht mehr zugänglich. Die für Art. 6 erforderliche Intensität ist jedoch davon abhängig, dass der inländische Rechtsverkehr betroffen ist; Art. 6 ist insbesondere kein Instrument, um der ganzen Welt die deutschen Grundrechtswertungen aufzudrängen.
Ein shiʼitischer Iraner, der mit drei Frauen auf Dauer und mit einer weiteren auf Zeit verheiratet ist, verstirbt mit letztem Wohnsitz in Teheran. Er hinterlässt ein Wertpapierdepot bei einer deutschen Bank. Das AG Frankfurt – Nachlassgericht – soll einen Erbschein erteilen. Es bestehen keine Bedenken an der Anwendung shiʼitischen Erbrechts, das den Ehefrauen Erbquoten zumisst, auch wenn die Polygamie und die Zeitehe (abstrakt und im konkreten Fall) gegen die Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG verstoßen; es fehlt am Inlandsbezug und damit jedenfalls an der offensichtlichen Unvereinbarkeit des Ergebnisses mit den Grundrechten.
An dieser Stelle ist insbesondere bei Statusbeziehungen, die ursprünglich keinen Inlandsbezug hatten, diesen aber durch Zuzug nach Deutschland erlangen, zu prüfen, ob nur die Begründung oder auch der Fortbestand des Status eklatant gegen Grundwerte deutschen Rechts verstößt.
Anders als das Beispiel der polygamen Ehe (Rn 586) zu bewerten ist insoweit das jüngst in den Blick breiterer Öffentlichkeit[6] gelangte Problem von im Ausland wirksam geschlossenen Ehen unter 16-jähriger ausländischer Staatsangehöriger – meist Frauen aus dem islamischen Rechtskreis (Rn 50). Zwar fehlt auch in dieser Fallgruppe dem Vorgang der Eheschließung im Ausland der hinreichende Inlandsbezug, doch berührt bei Umzug der Ehegatten nach Deutschland die Führung einer solchen Ehe im Inland das zu den Grundprinzipien deutschen Rechts gehörende Verbot der Kinderehe.[7] Folgerichtig wäre es allerdings, dieses Problem aus deutscher Sicht über Art. 6 oder eine Sondernorm des ordre public zu lösen und die Nichtigkeit einer solchen Ehe nur dann anzunehmen, wenn im Zeitpunkt des Zuzuges nach Deutschland der den deutschen ordre public störende Zustand noch besteht;[8] das ist nicht nur dann der Fall, wenn – gemessen an § 1303 BGB bisheriger Fassung – ein Ehegatte in diesem Zeitpunkt das 16. Lebensjahr nicht vollendet hat, sondern auch dann, wenn der bei Eheschließung unter 16-jährige in Deutschland an der Ehe gegen seinen Willen festgehalten wird. Hingegen bedeutete es einen nicht gebotenen Eingriff in fremde Wertvorstellungen, wenn eine solche Ehe gegen den Willen beider nun ausreichend einsichtsfähiger Ehegatten nicht als wirksam anerkannt würde.
Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen[9] geht hier äußerst weit. Art. 13 Abs. 3 nF erklärt nach ausländischem Eheschließungsstatut wirksame Ehen unter 16-Jähriger für nichtig (Nr. 1) und bestimmt Aufhebbarkeit (Nr. 2) nach deutschem Recht bei Eheschließung zwischen dem 16. und dem vollendeten 18. Lebensjahr. Der Inlandsbezug findet sich erst in Abs. 4 der Überleitungsvorschrift: Art. 13 Abs. 3 nF gilt nicht, wenn bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten kein Ehegatte gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Zugleich wird § 1303 BGB verschärft, obgleich die familiengerichtliche Befreiung nach § 1303 Abs. 2 BGB gewiss keine problematischen Kinderehen förderte.
Fraglich ist ein Verstoß gegen den ordre public im konkreten Einzelfall, wenn eine islamische Rechtsordnung Erbstatut ist, die einer überlebenden Ehefrau abstrakt die Hälfte der Quote eines überlebenden Ehemannes zumisst. Da im selben konkreten Einzelfall nie ein Witwer und eine Witwe zusammentreffen, könnte es immer an der Einzelfallrelevanz fehlen. Wer dennoch einen Verstoß annimmt, muss hypothetisch argumentieren, also den spiegelbildlichen Fall zum Vergleichsmaßstab machen.[10]
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Andererseits bedeutet die Nichtanwendung der ausländischen Rechtsnorm keine Diskriminierung oder negative Bewertung der fremden Rechtsordnung. Diese wird sogar häufig im Kontext der jeweiligen Rechts- und Gesellschaftsordnung sinnvoll sein und meist einem vom deutschen Recht abweichenden Gerechtigkeitsverständnis folgen.[11] Die Anwendung des Art. 6 besagt lediglich, dass die Anwendung der betroffenen Norm mit unserer Rechts-, insbesondere Verfassungsordnung nicht zu vereinbaren ist.[12] Dies kann im Übrigen auch bei Normen der Fall sein, die einem christlich-religiösen Recht angehören; obgleich in jüngerer Zeit vielfach die europäische Kultur als christlich-abendländisch der religiös geformten islamischen Kultur gegenübergestellt wird, sollte nicht übersehen werden, dass die deutsche Verfassungsordnung insbesondere auf Prinzipien der Aufklärung beruht und sich durchaus auch den Wertungen christlicher Rechtsnormen entgegensetzt.[13]
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Bei der Feststellung des hinreichenden Inlandsbezuges ist Zurückhaltung geboten. Selbst wenn Beteiligte eines formal gegen die Grundrechte verstoßenden Rechtsverhältnisses in Kontakt mit der deutschen Rechtsordnung kommen, sich in Deutschland niederlassen oder hier Vermögen erwerben, muss dies nicht zu einem hinreichenden Inlandsbezug führen. Hier besteht auch eine Wechselwirkung zwischen der Intensität des Verstoßes gegen deutsche Grundwertungen und der erforderlichen Stärke des Inlandsbezuges: Je schwerer der Verstoß, umso eher liegt auch bei schwächerem Inlandsbezug ein ordre public-Verstoß vor. Vor allem kommt eine auf den ordre public gründende Nichtanerkennung von statusrechtlichen Vorgängen nur ausnahmsweise in Betracht, weil hierdurch hinkende Rechtsverhältnisse provoziert werden (auch insoweit sind polygame Ehe und Kinderehe differenziert zu sehen, vgl Rn 591). Andererseits liegt hinreichender Inlandsbezug nicht nur bei deutscher Staatsangehörigkeit eines durch den Verstoß Betroffenen vor, sondern kann auch bei längerfristigem gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland und kontinuierlicher Betroffenheit bestehen.[14]
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Die im islamischen Recht als Grundform gebräuchliche Scheidung der Ehe durch einseitige nicht empfangsbedürftige Willenserklärung des Ehemannes (talaq) verstößt objektiv gegen Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 2 GG. Der deutsche ordre public ist
– | nicht verletzt, wenn ein Marokkaner seiner marokkanischen Ehefrau in Marokko den talaq erklärt und anschließend in Deutschland eine Deutsche heiratet (fehlender Inlandsbezug); |
– | nicht verletzt, wenn ein Ägypter bei gescheiterter Ehe seiner deutschen Ehefrau bei gemeinsamem gewöhnlichem Aufenthalt in Ägypten[15] den talaq erklärt und diese damit einverstanden ist (keine konkrete Auswirkung der objektiven Grundrechtswidrigkeit); |
– | verletzt, wenn ein Ägypter willkürlich bei gemeinsamem gewöhnlichem Aufenthalt in Ägypten seiner deutschen Ehefrau den talaq erklärt und diese nicht damit einverstanden ist (konkreter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG – Benachteiligung der Frau – und Art. 6 Abs. 1 GG – Scheidung einer nicht gescheiterten Ehe); der Inlandsbezug folgt aus der deutschen Staatsangehörigkeit der Ehefrau. |