Читать книгу World Runner (1). Die Jäger - Thomas Thiemeyer - Страница 11

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Los jetzt, raus mit der Sprache. Zeig es mir.«

Tim klopfte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Die Zeit bis zur großen Pause war ihm wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Immerhin hatte er die Prüfung gut über die Bühne gebracht. Kein Weinkrampf, kein Blackout, keine sonstigen Aussetzer. Frau Limmer war beeindruckt gewesen. Sie lobte ihn und versprach, es bei der Drei zu belassen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass er sich im nächsten Schuljahr mehr anstrengte.

»Ich warte«, sagte er.

Farid und er hatten sich ins Nebenzimmer des Physiksaals zurückgezogen. Der Raum war während der Pause unbewacht, hier hatten sie ihre Ruhe. Farid hatte seinen Laptop aufgebaut und sich ins schulinterne WLAN eingehackt. Der Zugriff auf die WorldRunner-Plattform funktionierte nicht übers Smartphone, sondern nur über einen gesicherten Zugang im Darknet. Dafür brauchte es deutlich mehr Rechenpower, als sein Smartphone aufbringen konnte. Was allerdings nicht bedeutete, dass Videos oder Beiträge von der WorldRunner-Plattform nicht später auch im normalen Internet landeten und für alle Welt sichtbar waren. Hatte es schon oft gegeben.

»Ich wollte es dir noch sagen«, stammelte er. »Aber du hast mich ja nicht gelassen.«

»Wie hätte ich auch ahnen können, was du getan hast?« Tim war fassungslos. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass Farid das wirklich online gestellt hatte.

»Schau es dir am besten selbst an.« Sein Freund drehte den Rechner zu ihm. Gelbe Lettern auf blauem Untergrund, Tim wusste sofort, was er hier vor sich hatte.

WorldRunner war die offizielle Kommunikationsplattform für alle Scavenger, Hunter und Runner sowie deren Fans, die sich diesem abenteuerlichen Spiel verschrieben hatten. Hier waren die neuesten Veranstaltungen und die aktuellsten Claims verzeichnet. Hier gab es Secrets, Eastereggs und Videotagebücher sowie die aktuellen Highscore-Listen. Hier konnten Spieler Erfolge posten und sich von ihren Fans feiern lassen. Hier sorgten Patreon-Konten dafür, dass die Unterstützung nicht nur wortreich in den Kommentarspalten erfolgte, sondern sich auch finanziell auszahlte. Wer immer seinen Lieblingsspieler unterstützen wollte, konnte einen Betrag direkt auf das Konto des Betreffenden spenden. Zusätzlich konnten Zuschauer Wetten darauf abschließen, welche Runner auf- und welche absteigen würden. Wer würde am Stichtag die Charts anführen? Jeweils am Monatsende wurden auf dem Scoreboard die finalen Listen präsentiert und teils sehr hohe Beträge wechselten binnen Minuten ihre Besitzer.

Tim hatte sich während des letzten Jahres unaufhaltsam an die magische Grenze der besten einhundert Spieler herangearbeitet. Ihm fehlte nur noch Sakuras unlösbares Rätsel, um die Hürde zu knacken.

Diese Top 100 waren der Heilige Gral. Hier reinzukommen, bedeutete, dass man nicht nur clever und mutig sein musste, sondern auch, dass man Personality besaß. Es genügte nicht, nur ein guter Spieler zu sein, man musste seine Fans begeistern. Nur dann spendeten sie Geld für einen.

Eigentlich hatte er dieses Ziel noch vor Beginn der Sommerferien erreichen wollen, aber die neueste Entwicklung warf ihn garantiert um Jahre zurück.

Er starrte auf den Bildschirm.

Das Video war gleich auf der Startseite von WorldRunner zu finden. Betitelt war es mit: »Cliffhanger des Tages«. Daneben ein Emoji mit zusammengekniffenen Augen. Haha.

Tim drückte auf Play und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Ihm bereitete es immer Schmerzen, sich selbst im Video zu sehen. Sosehr es ihn reizte, die Claims und Challenges zu lösen – das hatte er noch nie leiden können. Doch es machte die Bergung eines Claims natürlich viel glaubwürdiger. Nur wer sich dabei filmen ließ, konnte sicher sein, dass ihm nicht irgendein Neider die Beute streitig machte. Doch das hier besaß eine neue Qualität. Bei der Szene, in der er ins Leere griff und abstürzte, musste er schlucken. Das Gefühl war sofort zurück: Er spürte den Schlag in der Magengrube. Der Moment, als seine Füße die Wasseroberfläche durchstießen – es quetschte ihm die Luft aus den Lungen. Er meinte, den Rhein wieder riechen zu können, schmeckte den Ölfilm, atmete die feuchte Luft. Platschend und prustend trieb er den Fluss runter, bis er nur noch ein kleiner Punkt war, der verschwand.

Er hob seinen Kopf und starrte Farid an. Fassungslos.

»Warum«, fragte er. »Wie konntest du das tun?«

»Ich dachte, wir hätten das so besprochen«, polterte Farid mit hochrotem Kopf. »Ich bin dein PR-Manager. Ich filme, schneide, mache die Interviews. Ich sorge dafür, dass der Laden läuft und du gut aussiehst.«

»Gut aussiehst?« Tim hätte sich um ein Haar an seiner eigenen Spucke verschluckt. »Findest du, dass ich gut aussehe? Ich hänge da wie ein nasser Sack. Vom Finale ganz zu schweigen. So wie sich alle vorhin benommen haben, steht das Teil sicher schon längst auf allen Videokanälen.«

»Tut es, ja …«

Er schüttelte den Kopf. »Du hättest mich auf jeden Fall fragen müssen.«

»Das mache ich doch nie«, konterte Farid. »Wenn ich es für gut halte, geht es online. Und das hier ist gut. Saugut. Nicht für einen Moment hätte ich geglaubt, dass du etwas dagegen haben könntest.«

»Das ist Bullshit und das weißt du«, sagte Tim. »Dein schuldbewusstes Getue heute Morgen. Ich habe sofort gemerkt, dass du ein schlechtes Gewissen hast. Wäre mir klar gewesen, was du vorhast, hätte ich sofort alles rückgängig gemacht. Eine Lachnummer, das bin ich. Ich habe mich vor aller Welt zum Horst gemacht.«

Er betrachtete das Bild von sich, wie er mit beiden Händen am Stahlträger hing. Zum Glück hatte er sein Mundtuch bis über die Nase gezogen, sein Gesicht wäre sonst in allen Einzelheiten zu erkennen gewesen. Trotzdem ahnten die meisten in seinem näheren Umfeld, wer sich hinter dem Nickname Achenar versteckte. Der Flurfunk in der Schule war ausgesprochen effektiv. Tim war hier inzwischen zu einer kleinen Berühmtheit geworden. Viele verfolgten seine Abenteuer, unterstützten ihn und hinterließen Botschaften. Aber für die vielen Neider, die es auch gab, war dieses Video ein gefundenes Fressen.

»Vollspast«, stand in einem der Kommentare unter dem Video. »Hochmut kommt vor dem Fall« und »Fallobst«.

Die wenigsten wussten seinen Mut und das Risiko zu würdigen. Hätte er es geschafft, ja, dann wären sie auf seiner Seite gewesen. So aber feierten sie seine Niederlage. The winner takes it all, the loser standing small, hieß es nicht so?

»Nimm es raus«, sagte er geknickt. »Nimm den Scheiß offline und dann verlieren wir nie wieder ein Wort darüber.«

»Ich soll was?« Farid starrte ihn ungläubig an.

»Bist du taub? Rausnehmen habe ich gesagt. Hier und jetzt. Vielleicht können wir den Schaden noch begrenzen.«

»Von was für einem Schaden faselst du da?« Farid sah ihn aufgebracht an. »Hast du dir mal die Klickzahlen angesehen? Das Video ist in den letzten zwölf Stunden dreiundzwanzigtausendmal aufgerufen worden. Ehe du hier durchdrehst, würde ich vorschlagen, mal einen Blick auf dein Patreon-Konto zu werfen. Ich bin sicher, dass du dir inzwischen zehn neue MP3-Player kaufen kannst. Und zwar nicht so einen gebrauchten Billigmist. Ich rede von dem richtig geilen Scheiß.«

Mit großen Augen starrte Tim auf die Zahl. Farid hatte recht. Unfassbar, wie viele sich inzwischen den Film angeschaut hatten. Und mit jeder Minute wurden es mehr.

In diesem Moment klingelte die Schulglocke. Tim zuckte zusammen.

Farid stand auf und steckte den Laptop ein. »Schluss jetzt, die Show ist vorbei. Wir müssen zurück, ehe der Helbing uns entdeckt.«

Tim stand ebenfalls auf. Seine Beine zitterten. Er wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Seit er gestern von der Brücke gefallen war, schien alles außer Kontrolle.

»Darüber reden wir noch«, murmelte er halbherzig.

Zu Hause angekommen, konnte Tim es kaum erwarten, seinen Computer hochzufahren. Er stürmte durch die Wohnung, pfefferte seine Tasche aufs Bett und eilte zurück in die Küche, um sich rasch etwas zu essen zu holen. Sein nervöser Magen brauchte dringend eine Grundlage. Ein Geräusch ließ ihn innehalten. Er war so in Gedanken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass er nicht alleine war. Emily stand wie ein Ausrufezeichen in der Tür.

»Dir auch ein freundliches Hallo«, maulte sie vorwurfsvoll. »Schön, dich zu sehen.«

Für ihre zehn Jahre war sie ganz schön frech.

»Wieso bist du schon zu Hause?«, fragte Tim verblüfft. »Die Betreuung geht doch bis vier.«

»Läuse«, lautete die lapidare Antwort. »Ich habe Hunger.«

»Hm.« Tim durchsuchte den Schrank. »Wie wär’s mit Ravioli?«

»Klaro. Ruf mich, wenn’s fertig ist.« Wusch, weg war sie.

Tim war viel zu sehr in Gedanken, um sich über ihr Benehmen aufzuregen. Er war es gewohnt, von ihr wie ein Dienstbote behandelt zu werden. Dreiundzwanzigtausend. Das war vor einigen Stunden gewesen. Wie der Stand wohl inzwischen sein mochte? Das Internetportal WorldRunner bewegte sich in einer rechtlichen Grauzone. Manche Länder akzeptierten sie stillschweigend, andere, so wie Deutschland, beobachteten die Aktivitäten mit Argusaugen. Was auch der Grund war, warum man die Seite nur über ein ausgeklügeltes System erreichte. Mit einem Handy war das unmöglich. Ständig wurden die Serverstandorte verändert. Modernste Verschlüsselungsalgorithmen verschleierten den Ursprungsort der Betreiber. Tim hatte Gerüchte gehört, dass die Spielefirma GlobalGames-Incorporated in San Francisco dahintersteckte, doch ihr CEO, ein Mann namens Mortimer Hansen, wies alle Anschuldigungen von sich. Was die Behörden so alarmierte, war nicht der Umstand, dass Jugendliche bei dem Spiel mitunter in Lebensgefahr gerieten, sondern dass rund um die Spiele gewettet wurde. Illegales Glücksspiel um hohe Geldbeträge mochten die Gesetzeshüter nicht.

Tim war’s egal, er wettete ohnehin nicht. Er war Runner, kein Viewer. Aber die, die auf seinen Erfolg gewettet hatten, waren jetzt möglicherweise um ein paar Hunderter oder Tausender ärmer. Vielleicht war das der Grund für den lauten Spott. Dreiundzwanzigtausend!

Er konnte es kaum erwarten, die neuesten Zahlen abzurufen. Am Esstisch sah Emily ihn neugierig an, während er hastig die Ravioli runterschlang.

»Du bist echt komisch heute«, sagte sie mit schiefem Blick.

»Bin nicht komisch«, murmelte er mit vollem Mund.

»Von wegen. Andauernd schielst du rüber in dein Zimmer. Ist was mit deinem Computer?«

»Hab nur viel um die Ohren.« Er spülte den Bissen mit einem Schluck Apfelschorle runter und schob dann den Topf zu Emily rüber. »Ist für dich.« Hastig trank er noch einen letzten Schluck und wollte gerade aufstehen, als Emily die Bombe platzen ließ.

»Es hat mit dem Spiel zu tun, oder?« Sie grinste.

Er hob eine Braue. »Was meinst du?«

»Ich weiß, was du machst. Ich weiß, dass du gestern nicht am Decksteiner Weiher warst.«

Tim zuckte zusammen. »Wovon redest du?«, fragte er möglichst beiläufig.

»Ich bin nicht blöde, ich habe den Film gesehen.«

Um ein Haar hätte er das Glas fallen lassen. »Was für ein Film? Keine Ahnung, wovon du redest.« Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Was nicht einfach war. »Ich habe jetzt keine Zeit für so einen Kinderkram. Die nächste Stunde will ich nicht gestört werden, verstanden?« Er stand auf, ging in sein Zimmer und wollte die Tür hinter sich schließen, doch Emily kam ihm zuvor. »Ich sag’s Papa, wenn du es mir nicht erzählst. Max aus unserer Klasse hatte seinen Laptop dabei und hat uns den Film in der Pause gezeigt. Niemand wusste, dass du das bist, aber ich habe dich gleich erkannt. Deswegen warst du auch so nass.« Voller Stolz strahlte sie ihn an.

Tim wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Seit wann durften die kleinen Kröten ihre Rechner mit in die Schule nehmen? Und wie zum Henker hatten sie es geschafft, sich in das Netzwerk von WorldRunner einzuloggen?

»Also dann, das ist der Deal …« Emily trat auf ihn zu. »Du sagst mir, was du da getan hast, und lässt mich mitmachen oder ich erzähle Papa heute Abend alles. Der findet das bestimmt gar nicht gut.« Ihr Grinsen wurde breiter.

»Das wagst du nicht!«, war alles, was ihm einfiel. Eine ziemlich halbherzige Drohung, die Emily sofort durchschaute.

»Sonst noch was?«, fragte sie. »Willst du mich etwa verhauen?« Sie sah ihn herausfordernd an. »Ich bin hier diejenige, die Aikido macht. Dich habe ich in zehn Sekunden auf der Matte.«

Tim versuchte, sie mit seinen Blicken zu vernichten, spürte aber, dass er keine Chance hatte. Emily war viel sturer als er. Was das betraf, kam sie ganz nach ihrer Mom. Davon abgesehen, traute er ihr durchaus zu, dass sie ihn notfalls wirklich verpetzte.

»Was du hier machst, nennt man Erpressung«, murmelte er mit hängenden Schultern.

»Weiß ich doch.« Sie fing an abzuräumen. Das tat sie sonst nie. »Ich kann schweigen wie ein Grab«, verkündete sie mit tiefernster Miene. »Von mir erfährt niemand was. Hauptsache, du lässt mich mitmachen. Stimmt es, dass ihr alle falsche Namen habt und man damit Geld verdienen kann?«

»Falsche Namen, ja«, sagte er. »Geld verdienen, eher nicht. Aber es macht Spaß, deshalb tue ich es.« Er biss sich auf die Unterlippe. Sollte er ihr erzählen, dass er damit angefangen hatte, weil Mom selbst eine begeisterte Geocacherin gewesen war – eine Vorform der GlobalGames? Er tat es, um sich an sie zu erinnern und sich ihr nah zu fühlen.

Nach und nach begann er zu erzählen und ertappte sich dabei, dass er nicht mal mehr versuchte, nicht zu viel preiszugeben.

Irgendwie tat es gut, sich mal jemand anderem als Farid anzuvertrauen. Trotz der Zugehörigkeit zu einer Community waren Runner einsame Kämpfer. Das lag in der Natur der Sache. Eine Verbündete im eigenen Haus wäre durchaus von Vorteil, überlegte er. Emily könnte ihm den Rücken freihalten, wenn Dad peinliche Fragen stellte. Sie könnte seine Geschichten bestätigen, ihm notfalls vielleicht sogar ein Alibi verschaffen. Vorausgesetzt, sie hielt dicht.

»Unter einer Bedingung«, sagte er. »Du erzählst niemandem etwas und du stellst keine dummen Fragen. Ich entscheide, was und wie viel ich dir sage. Und ich entscheide, wann. Sollte ich merken, dass du mir hinterherspionierst oder anderen davon erzählst, ist unser Deal geplatzt.«

»Verstanden.«

»Und kein Sterbenswörtchen zu Dad. Seit Moms Tod hat er so viel um die Ohren, da kann er nicht noch zusätzlichen Stress brauchen.«

Emily nickte ernst. »Okay.«

»Und wir teilen uns die Arbeit im Haushalt.«

Sie schnaubte empört. »Übertreib’s nicht!«

World Runner (1). Die Jäger

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