Читать книгу World Runner (1). Die Jäger - Thomas Thiemeyer - Страница 9

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Das Ziel war fünf Meter entfernt. Eine kleine gelbe Box, gut versteckt hinter einem dicken Stahlträger. Ein rotes Licht blinkte beständig an seiner Seite. Das Zeichen, dass der Mechanismus aktiv war und darauf wartete, geöffnet zu werden.

Fünf Meter. Es hätte genauso gut das Ende der Welt sein können.

Von oben betrachtet, war die Box unsichtbar. Man musste runterklettern, um sie zu entdecken. Ein geniales Versteck. Schwierigkeitsgrad zehn. Gelegt von Sakura. Natürlich.

Warum dieser Claim »Nimm Zwei« hieß, war Tim nicht klar. Vermutlich weil die Box gelb war und den Bonbons eines bekannten Süßwarenherstellers ähnelte. Seltsam war es trotzdem.

Tim versuchte, ruhig zu atmen, und blickte auf die Uhr. Noch vier Minuten. Vier lausige Minuten, dann würde sich das Zeitfenster schließen und der Claim wäre für die nächsten vierundzwanzig Stunden verriegelt. So lange wollte er nicht warten. Er konnte nicht.

Eine knappe halbe Stunde hatten er und Farid gebraucht, um den Weg hierher zu finden und alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Drei Tage Vorbereitungszeit hatte sie das gekostet. Jetzt wollten die Freunde die Sache zum Abschluss bringen.

Tim blickte hinunter.

Zehn Meter unter ihnen rauschte das Wasser des Rheins vorbei. Pechschwarz und gluckernd, schlug es gegen die Fundamente des Brückenpfeilers. Ein durchdringender Teergeruch stieg Tim in die Nase. Ringsherum waren Lichter angegangen, die Abenddämmerung setzte ein. Die Außenbeleuchtung des Museums Ludwig ließ die Oberfläche des Rheins glänzen wie Öl. Vielleicht war es auch Öl. Abgelassen von einem der vielen Lastschiffe, die in regelmäßigen Abständen unter ihnen hindurchfuhren. Momentan war keins zu sehen, aber das konnte sich jederzeit ändern. Ein weiterer Grund, aufs Tempo zu drücken.

»Also ich würde es lassen, viel zu riskant.« Farids Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Für einen Moment hatte Tim seinen Freund ganz vergessen. »Hm? Was hast du gesagt?«

»Na, das hier«, sagte Farid. »Wahnsinn, wenn du mich fragst. Und streng verboten obendrein. An der Stelle hätte es Arrow35 letzte Woche fast erwischt. Ist mit der Hand von der Strebe abgerutscht und wäre beinahe abgestürzt. Hat nicht viel gefehlt.«

Farid hockte zwischen zwei Eisenstangen, die schwarzen Haare wild nach allen Seiten abstehend. Seine Haut glänzte rötlich im Abendlicht. Er war sichtlich außer Atem. Mehr noch als die Anstrengung stand ihm Panik ins Gesicht geschrieben.

»Arrow ist ein Idiot, ich habe mir das Video angesehen«, sagte Tim. »Er hätte Kletterhandschuhe anziehen sollen, dann wäre ihm der Stunt vielleicht geglückt. Tja, sein Pech ist mein Glück.«

Hoffentlich, dachte er. Im Film wirkte das alles anders als in der Realität. Die Szene hatte sich in seine Erinnerung gebrannt. Wie Arrow an einer Hand über dem Abgrund baumelte und versuchte, Halt zu finden. Das war schon krass. Irgendwann hatte er es endlich geschafft und war zurück zum Pfeiler gehangelt. Zitternd wie Espenlaub hatte er am Ende des Films dagehockt und geheult wie ein Kleinkind.

Konnte Tim auch passieren. Er musste vorsichtig sein. Immerhin hatte sich Arrows Stunt gelohnt. Es war ihm zwar nicht gelungen, den Claim zu bergen, die Aktion hatte ihm aber zehntausend Klicks gebracht. Und Klicks bedeuteten bares Geld. Mit jedem einzelnen stieg die Chance auf einen Sponsor.

Tim presste die Lippen zusammen. »Nimm Zwei« war immer noch aktiv und blinkte still vor sich hin.

»Lass es sein, bitte.« Farids Stimme bekam etwas Flehendes. »Sieh dir die Scheiße doch mal an. Du müsstest nur wie ein Affe von Stahlstrebe zu Stahlstrebe hangeln. Und die sind mindestens einen halben Meter auseinander.«

»Achtzig Zentimeter, schätze ich.«

»Sag ich ja. Viel zu weit. Das schafft kein Mensch.«

»Sie hat es geschafft. Sie hat den Claim gesetzt. Und was ein Mädchen schafft, kriegen wir doch wohl auch hin.«

»Woher willst du wissen, dass Sakura ein Mädchen ist? Hinter dem Nickname könnte sich jeder verstecken.«

Tim wiegte den Kopf. »Ich habe mir die Videos mehrfach angesehen. Ich bin mir ziemlich sicher. Abgesehen davon, welcher Junge würde sich freiwillig Kirschblüte nennen?«

»Auch wieder wahr«, grummelte Farid. »Wir haben noch zwei Minuten. Gehst du jetzt da rüber oder nicht? Ich wär ja für nicht.«

Ein Donnern ertönte. Die Brücke zitterte wie bei einem Erdbeben. Tauben flatterten hoch. Ein weiterer Zug donnerte über ihren Köpfen hinweg. Einer von tausend, die täglich über die Hohenzollernbrücke fuhren.

Der kühle Wind strich über Tims glühendes Gesicht. Sein Entschluss stand fest. Er zog das Mundtuch hoch und die Kapuze über den Kopf. »Lass die Kamera laufen«, sagte er.

»O Gott, du willst es wirklich tun. Du …«

Tim ignorierte Farid und schaltete den Musikplayer ein. Er nickte grimmig. Zurzeit fuhr er voll auf die Achtziger ab. Bands wie The Police, Blondie, Depeche Mode und The Cure.

Tim konnte nichts mit den aktuellen Charts anfangen. Die Musik früher war einfach besser.

Er sprang vor bis zum dritten Stück und drückte auf Play. Walking on the Moon war genau der richtige Soundtrack für diesen Stunt.

Er visierte sein Ziel, hakte seine Finger in den Stahlträger und schwang ein bisschen hin und her. Kräftetechnisch kein Problem. Er war ein geübter Kletterer, der aus dem Stand zwanzig Klimmzüge schaffte. Allerdings war das Metall mit einem Schmierfilm aus Fett, Staub und Taubenkot überzogen, was seine Aufgabe erschwerte. Vermutlich war Arrow deswegen abgerutscht. Tim durfte nicht zu schnell vorgehen. Erst mit den Fingern den Untergrund prüfen, dann hangeln. Meter für Meter.

Allen Mut zusammennehmend, tat er den Schritt ins Nichts.

Die Spannung in seinen Armen nahm zu. Seine Finger krallten sich wie Haken ins Metall. Hing er an beiden Händen, war das Gewicht gut verteilt. Rutschte er mit einer Hand ab, war da immer noch die zweite, die ihn vor dem Sturz bewahrte. Die schwierigsten Momente waren die, in denen er hinüber zum nächsten Querträger schwang. Nicht nur, weil sich der Körper dann in einer Schaukelbewegung befand, sondern, weil Tim für einen Moment loslassen und mit der anderen Hand hinübergreifen musste.

Er dachte an Sakura und fragte sich, wie Farid nur so blind sein konnte. Man musste kein Spezialist sein, um zu erkennen, dass sie ein Mädchen war. Ihre Proportionen waren im Overall gut zu erkennen. Außerdem bildete Tim sich ein, zwischen Baseballmütze und Gesichtstuch eine rotbraune Locke entdeckt zu haben. Wie alle Runner tat Sakura alles, um anonym zu bleiben. Wichtig war ohnehin nur, dass sie hier gewesen war. Sie hatte an den Stahlträgern gehangen, genau an dieser Stelle.

Der Gedanke spornte ihn an. Sakura war nicht irgendeine Spielerin, sie war eine Göttin. Mutig, sportlich und verdammt clever. Und sein Vorbild. Vermutlich stammte sie auch aus Köln oder aus der Umgebung. Wie hätte sie sonst den Claim hier anbringen können? Wenn es einen Runner gab, den Tim wirklich bewunderte, dann war sie es. Und er würde sie nicht enttäuschen. Den Blick fest auf die Box gerichtet, arbeitete er sich weiter voran.

Der Song war fast zu Ende, als Tim an eine Stelle geriet, an der sein Handschuh abrutschte. Vielleicht war hier früher mal ein Nest gewesen, jedenfalls war der Kot frisch und schmierig. Tim hätte es erkennen müssen, wenn er seinen Blick weniger nach vorne und stattdessen mehr nach oben gerichtet hätte. Zum Glück hatte die andere Hand festen Halt.

Angewidert von der Schmiere verzog er das Gesicht. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Kehle war staubtrocken. Er räusperte sich und spuckte aus. Der Speichel flog und flog – der Abstand zum Wasser unter Tim schien dabei immer größer, die Schwärze des Flusses unter ihm immer bedrohlicher zu werden.

Reiß dich zusammen, dachte er. Nur noch zwei Meter. Gleich hast du’s geschafft. Denk an Sakura.

Er biss die Zähne zusammen, spannte seine Muskeln und atmete tief durch. Seitlich ausweichend, hangelte er um die schlüpfrige Stelle herum, suchte einen neuen Ankerpunkt und schwang vorwärts. Diesmal hatte er die richtige Entscheidung getroffen. Der Stahl war an dieser Stelle trocken und griffig.

Ging doch. Noch zwei Querträger.

Wie ein Roboter arbeitete er sich voran. Maß nehmen, vorwärtsschwingen, umgreifen. Perfekt.

Tim kniff die Augen zusammen. »Nimm Zwei« lag jetzt direkt vor ihm. Das stetige Blinken schien sich mit seinem Herzschlag zu synchronisieren. Noch war die Zeit nicht abgelaufen, der Mechanismus war weiterhin aktiv. Tim schwang vor und zurück, während er die Box ins Visier nahm. Sie klemmte in der Kreuzung zwischen zwei Trägern. Vermutlich war sie dort mit Magneten befestigt. Er wollte sich hochziehen, um den Auslöser zu bedienen, als er ein Detail bemerkte, das ihm aus der Ferne verborgen geblieben war. Da war ein Schloss. Ein Zahlenschloss. Winzig zwar, aber wirkungsvoll. Es versperrte den Zugriff.

Mist.

Fassungslos blickte Tim auf die Viererkombination, die im Moment auf 0-0-0-0 stand. In der Beschreibung hatte nichts davon gestanden. Eine vierstellige Zahl. Eine unendlich große Menge an Kombinationen.

Das war ein schlechter Scherz, oder? Wie sollte er jetzt auf die Schnelle die Kombination herausfinden?

Entsetzt über die unerwartete Wendung, hätte er um ein Haar den kleinen Zettel übersehen, der rechts neben dem Zahlenschloss klemmte. Er zupfte ihn raus und las die Worte, die da standen.

Was dachtest du, warum dieser Claim

»Nimm Zwei« heißt? Nomen est omen. Jetzt

hast du was zum Kombinieren. Good luck, S.

Tim konnte es nicht fassen. »Nimm Zwei« bedeutete also, dass man das Rätsel erst im zweiten Durchlauf lösen konnte.

Die Erkenntnis raubte Tim alle Energie. Während er noch auf das Zahlenschloss starrte, verlosch das Licht über seinem Kopf. Die Box hatte sich geschlossen. Das Spiel war aus, vorbei. Die ganze Mühe, der ganze Aufwand, umsonst. Und er hing hier wie eine überreife Kokosnuss.

Hilfe suchend blickte er über seine Schulter zu Farid. Sein Freund filmte mit seinem Handy und beobachtete ihn dabei fragend. Er rief ihm etwas zu, das Tim über die Musik hinweg aber nicht verstehen konnte. Seine Arme fühlten sich an wie Gummi. Die Finger in den Handschuhen wurden rutschig vom Schweiß. Er musste zurück, und zwar schnell.

Vorsichtig griff er um, machte eine Hundertachtzig-Grad-Drehung und wollte gerade nach vorne schwingen, als etwas aus einer dunklen Ecke neben der Box herausgeflattert kam und über seinen Arm kratzte. Tim erschrak dermaßen, dass er ins Leere griff.

Eine Taube, schoss es ihm durch den Kopf, dann fiel er.

Er wollte schreien, doch sein Hals war wie zugeschnürt. Wind brauste ihm um die Ohren. Dann klatschte er mit den Füßen voraus ins Wasser.

Kalt war es, dunkel und hart wie ein Brett. Der Rhein presste ihm die Luft aus den Lungen. Das Letzte, was Tim sah, ehe die dunklen Fluten über seinem Kopf zusammenschlugen, war Farid, der immer noch das Handy auf ihn gerichtet hielt und alles filmte.

World Runner (1). Die Jäger

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