Читать книгу World Runner (1). Die Jäger - Thomas Thiemeyer - Страница 20
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Sie entdeckte ihn, als er noch etwa hundert Meter entfernt war. Mit Höchstgeschwindigkeit kam Tim auf dem Fahrrad über den Waldweg gebrettert, eine Umhängetasche quer an der Seite tanzend.
Annika musste lächeln. Für einen Runner war das Fahrrad das beste Fortbewegungsmittel. Schnell, wenn es darum ging, von Ort zu Ort zu kommen, leise und unauffällig, wenn man eiligst verschwinden musste. Das silberne Billigrad war mit Macken und Lackschäden übersät und schien nur noch von Rost und gutem Willen zusammengehalten zu werden. Aber es war gut geschmiert und verrichtete anstandslos seinen Dienst.
Keuchend und schwitzend, hielt Tim vor ihr an. »Hi«, brummte er leicht verlegen. »Sorry, hat etwas länger gedauert. Diese verflixten Baustellen. Ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten?« Ein schüchternes Lächeln umspielte seinen Mund.
»Kein Problem«, sagte sie. »Hast du dein Zeug dabei?«
Er klopfte auf seine Tasche.
»Schön. Dann lass uns dort drüben auf die Wiese gehen. Da haben wir unsere Ruhe. Fahr einfach hinter mir her.« Die Riemen ihres Rucksacks festzurrend, stieg Annika auf ihr Mountainbike und trat in die Pedale.
Sie überquerten ein paar Gleise, hielt sich rechts und kam zu einer großen Wiese, deren Westseite in einen leichten Hang überging. An einer der vielen Bänke entlang des Weges machten sie halt. Sie stellten ihre Räder ab und setzten sich.
»Sie haben dir also endlich auch die GlobalGames-Box geschickt?« Annika blickte vielsagend auf seine Tasche. »Hat ja ganz schön gedauert.«
Tim sah sie kopfschüttelnd an. »Woher wusstest du überhaupt, dass ich auch eine bekommen würde?«
»Nun, ich kann eins und eins zusammenzählen.« Sie lächelte. »Dass du mein Rätsel gelöst hast, dürfte dir die nötigen Punkte eingebracht haben, um unter die Top 100 zu kommen. Auch wenn es zeitlich ziemlich eng war. Hast du mal nachgesehen, wo du gerade stehst?«
»Platz 78.«
»Na, siehst du. Das dürfte sich auch auf deinem Patreon-Konto bemerkbar gemacht haben, oder?«
Tim nickte.
Sie vermied es, ihn offen anzustarren, nahm aber trotzdem einiges wahr. Tim schien aus einfachen Verhältnissen zu kommen. Er trug Billigjeans, seine Schuhe waren ausgelatscht und die Tasche war so hässlich und retro, dass sie aussah, als hätte sie seinem Urgroßvater gehört. Tims strubbelige dunkle Haare hatten schon lange keine Friseurschere mehr gesehen, was ihn aber irgendwie verwegen wirken ließ. Ein Abenteurer, das gefiel Annika sofort.
»Wie geht es Emily?«, erkundigte sie sich. »Deine kleine Schwester ist ja ganz schön helle.«
»Ist sie«, erwiderte Tim. »Und frech wie ein Eichhörnchen. Aber seit ich sie in mein kleines Geheimnis eingeweiht habe, kommen wir besser miteinander klar. Sie war es übrigens, die dein Rätsel geknackt hat.«
»Weiß ich doch. Das hat sie mir natürlich sofort erzählt«, erwiderte Annika. »Aber hiervon erzählst du ihr nichts, oder? Du weißt ja, es muss erst mal geheim bleiben!«
Er zuckte die Schultern. »Das dürfte schwierig werden. Sie weiß schon zu viel. Außerdem ist es ganz praktisch, eine Verbündete im Haus zu haben. Farid hingegen werde ich erst mal nicht einweihen. Er dürfte zwar ganz schön sauer sein, wenn er davon erfährt, aber mir ist das zu heiß. Überhaupt ist das für mich alles noch ziemlich neu. Um ehrlich zu sein, ich verstehe gerade nur Bahnhof. Vielleicht kannst du mir ein paar Sachen erklären.«
»Deswegen sind wir hier.« Sie sah ihn aufmerksam an. »Also schieß los. Was willst du wissen?«
Er blickte auf seine Tasche. »Eigentlich alles …«
»Oh.« Sie hob verwundert die Brauen. »Dann hast du deine Geräte noch gar nicht eingeschaltet?«
Verlegenes Kopfschütteln. »Technik ist nicht so meins.«
»Okaaay …« Sie streckte den Arm in Richtung Tasche aus. »Darf ich?«
»Klar.« Er öffnete ihr den Lederbeutel.
Annika nahm die Sende-/Empfangseinrichtung und drückte den Schalter auf On. Dann ergriff sie das GPS-Gerät. »Hast du dein Smartphone dabei?«
»Bitte sehr.«
Wie jeder Runner trug er auch eine Powerbank bei sich, die er aber noch nicht angeschlossen hatte. Sie zog ein kleines Verbindungskabel aus dem GPS-Gerät und stöpselte es in die Ladebuchse seines Handys. Dann drückte sie auch dort den Startknopf.
»So, hier«, sagte sie. »Du musst jetzt nur noch dein Passwort eingeben und auf weitere Anweisungen warten. Die Installation läuft ganz von alleine.«
»Und die Software ist sicher? Keine Trojaner oder so?« Argwöhnisch starrte er auf den Fortschritt des Installationsbalkens. »Ich hab echt kein Interesse daran, mir aus irgendeiner unbekannten Quelle Daten zu ziehen. Damit habe ich ziemlich schlechte Erfahrungen gemacht.«
»Keine Sorge«, sagte Annika. »Ich bin da auch sehr vorsichtig und habe schon einen kompletten Virenscan gemacht. Scheint alles sauber zu sein. Aber ich kann dein Misstrauen verstehen. Ist halt immer ein Risiko, wenn man sich anderen anvertraut.« Sie warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu, doch Tim war ganz und gar mit der Installation beschäftigt.
Der Balken leuchtete jetzt grün, das Zeichen, dass die Synchronisierung der Geräte abgeschlossen war. Dann ertönte ein durchdringendes Piepsen und die Geräte führten einen Neustart durch. Tim blickte entsetzt auf das schwarze Display. »Ist das normal?«
»Keine Sorge«, sagte Annika. »Die Installation ist abgeschlossen und dein Handy mit den anderen Geräten gekoppelt. Niemand außer dir kann sie jetzt benutzen. Ist wie ein elektronischer Fingerabdruck. Gleich geht’s los. Du kannst das GPS wieder trennen.«
Tim tat es und wartete, bis sein Handy hochgefahren war. Auf dem Startbildschirm erschien das Logo von Stevenson-Enterprises.
»Und jetzt?«
»Starte das Programm und sieh zu, was passiert.«
Er zuckte zusammen. Auf dem Display war eine Dame in roter Kleidung erschienen. Sie trug eine Uniform, mit dazu passendem Barett, beides mit dem Firmenlogo von Stevenson-Enterprises.
»Hallo Tim!« Er riss die Augen auf, als die Frau ihn direkt ansprach. »Schön, dass du da bist. Ich begrüße dich zum nationalen GlobalGames-Event und freue mich, dass du zu den einhundert Spielern gehörst, die hier gegeneinander antreten dürfen.
Die Wettkämpfe erstrecken sich über einen Zeitraum von einer Woche und enden mit der Lösung der siebten Aufgabe. Unter allen Runnern, die die Aufgaben erfolgreich bewältigt haben, werden wir fünf Spieler auswählen, die zu einem besonderen Ereignis eingeladen werden. Was sich dahinter verbirgt, erfahrt ihr jedoch erst zum Ende des Events. Aber eines ist sicher: Es wird das Bedeutsamste sein, was ihr je erlebt habt.«
»Cool, oder?«, kommentierte Annika.
»Hm.« Tim runzelte die Stirn. »Ein paar mehr Infos wären nicht schlecht. Es würde mich schon interessieren, wer dahintersteckt und ob das mit den tausend Euro wirklich stimmt. Das ist ja eine ganz schön krasse Summe. Ist das eigentlich eine Aufzeichnung?«
Sie wiegte den Kopf. »Eher so etwas wie ein interaktives Programm. Du kannst es aber jederzeit stoppen und noch einmal von vorne beginnen. Ich habe es mir bestimmt fünfmal angesehen.«
»Alles klar«, murmelte er und drückte wieder auf Play. »Wie du aus dem Brief bereits erfahren hast«, fuhr die Frau auf dem Display fort, »wird der Wettkampf zeitgleich für alle Teilnehmer starten. Der Starttermin ist Mittwoch, der 20. Juli, Punkt zwölf Uhr Mittag. Zu diesem Zeitpunkt wirst du deine erste Aufgabe erhalten. Du solltest dich mit den neuen Geräten vertraut machen. Sie werden deine ständigen Begleiter bei diesem Wettkampf sein. Das GPS solltest du deswegen dabeihaben, weil wir dich an Orte führen, an denen der Netzempfang zu schwach sein kann. Falls du noch Fragen hast, ich werde weiterhin hier sein, um dir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Doch zunächst starten wir mit einem kleinen Tutorial. Bist du bereit?«
Tim nickte.
»Du musst antworten«, flüsterte Annika.
»Ja«, entgegnete Tim mit fester Stimme. »Ja, ich bin bereit.«
»Schön«, sagte die Rote Dame und lächelte. »Das Programm auf deinem Handy verwendet die sogenannte Augmented Reality. Über das Bild, das deine Kamera liefert, werden dreidimensionale Darstellungen oder Animationen gelegt, die niemand außer dir sehen kann. Du solltest die Kamera an deinem Handy daher immer eingeschaltet lassen. Nun stell dich aufrecht hin und sieh dich um. Was erkennst du?«
»Da ist ein Pfeil auf dem Boden.«
»Sehr gut.« Die Frau strahlte. »Er deutet in die Richtung, in die du gehen solltest. Gleichzeitig ist auf deinem GPS eine Karte erschienen. Sie weist auf einen bestimmten Punkt in deiner Umgebung. Kannst du ihn sehen?«
»Ja …«
»Worauf wartest du dann noch? Geh hin.«
Annika fand es immer noch faszinierend, dass das Programm jeden, der mit ihm sprach, so genau zu kennen schien. Natürlich kannte man das schon von anderen Systemen, aber dies hier reichte weiter als alles, was sie bislang gesehen hatte.
Tim hatte sich bereits auf den Weg gemacht. Er schien alles um sich herum vergessen zu haben. Annika nahm ihre beiden Fahrräder und schob sie hinter ihm her.
Die Rote Dame führte sie nach Norden. Über die Marcel-Proust-Promenade und links einen steilen Hügel hinauf. Die kreisrunde Fläche oben wurde von Bäumen umringt, neben denen weitere Bänke standen. Hätten sie nicht Wichtigeres zu tun gehabt, Annika wäre glatt versucht gewesen, die schöne Aussicht zu genießen. Eine Tafel informierte sie, dass sie sich hier auf dem Dreizehn-Linden-Platz befanden.
Tim steuerte den Mittelpunkt des Kreises an und blieb dort stehen. »Ich glaube, hier ist es«, sagte er. »Sieh mal.« Er hielt Annika das Handy entgegen. Auf dem Bildschirm war ein virtueller Steinsockel zu sehen, auf dem eine Flagge wehte. Wie zu erwarten, war sie rot und mit den Buchstaben SE versehen. Annika grinste. In diesem Spiel wurde heftiges Product Placement betrieben. Beeindruckend war die Darstellung trotzdem. Hier stimmte jedes Detail. Manche der Steine waren sogar mit Moos bewachsen. Hätte man ein Foto davon geschossen, niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es sich um eine Grafik handelte. Hinter dem Steinsockel tauchte jetzt die Rote Dame auf. »Bravo Tim, du hast dein Ziel erreicht«, sagte sie. »Nun noch eine kleine Aufgabe, dann kannst du die Lösung unten ins Textfeld eingeben und mit der Okay-Taste bestätigen. Die Frage lautet: Welche Zahlen siehst du auf der Schautafel?«
Tim ging zu der Infotafel und las, was jemand mit einem Edding darübergeschmiert hatte. »933, oder?«
»Stimmt«, flüsterte Annika.
Tim tippte die Zahlen ein und drückte auf Okay. Die Frau wirkte zufrieden. »Nun öffne die Sende-/ Empfangseinrichtung, lege dein Handy hinein und schließe sie wieder.«
Tim nahm die schwarze Box, suchte ringsherum, fand den Öffnungsmechanismus und tat, was die Frau gesagt hatte.
»Fertig.«
»Sehr schön. Jetzt musst du nur noch deinen Claim loggen. Drücke dafür den schwarzen Knopf in der Mitte des Gerätes und dein Ergebnis wird offiziell gewertet.«
Ein kurzes Summen war zu hören, ein Licht blitzte auf, dann ertönte ein Gong.
»Gut gemacht«, sagte die Dame. »Du kannst dein Handy jetzt wieder herausnehmen. Damit bist du nun offiziell für die Spiele angemeldet. Gibt es noch weitere Fragen?«
»Äh, nein …«
»Sehr schön. Ansonsten weißt du ja, wo du mich findest. Ich wünsche dir viel Vergnügen und Erfolg. Wir sehen uns dann auf der Ziellinie.« Ein letztes Augenzwinkern, ein letztes Winken, dann war sie verschwunden – und mit ihr der Steinsockel und die Fahne.
Tim glotzte jedoch immer noch auf sein Handy.
Annika tippte ihm auf die Schulter. »Na, hab ich dir zu viel versprochen?«, erkundigte sie sich zufrieden.
Er schüttelte sich. »Wow, also das war ja …«
»Das hat was, oder?« Sie nickte.
»Hat diese Frau dich auch hierhergeführt?«, fragte Tim neugierig.
Annika schüttelte den Kopf. »Bei mir war es die Mitte einer Verkehrsinsel. Längst nicht so ruhig und entspannt wie hier. Also, jetzt weißt du ja, wie alles funktioniert, und kannst zum Turnier antreten. Ich wünsche dir viel Glück dabei.«
»Moment mal, willst du schon fahren?«
»Ich muss los, ja. Klavierunterricht.«
»Aber …« Tim sah sie enttäuscht an. »Darf ich dich nicht wenigstens zu einem Eis einladen? Als Dank für deine Hilfe?«
»Vielleicht später mal«, erwiderte Annika. »Ich muss wirklich los. Und vergiss nicht, ab Mittwoch werden wir Gegner sein. Dann heißt es du oder ich. Und ich verspreche dir, ich werde nicht zögern, nur weil wir uns kennen.«
»Das musst du auch nicht. Nur ein Eis.«
Sie zögerte. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Gerne hätte sie gewusst, was er so tat, wenn er nicht GlobalGames spielte, wie ihm ihre Musik gefiel und welche Filme er gerne sah. Aber eine Verabredung hätte sie immer weiter in die Richtung geführt, in die sie eben nicht gehen wollte.
»Nein«, sagte sie deswegen entschieden und versuchte, die aufkommende Traurigkeit vor Tim zu verbergen. »Ist besser so, glaub mir. Grüß deine Schwester von mir und auch Farid, wenn du ihn siehst. Und viel Glück beim Spiel. Möge der Bessere gewinnen.«