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Annikas Hände glitten voller Gefühl über die Klaviertasten. Mal schlug sie fester an, dann berührte sie sie ganz zart. Durch ihre Finger wurde sie eins mit dem Instrument, als würden die Töne durch sie hindurchgleiten. Es gab Musikstücke, die man nur ein einziges Mal zu hören brauchte, damit sie sich unauslöschlich ins Gedächtnis brannten.

Beethovens Klaviersonate Nr. 14 in cis-Moll, die sogenannte Mondscheinsonate, war eines dieser Stücke. Drei Sätze, einer virtuoser als der vorangegangene. Und anspruchsvoller. Franz Liszt, der selbst ein großartiger Klaviervirtuose war, hatte seinen Schülern nie erlaubt, die Sonate zu spielen. Sie war zu schwierig und er hasste es, wenn sie schlecht gespielt wurde.

Annika bereitete das Stück keine Probleme. Sie spielte es seit ihrem elften Lebensjahr. Wenn man den Worten ihrer Lehrerin glaubte, hatte ihr Spiel eine Kunstfertigkeit erreicht, die selten zu finden war. »Du musst aufs Konservatorium«, wiederholte Madame Abramovic gebetsmühlenartig mit schwerem russischem Akzent. Sie unterrichtete Annika, seit sie sieben war. »Du musst, hörst du? Ich unterrichte seit dreißig Jahren und habe etliche Meisterschüler ausgebildet. Doch du übertriffst sie alle. Du könntest eine der besten werden, wenn du nur willst. Aber dafür musst du mehr üben. Sieh mir in die Augen, Anuschka, Schätzchen. Versprich mir, dass du mehr üben wirst. Vier Stunden täglich. Minimum!«

Doch es gab ein Problem: Annika wollte nicht. Auch wenn sie in der Schule keine Probleme hatte, musste sie doch dafür lernen. Vor allem für die Naturwissenschaften.

Schule und Musik zusammen waren dann doch ein ziemlicher Zeitfresser. Beethoven hin oder her, das Leben hatte so viel mehr zu bieten als Klaviertasten und Lernen.

Zum Beispiel GlobalGames. Neben Fechten ihre große Leidenschaft. Hier konnte Annika sie selbst sein, brauchte sich nicht schick zu machen, um vor alten Leuten das dressierte Äffchen zu spielen. Hier durfte sie Turnschuhe tragen, Jogginghose und Sweatshirt. Sie durfte schwitzen, stinken und Rockmusik hören, Schätze bergen und Schätze legen. So lange, bis ihr die Arme abfielen. GlobalGames bedeutete für sie Adrenalin pur. Etwas, das mehr war als nur ein Spiel – eine eigene Welt. Allerdings eine, die ihre Eltern niemals verstehen würden, weswegen Annika erst gar nicht versuchte, es ihnen zu erklären. Die beiden dachten immer noch, sie würde die Woche zweimal brav zum Tennis gehen. Eine Notlüge, die nur deswegen funktionierte, weil ihre Freundinnen fest zu ihr hielten. Sie hatten Annika eine Scheinidentität gebastelt, die jeder Überprüfung standhielt. Wohl dem, der solche Freundinnen besaß und keine nervigen Geschwister, die einen bei jeder sich bietenden Gelegenheit anschwärzten.

Annika war gerade beim Presto agitato angelangt, dem dritten und letzten Satz, als sie aus der Ferne das Läuten der Türglocke hörte. Sie ignorierte es und konzentrierte sich auf die Musik. Die Melancholie des ersten Satzes war einer tosenden, ungezähmten Sehnsucht gewichen, die sie von einem emotionalen Höhepunkt zum nächsten jagte.

»Annika!«, ertönte die Stimme ihres Vaters aus dem Flur. »Annika!«

Boah, Papa nervte heute. Aber an Samstagen war es besonders schlimm. Wenn er nicht zur Arbeit gehen durfte, wusste er kaum etwas mit sich anzufangen.

»Sag mal, bist du taub?«

Papa war in der Tür erschienen, ein vorwurfsvoller Ausdruck auf seinem Gesicht. Die Hände hatte er theatralisch in die Hüften gestemmt. Dass er so mitten in ihr Klavierspiel hineinplatzte, war typisch: Die Musik selbst bedeutete ihm im Grunde nichts.

Entnervt ließ sie ihre Hände auf die Tasten sinken. »Was gibt es denn?«

»Post für dich. Der Paketbote.«

Verwundert sah sie ihn an. »Warum hast du das Paket denn nicht einfach für mich angenommen?«

»Es ist eine persönliche Zustellung an dich, da, schau …«, er wedelte ungeduldig mit einem Zettel vor ihrer Nase herum. »Du musst es selbst entgegennehmen und hier was unterschreiben.«

Annika brauchte einen Moment, um aus der Welt der Musik zurück in die Realität zu finden. Sie drückte sich hoch und lockerte ihre verspannten Schultern. Auf dem Weg in Richtung Tür warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Oje. Ihre Haare standen ab, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Eindeutig zu viel Beethoven.

Hastig strich sie sich über die zerzausten Locken und öffnete die Tür. Der Mann vor ihr trug einen roten Overall, auf dem in Türkis ein Firmensymbol prangte: SE. Der Kleintransporter, der auf ihrer Zufahrt stand, war ebenfalls rot.

»Annika Siebert?«

»Das bin ich, ja.«

Der Mann hielt ein Gerät in der Hand, auf dem sich ein hell leuchtendes Display befand. War sie das auf dem Bild? Der Bote sah sie prüfend an, verglich sie mit dem Bild auf seinem Display und nickte dann.

»Alles klar. Zweifelsfrei identifiziert. Hier ist deine Sendung.« Er drückte ihr ein schuhkartongroßes Päckchen in die Hand, das überraschend schwer war. »Wenn du mir den Erhalt bitte hier quittieren würdest?« Er hielt ihr das Gerät hin. Statt des Fotos befand sich dort jetzt ein Eingabefeld für Unterschriften. Annika nahm den Stift und unterzeichnete unsicher. »Von welchem Paketdienst sind Sie eigentlich?«

Der Mann tippte auf das Emblem. »Stevenson-Enterprises.«

»Nie gehört. Sind die neu?«

»Speziallieferungen«, sagte er, als ob das irgendetwas erklären würde. Er deutete auf das Paket und grinste. »Viel Spaß damit.«

Annika blickte ihm hinterher, bis er hinter den Bäumen verschwunden war. Sie schüttelte das Paket. Der Typ hatte ausgesehen, als wüsste er, was sich dadrin befand.

Sie konnte sich nicht erinnern, irgendetwas bestellt zu haben. Auch der Aufkleber ließ keine Rückschlüsse zu. Als Absender stand da nur Stevenson-Enterprises. Annika runzelte die Stirn. Scheinbar war das gar kein normaler Paketdienst gewesen, sondern ein privater Firmenbote.

Stevenson-Enterprises. Annika beschloss, das später mal zu googeln. Komisch auch, dass da nichts klapperte. Fühlte sich an wie ein einziger schwerer Gegenstand.

Ihr war nicht ganz geheuer bei der Sache. Wer weiß, was dadrin ist, dachte sie etwas unbehaglich und versuchte, sich allzu wilde Spekulationen zu verkneifen.

Auf dem Weg durchs Haus achtete Annika darauf, ihren Eltern aus dem Weg zu gehen. Was sie jetzt am wenigsten brauchen konnte, waren neugierige Fragen. Doch zum Glück telefonierte ihre Mama und ihr Papa war hinterm Haus mit dem Rasenmäher zugange.

In ihrem Zimmer angekommen, schloss sie vorsichtshalber hinter sich ab. Dann startete sie den Laptop und klemmte sich hinter die Tastatur.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Website gefunden hatte. Stevenson-Enterprises – building a better tomorrow. Was auf der Seite zu lesen stand, beeindruckte Annika. Inhaberin des Konzerns war eine gewisse Shenmi Stevenson. Amerikanerin mit asiatischen Wurzeln. Eine der erfolgreichsten Unternehmerinnen der Welt. Ihr Konzern umfasste Firmen, die modern und zukunftsgerichtet waren. Eine Firma für den Bau moderner Roboter war dabei. Elektroautos, ein Raumfahrtunternehmen sowie …

Annika stockte der Atem.

Sie ging näher an den Bildschirm heran, um sicherzugehen, dass sie sich nicht irrte. Hier stand, dass GlobalGames ebenfalls zum Portfolio von Stevenson-Enterprises gehörte.

Annikas Blick wanderte vom Bildschirm zum Paket. Täuschte sie sich oder sah es auf einmal anders aus? Es erschien größer als vorhin, bedeutungsvoller. Wie etwas, das seine Form nach Belieben verändern konnte. Es sah aus wie etwas, dass das Zeug hatte, ihre Welt gehörig auf den Kopf zu stellen.

World Runner (1). Die Jäger

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