Читать книгу Evolution Bundle - Thomas Thiemeyer - Страница 46

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Der Bus war bereits in Sichtweite, als Jem auf einmal das beunruhigende Gefühl überkam, dass dort etwas nicht stimmte. Er sah Marek, er sah Paul und Katta, aber wo waren Lucie und Connie? Marek gestikulierte heftig, doch die anderen standen nur betroffen herum und schüttelten die Köpfe.

Paul war der Erste, der sie erblickte. Hektisch riss er die Tür des Busses auf und kam ihnen entgegengerannt.

»Da seid ihr ja endlich! Wir dachten schon, euch wäre etwas passiert. Alles okay bei euch?«

»Abgesehen davon, dass wir weder Bennett noch Jaeger gefunden haben, ist alles okay«, entgegnete Jem. »Aber was ist bei euch los?«

»Kommt mit in den Bus, dann erzähle ich euch alles.« Er blickte auf M.A.R.S. und sagte verwundert: »Woher habt ihr das Rad, wenn ihr Bennett und Jaeger nicht begegnet seid?«

Jem deutete mit dem Kopf Richtung Bus. »Drinnen.« Er war bis auf die Knochen durchweicht.

Lucie lag auf der Rückbank. Sie hatte die Arme um ihre angezogenen Knie geschlungen und wirkte völlig weggetreten. Wie ein Kind sah sie aus, zerbrechlich und verwundbar. Jem tat es in der Seele weh, sie so zu sehen. Irgendjemand hatte eine Decke über sie gelegt, trotzdem zitterte sie am ganzen Körper.

»Wir haben sie unter dem Bus gefunden«, berichtete Marek. »Sie lag neben einem der Räder und zitterte am ganzen Leib. Als wir versucht haben, sie in den Bahnhof zu bringen, hat sie geschrien und um sich geschlagen.«

»Deswegen haben wir sie im Bus untergebracht«, ergänzte Katta. »Keine Ahnung, was los ist, aber sie scheint eine panische Angst vor dem Gebäude zu haben.«

»Und Connie?«

Marek zuckte die Schultern. »Keine Spur von ihr.«

»Sieht aus, als stünde sie unter Schock«, überlegte Jem sorgenvoll. Ihm kamen die Symptome bekannt vor. Einer seiner Kumpels war mal von einem Auto angefahren worden, der hatte damals genauso ausgesehen. Irgendetwas Schreckliches musste vorgefallen sein.

»Hallo Lucie«, sagte er sanft, während er sich neben sie hockte. Er strich ihr eine rote Locke aus dem Gesicht und berührte dabei ihre Haut. Er erschrak. Sie fühlte sich eiskalt an. Und das, obwohl es hier drinnen warm war wie in einer Sauna. Die Berührung ließ sie zusammenfahren. Ruckartig richtete sie sich auf und presste sich in die Ecke.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, flüsterte er und nahm die Hände von ihr. »Wir sind alle wieder da. Stell dir vor, wir haben ein Reserverad gefunden. M.A.R.S. wird es gleich montieren, dann können wir hier wieder weg. Möchtest du das? Möchtest du gerne zu den anderen am Flughafen zurückkehren?«

Keine Reaktion. Lucie war völlig apathisch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Ferne. Mit einem Mal fingen ihre Lippen an, sich zu bewegen. Doch es kam kein Ton heraus. Jem beugte sich vor und legte sein Ohr an ihren Mund. Tatsächlich, jetzt hörte er Worte. Ganz leise.

»Spektrum …«, hörte er sie sagen. »Jenseits des Sichtbaren … Regenbogen aus Dissonanz … Orchester aus Licht …«

Er runzelte die Stirn. Farben? Er wusste ja, dass Worte und Geräusche bei ihr Farben auslösten. Aber was hatte sie gesehen?

»Ich verstehe nicht«, sagte er sanft. »Was ist passiert, wo ist Connie?«

Schlagartig änderte sich ihr Ausdruck. Sie fing an zu keuchen, schnappte nach Luft. »Connn…nieee«, stöhnte sie. »Zähne. Klauen. Das Lächeln des Todes.« Sie warf sich auf die andere Seite. »Gehe deinen Weg. Sss…singe dein Lied, tanze deinen Tanz. Renne dorthin zzz…zurück, woher du gekommen bist, und kehre nie wieder zzz…zurück.«

Ihre Augen irrlichterten in der Gegend herum. Ihre Finger tasteten in die Luft, als wollten sie nach etwas greifen. Eine Weile sah es so aus, als würde sie mit irgendetwas kämpfen, dann sackte sie zusammen und rollte sich wieder ein.

Jem wich zurück. Er spürte Mareks Hand auf seiner Schulter.

»Was tust du denn da, Compadre? Du solltest sie beruhigen, nicht noch mehr aufregen.«

»Ich weiß nicht, was mit ihr los ist«, sagte Jem. »Es fing an, als ich Connies Namen erwähnt habe.«

»Konntest du etwas verstehen?« Zoe blickte neugierig über Arthurs Schulter.

Jem schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Sie ist total fertig. Ich fürchte leider, dass Connie etwas zugestoßen ist.«

»Um Gottes willen«, flüsterte Olivia.

»Frag sie, was es mit diesen Farben auf sich hat«, drängte Paul. »Und wenn du schon dabei bist, frag sie auch gleich nach den Zähnen.«

»Und nach dem Lächeln des Todes«, sagte Arthur. »Ich finde, das klingt am gruseligsten.«

Jem schüttelte den Kopf und stand auf. »Leute, so hat das keinen Sinn. Am besten, ihr geht alle mal raus. Lucie braucht jetzt Ruhe. Außerdem gibt es genug zu tun. Ihr könnt doch schon mal das Rad austauschen. Arthur kann die Computerdateien auswerten, der Rest holt den Proviant aus dem Bahnhof.«

»Wieso?«, fragte Zoe. »Willst du zurückfahren?«

»Je eher, desto besser«, stieß Jem aus. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Überlegt doch mal: Wir wurden alle unabhängig voneinander angegriffen. Bennett und Jaeger, wir und jetzt vermutlich auch noch Lucie. Das sieht mir sehr nach einem koordinierten Angriff aus.«

»Aber von wem?«, fragte Olivia.

»Keine Ahnung, aber das ist doch kein Zufall! Wir warten noch kurz, ob irgendjemand zurückkehrt, dann machen wir hier den Abgang. Diese Stadt ist eine gottverdammte Todeszone, das spüre ich.«

»Klingt ausnahmsweise mal vernünftig«, brummte Marek. »Also raus mit euch.« Er schob die anderen vor sich her und endlich kehrte Ruhe ein.

Jem stand da und betrachtete Lucie. Sie lag immer noch da und sprach kein Wort. Er überlegte, wie er wohl am besten an sie herankam. Seine bisherigen Versuche waren allesamt gescheitert. Vielleicht sollte er sie irgendwie ablenken? Ihm fiel bloß nicht ein, wie. Doch dann kam ihm der Gedanke. Er war ihr ja noch etwas schuldig. Eine Geschichte.

Seine Geschichte.

Er setzte sich neben sie. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger wusste er, wie er anfangen sollte. Er war nicht mal sicher, ob diese Geschichte überhaupt geeignet war, um Lucie aus ihrem Schockzustand zu erlösen. Da ihm aber nichts Besseres einfiel, fing er einfach an.

»Du erinnerst dich doch bestimmt, dass ich dir noch etwas erzählen wollte«, sagte er. »Über mich und meine Vergangenheit. Nun ja …« Er räusperte sich. »Ich hab schon ein paar krasse Dinge abgezogen – Klauen, Schlägereien, all so was. Aber eine Sache war echt heftig. Also richtig heftig. Willst du wissen, was das war?« Er lächelte gequält. »Klar willst du das wissen. Das war ja der Deal. Du erzählst mir deins, ich erzähl dir meins. Also …«, er atmete tief durch, »mit zwölf bin ich mal auf jemanden mit einem Messer los. Und zwar nicht auf irgendwen. Es war mein Vater.«

Er bemerkte, dass ihre Augen nicht länger ziellos durch die Gegend wanderten, sondern ihn jetzt ansahen. Ihr Atem ging ruhiger und sie schien zu lauschen.

»Es ist jetzt knapp vier Jahre her, dass ich meinem Dad ein Küchenmesser hier reingejagt habe.« Er deutete auf das linke Schulterblatt. »Hat nicht viel gefehlt und ich hätte ihn umgebracht. Zum Glück ist das Messer am Schulterknochen abgebrochen. Nur die Spitze steckte noch drin. Was schlimm genug war.«

Lucies Augen waren weit aufgerissen. Vermutlich war sie total geschockt. Ihm kamen starke Zweifel, ob er nicht einen riesigen Fehler machte, ihr das zu erzählen. Vor allem jetzt. Vielleicht hatte sie damit gerechnet, dass er ein paar kleinkriminelle Taten gestehen würde, Diebstähle oder so. Aber sicher nicht, dass er tatsächlich versucht hatte, seinen Vater umzubringen.

»Mein Alter war ein Trinker«, sagte er zur Erklärung. »Er hat sich regelmäßig zugesoffen und dann angefangen, auf meine Mutter loszugehen. An mich hat er sich nicht rangetraut. Ich war mit zwölf schon ziemlich kräftig. Mixed Martial Arts, Streetfights und so.« Er schüttelte den Kopf. »An einem Abend war es besonders schlimm. Ich hörte, wie Mom und Dad sich wieder in der Küche stritten. Es ging mal wieder um Geld. Ich wollte mich heimlich in mein Zimmer schleichen, aber dann habe ich durch den Türspalt gesehen, wie er ausholte und sie schlug. Nicht einfach nur so eine kleine Ohrfeige, sondern richtig heftig und mit voller Wucht.«

»Oh nein.«

Jem blickte überrascht auf. Lucie hatte ihre Stimme wiedergefunden! Sie hing jetzt förmlich an seinen Lippen.

»Hallo Lucie«, sagte er. »Wie geht es dir? Magst du einen Schluck Wasser?« Er hielt ihr seine Trinkflasche vor die Nase.

»Nicht aufhören«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Erzähl weiter. Du hast auf deinen Vater eingestochen.«

»Ja«, sagte er. Er hatte einen Kloß im Hals. »Aber nur, weil ich Angst um meine Mutter hatte. Zu Dads Ehrenrettung muss ich sagen, dass er das bis dahin noch nie gemacht hat. Geflucht, geschrien, Geschirr zerdeppert – ja –, aber noch nie richtig zugeschlagen.«

»Und dann?«

Jetzt, da er über seinen Schatten gesprungen war und darüber zu reden begonnen hatte, fiel es ihm leicht weiterzuerzählen. Außerdem fühlte er sich wohl in Lucies Nähe, er wusste, dass sie sein Geheimnis für sich behalten würde. »Keine Ahnung, was in diesem Moment mit mir passiert ist, aber ich habe einfach nur noch rot gesehen. Ich bin in die Küche gestürzt. Meine Mutter lag am Boden, mein Vater stand mit erhobener Hand über mir und da … da …«

»Und da hast du ein Messer genommen und auf ihn eingestochen.«

Er nickte. »Ja.«

»Aber du hast doch nur deine Mutter verteidigt.« In Lucies Gesicht war wieder ein wenig Farbe zurückgekehrt. Außerdem schien ihr langsam wärmer zu werden. Sie zog die Decke runter.

»Ich glaube, du hast richtig gehandelt.«

»Ich bin mir da nicht so sicher.«

»Du hattest nicht viel Zeit zum Nachdenken und wolltest helfen.«

»Vielleicht.« Er nickte nachdenklich. »Andererseits hätte ich ihn auch einfach wegstoßen oder ihn irgendwie anders aufhalten können …«

Sie schüttelte den Kopf. »Du warst in Panik. Du warst zwölf.« Sie sprach ruhig und deutlich. Fast schon wieder normal. »Und was ist dann passiert?«, fragte sie zaghaft.

Jem zuckte die Schultern. »Er musste natürlich ins Krankenhaus. Die Polizei kam und nahm alles auf, aber es wurde nichts unternommen. Nach deutschem Recht ist man erst ab vierzehn schuldfähig. Das Familiengericht hat mich aber zu einem Anti-Aggressivitäts-Kurs, gemeinnütziger Arbeit und einem Besuch beim Psychiater verdonnert.«

»Echt jetzt?« Lucie sah ihn mit großen Augen an. »Und weiter?«

»Viel ist da nicht mehr zu erzählen. Die Therapeutin diagnostizierte ein Frustrations-Aggressions-Trauma ausgelöst durch eine frühkindliche Depression. So stand es im Bericht.

Mein Vater und meine Mutter haben sich kurze Zeit später getrennt. Er ging zurück in die USA, Mom mietete uns eine kleinere Wohnung und da wohnen wir seitdem. Ich glaube übrigens, dass die Therapie tatsächlich etwas gebracht hat. Ich habe mich inzwischen viel besser im Griff. Keine Einbrüche mehr, keine Diebstähle.« Er versuchte zu lächeln, spürte aber, wie schwer ihm das fiel. Die Geschichte zerrte immer noch ganz schön an seinen Nerven. Aber wenigstens hatte er es geschafft, Lucie aus ihrem Schockzustand zu erlösen.

»Danke, dass du mir das erzählst«, sagte sie leise. »Nur eines verstehe ich nicht …«

»Und das wäre?«

»Wenn du mit deinem Vater so zerstritten bist, warum willst du ihn dann besuchen?«

Er dachte darüber nach, wie er es am besten formulieren sollte, dann sagte er: »Ich bin der Meinung, dass jeder eine zweite Chance verdient hat. Zu seiner Schwester hatte ich zwischendurch mal Kontakt. Die hat mir erzählt, dass er eine Entziehungskur gemacht hat und seitdem clean ist. Und immerhin ist er mein Vater. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ihn vor mir. Es gibt Fotos von früher, wo er mir aufs Haar gleicht.«

Lucie berührte sanft seine Hand. »Trotzdem mutig von dir. Du hast den ersten Schritt gemacht und dazu gehört schon was. Ich wünsche dir echt, dass wir diesem Irrsinn hier bald entkommen, damit du ihm das alles selbst sagen kannst …«

Sie sah ihn so intensiv an mit ihren grünen Augen, dass er seinen Blick nicht abwenden konnte.

»Lucie«, sagte er sanft. »Was ist da draußen geschehen?«

Sie senkte ihren Blick und schwieg. Jem wusste, dass er ihr Zeit geben musste, dass er sie nicht bedrängen durfte. Es verging Minute für Minute, während Lucie auf den Boden starrte und die Jem wie eine Ewigkeit vorkamen.

Schließlich sah sie ihn wieder an. »Connie ist tot«, sagte sie mit klarer Stimme.

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