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Extreme Stimmungsschwankungen und kein Ende

Sowohl in der Beziehung zu mir als auch zunehmend gegenüber Marco war Maras Denken und Verhalten weiterhin geprägt von nicht nachvollziehbaren Extremen.

Ich bin noch am Frühstücken, Mara räumt die Spülmaschine aus und beginnt zu schimpfen, die Maschine würde nicht richtig spülen. „Thomas, du bist fürs Haus verantwortlich und ständig ist etwas kaputt …“ Nach einer Weile entgegnet Marco ihr vom Tisch her: „Dir kann doch keiner etwas recht machen!“ Daraufhin explodiert Mara förmlich. Erst beschimpft sie Marco nach allen Regeln der Kunst, dann richtet sich ihre Laune gegen mich.

Nachmittags will ich die Photovoltaikanlage vom Schnee befreien und steige die Leiter hinauf aufs Dach. Marco beobachtete mich durch das Fenster. „Mama, was würdest du machen, wenn der Papa vom Dach fällt?“ – „Da drehe ich mich nicht einmal nach ihm um.“ Mit solchen herzlosen Aussagen gefällt sie sich am besten.

Am Abend desselben Tages gibt Mara eine weitere Kostprobe ab. Sie will zur Chorprobe der Kirchengemeinde und schaut zum Abschied in die Runde der Kinderaugen: „Tschüss! Der Papa bringt euch ins Bett. Ich komme erst später heim. Vielleicht komme ich auch gar nicht mehr und stürze mich die Brücke hinunter!“ Damit fällt die Haustür auch schon ins Schloss.

Die Kinder kennen die eindrückliche Brücke gut, sie liegt auf dem Weg in die Stadt; beim vor dem Zubettgehen spekulieren sie darüber, wie ihre Mutter das mit der Brücke gemeint haben könnte. Ich besänftige sie, gebe ihnen einen Gute-Nacht-Kuss und widme mich der Unterrichtsvorbereitung für den nächsten Tag.

Auf einmal steht Sofie weinend in der Tür: „Ich kann nicht einschlafen, vielleicht ist Mama etwas passiert.“ Ich versuche, sie zu beruhigen, und bringe sie wieder ins Bett. Später schaue ich nach ihr und finde sie immer noch wach. Mit verweinten Augen liegt sie in ihrem Bett. Ich kuschele mich an sie und bleibe dort liegen, bis sie endlich in den Schlaf findet.

Mara kommt richtig spät. „Ich habe mich nach der Probe noch wunderbar über unsere Familienproblematik unterhalten. Du hättest hören sollen, was ich für gute Ratschläge bekam. Das beste Gespräch meines Lebens.“ Ach ja, dann hat sie wohl wieder nur von ihrer Wahrnehmung berichtet, dachte ich mir, nur aus ihrer Sicht, und erzähle ihr, wie besorgt die Kinder gewesen sind. Maras Reaktion? „Das tut den Kindern gut. Ein bisschen Bangen tut ihnen nur gut!“

Ich blättere in meinem Tagebuch und lese, dass es nur zwei Wochen später erneut eine heftige Auseinandersetzung zwischen Mara und Marco gab; Anlass waren nicht aufgeräumte Klamotten, als sie die Böden wischte: Mara packte eine auf dem Boden liegende mehrere Kilogramm schwere Restpapierrolle aus einer Druckerei und schlug sie Marco auf den Kopf. Die Folge war eine riesige Beule, trotz einer aufgelegten kalten Kompresse.

Beängstigend war Maras Kommentar: „Ich konnte die Rolle nicht richtig greifen, sonst wäre sie mit noch viel mehr Wucht auf deinen Kopf geknallt.“

„Das nächste Mal zeige ich dich wegen Körperverletzung an!“, drohe ich ihr entsetzt – und bekomme den nassen Putzlappen vor den Latz. Solcherlei Demütigung bin ich mittlerweile gewohnt; ich nehme sie hin und gehe damit einer weiteren Eskalation aus dem Weg. Für den Rest des Tages klagt Marco über starke Kopfschmerzen.

Im Nachhinein betrachtet wäre eine Anzeige zum präventiven Schutz der Kinder möglicherweise der richtige Schritt gewesen; ich hoffte, schon die bloße Ankündigung einer Anzeige könnte Mara die Grenze aufzeigen. Doch zumindest hätte ich die Verletzung vom Arzt dokumentieren lassen sollen.

RATGEBER: Gewalt in der Familie

Kommt in der Familie häusliche Gewalt vor, will man den Verursacher nicht immer gleich anzeigen. Angesichts der familiären Nähe zum Täter braucht man manchmal Bedenkzeit.

Dennoch sollte man für ein eventuell späteres Verfahren die Verletzung von einem Arzt zeitnah dokumentieren lassen. In manchen Städten gibt es sogenannte Gewaltambulanzen; dort können Gewaltopfer kostenfrei einen Rechtsmediziner aufsuchen. Anders als Klinikärzte sind sie forensisch geschult und halten Spuren fest für ein mögliches Gerichtsverfahren. Wie immer unterliegen auch diese Ärzte der Schweigepflicht; sie stellen es dem Opfer frei, ob sie Anzeige erstatten wollen und wenn ja, wann.

Aufgrund meiner Erfahrung rate ich Ihnen zu einer ärztlichen Dokumentation der Verletzung Ihres Kindes. Nur so können Sie in einem späteren Sorgerechtsverfahren die körperlichen Übergriffe belegen.

Am nächsten Tag findet das Geburtstagskegeln von Emilia statt. Marco weigert sich, bei der Mutter einzusteigen: „Wer weiß, was Mama mit mir macht!“ Mara hörte es, dreht sich zu mir um und beschwört mich vor allen drei Kindern: „Du gehörst dem Teufel, ein ganz großes Pfui-pfui …! Das kommt von deiner Mutter, sie hat Marco eingebläut, dass er vor mir Angst haben müsste.“

„Ich bewundere deine Geduld! Wäre ich der Mann von Mama, würde ich ganz anders handeln“, sagte mir Marco später einmal. Mein Sohn sprach aus, was auf den ersten Blick der gesunde Menschenverstand einem sagen würde. Doch hatte ich den Eindruck, egal wie ich mich verhalte, ich war stets Zielscheibe ihrer Entwertungen und haltlosen Anschuldigungen.

Sollte ich festhalten an meinem tief verankerten Wunsch nach einer intakten Familie? Würde meine Hoffnung auf ein wieder harmonisches Ehe- und Familienleben sich irgendwann erfüllen? Oder sollte ich mich trennen und die Kinder mitnehmen? Stabilität, Liebe und Geduld samt anspornender Förderung ihrer Begabungen – das könnte ich ihnen auch als Alleinerziehender bieten. Aber Sofie ist erst neun; wie würde sie es verkraften, wenn sie die Mutter nur mehr jedes zweite Wochenende sehen dürfte? Und mit welchen Reaktionen wäre bei der Mutter zu rechnen, wenn ich die Trennung mit Kind und Kegel vollziehen würde? Sie würde sicher um das Sorgerecht kämpfen. Beweise für ihre zahlreichen Gewalttätigkeiten hatte ich nicht, und ich wusste um die väterfeindliche Familienrechtsprechung – ich riskierte, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter zugesprochen würde. Dann könnte ich meine heranwachsenden Kinder im Großwerden nicht mehr intensiv begleiten, geschweige denn sie schützen vor der unberechenbaren Mutter. Selbst ein Umzug mit den Kindern nach Spanien wäre nicht unwahrscheinlich.

Dieses Dilemma ließ sich nicht auflösen. So beschloss ich, vorerst der Ehe und Familie eine weitere Chance zu geben.

Marco und ich kommen an einem Schultag zur gleichen Zeit nach Hause. Die Mutter schreit zum Empfang ihren Sohn an, er habe das Haus verlassen und der Schlafanzug hätte noch im Bad gelegen. Marco widerspricht. Seine Mutter hält dagegen, verliert die Kontrolle und schlägt mit einem Straßenschuh in der Hand heftig auf Marco ein. (Dieses Mal mache ich ein Foto von den starken Rötungen auf Marcos Gesäß und Hüfte.)

In seiner Hilflosigkeit ruft Marco – was selten vorkommt – seine Großmutter in Spanien an und erzählt der Abuela in flie-ßendem Spanisch von den letzten Vorfällen. Die reagiert einerseits überrascht, dann aber abweisend: Marcos Schilderungen passen nicht in das Bild, das sie von ihrer Tochter vermittelt bekommen hat – seit über einem Jahr trägt die Tochter ihr fast täglich ihre Sichtweise zu und die Abuela hat nicht ein einziges Mal die Gegenseite gehört. Auch in ihrer Schwester, die im Haus der Mutter wohnt, hat Mara eine loyale Unterstützerin gesucht und gefunden.

Dagegen will Mara Menschen, die sie gelegentlich auch mal kritisch hinterfragen, nicht in ihrer Nähe dulden. Sie sucht förmlich nach unkritischen Schulterklopfern.

RATGEBER: Rat geben? Ja, aber weise

Seien Sie bedächtig, wenn jemand Sie um Rat bittet: Wer nur eine Seite hört, gerät in Versuchung, sich ein Urteil zu bilden, das nicht ausgewogen ist.

Stattdessen sollten Sie Sachverhalte kritisch hinterfragen und, wenn möglich, auch die andere Seite hören. Nur dann können Sie weise Ratschläge erteilen; andernfalls laufen Sie Gefahr, die falschen Tipps zu geben.

Ein vielleicht notwendiges Umdenken oder gar Umkehren würde damit bei dem Ratsuchenden unmöglich werden.

Wie die Jahreszeiten einander abwechseln, so gab es bei Mara extreme Höhen und Tiefen: gerade noch fröhlich und positiv gestimmt, im nächsten Augenblick explosionsartig wütend. Feuer und Eis …

Das zeigte sich mittlerweile in allen Bereichen: Einmal verteufelte sie ihre zweite Heimat aufgrund des Schnees, dann wieder freute sie sich über die lustigen Schneemänner und genoss die wilden Schneeballschlachten mit den Kindern.

Oder sie warf mir in aller Undankbarkeit den Besitz unseres Hauses vor, eine kleine Stadtwohnung wäre doch viel besser! Im nächsten Augenblick fand sie unser Haus so schön geräumig und pries unseren großen Garten, in dem sie ihrer Leidenschaft für Blumen und Pflanzen freien Lauf lassen konnte.

Unsere Kinder wie auch ich, schwelgte sie, wären ihr größter Schatz, der sie glücklich machen würde – aber über Nacht konnten wir ihr zur größten Last werden und zum Blitzableiter, an dem sich ihre extremen Emotionen entluden.

Das Verhaltensmuster war immer das gleiche, nur die Szenen wechselten. Mittagszeit – wir unterhalten uns gut. Es geht um die Schule, Lehrer, Freunde … und um den Opa. Emilia: „Ich habe heute den Opa getroffen. Der ist immer so lustig.“ – „Ach, dieser Hohlkopf“, entfährt es Mara. Marco: „Mama, das sagt man nicht. Genauso wenig, wie du Papa kürzlich ein elendiges Schwein genannt hast.“ Daraufhin rastet Mara völlig aus. Die schöne Stimmung am Tisch ist dahin.

In meinem Tagebuch findet sich ein Eintrag, der die Familiensituation treffend wiedergibt:

Die familiäre Lage ist schwierig. Auch weil ich mit Mara über all die Vorfälle nicht reden kann; nur ganz selten lässt sie ein Konfliktlösungsgespräch zu. Aber dann fühlt sie sich nie schuldig, stattdessen geht sie zum Angriff über. Ihre Wahrnehmung ist für sie buchstäblich die einzige Wirklichkeit.

Kurz darauf konnte ich in meinen Aufzeichnungen festhalten:

Endlich Wochenende! Mara und ich haben heute eine lange Radtour gemacht, während die Kinder mit den Großeltern den Tag im Freizeitpark verbrachten. Mara war bester Laune. Bei der Einkehr sagte sie mir, sie werde ihr schlechtes Verhalten mir gegenüber ändern. Sie merke selbst, dass es so nicht weitergehen könne.

Ich habe mich mit einem Freund zum Essen verabredet und ziehe gerade die Schuhe an, da kommt es in der Küche zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Marco und Mara: Marco hat in einen faulen Apfel gebissen und diesen Bissen ins Spülbecken gespuckt. Seine Mutter fordert, er solle mit heißem Wasser nachspülen, das tut er nicht. Daraufhin wirft Mara ihm einen Becher voller Knetmasse auf seinen Rücken und zertrümmert vor seinen Augen den zuvor mühsam zusammengebauten Lego-Laster. Marco packt ein Kissen, schlägt damit seine Mutter und flüchtet nach oben ins Bad. Sie rennt ihm hinterher, die Treppe hoch, rüttelt mit aller Gewalt an der Türklinke, aber Marco hat zugesperrt. Ich versuche sie zu beruhigen und schlage vor, morgen zu dritt über den Vorfall zu sprechen.

Am nächsten Morgen spreche ich mit Marco ein ernstes Wort und bitte ihn, sich bei seiner Mutter zu entschuldigen. Mara akzeptiert seine Entschuldigung nicht: „Du bist nicht mehr mein Sohn!“

Unter vier Augen bitte ich Mara eindringlich um Mäßigung ihrer unangebrachten Bestrafungen. Außerdem versuche ich ihr zu erklären, dass Marco ihr respektloses Verhalten mir gegenüber kopiere und es nun sie treffe; auch aufgrund ihrer Beleidigungen gegen mich und die Großeltern würde er sie nicht mehr ernst nehmen.

„An mir liegt es nicht, ich bin friedlich; ihr provoziert mich“, kontert sie und erklärt das Gespräch für beendet. Zum Abschluss noch ihre Lieblingsfloskel: „Geduld und Ausharren ist wichtig, das tut dir ganz gut.“

Etwas später hatte Mara wegen unserer Ehe- und Familienkrise mit unserem Gemeindepastor ein zweistündiges Gespräch, sie hatte es selbst gesucht, was mich sehr überraschte. Zufrieden sagte sie danach zu mir: „Es war ein gutes Gespräch; er ist ja gar nicht auf deiner Seite! Er hat mir auch wertvolle Ratschläge gegeben.“

Der Pastor habe ihr aufgezeigt, dass sie in Gottes Augen ein wertvoller Mensch sei und Gott habe sie reichlich beschenkt. Er gab ihr den Rat, sich in Kommunikation zu üben und, wenn negative Gedanken aufkeimen würden, erst mal darüber zu beten.

Als studierter Psychologe riet er ihr auch, aufgrund ihrer Unkontrolliertheit und extremen Stimmungsschwankungen medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen; dies sei keine Stigmatisierung, sie solle einen solchen Arztbesuch betrachten als so normal wie jeden anderen auch.

Einen Tag später. Die Klavierlehrerin ist gerade gegangen, jetzt wollen meine Töchter etwas von mir: Ihre Schulfreundinnen hätten am Samstagabend die Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“ gesehen. Leider sei die Kandidatin Jennifer mit einem Song von Madonna aus dem Wettbewerb geflogen, aber sie wollten das jetzt unbedingt im Internet sehen.

Gerade eine Minute schauen sie mit großen Augen die Performance an, da stürmt ihre Mutter herein – zornig, ja wütend: „Wie kannst du nur unsere Töchter ein Lied anhören lassen, bei dem Jesus mit einer Frau schläft!“ Sie packt Emilia und Sofie und zieht sie aus dem Zimmer unter lautstarken Drohungen an meine Adresse, das werde sie dem Gemeindepastor erzählen.

Ich komme nicht zu Wort und bin nun doch etwas verunsichert, also suche ich nach der deutschen Übersetzung des Songs. Damit sind Maras wilde Fantasien widerlegt. Ich drucke den deutschen Text aus und lege ihn meiner Frau auf den Nachttisch.

Dienstagmorgen. Ich finde in meinem Büro einen Zettel: „Bitte entschuldige die Reaktion von gestern Abend. Es drückt ziemlich auf mir, in zwei Wochen wirst du mehr erfahren.“ Das tat mir sehr gut. Aber das angekündigte „mehr“ habe ich nie erfahren.

Eine Woche lang war meine Frau weiterhin in beherrschter und ruhiger Verfassung. Wir genossen alle das schöne Familienleben. Spielfreude, Kinderlachen, Gesang, Klavier- und Akkordeonklänge füllten das Haus mit Leben und Muße. Am Wochenende brachte unser Sohn uns als Überraschung sogar einen Espresso ans Bett!

Das berührte Mara so sehr, dass sie begann, über die letzte Zeit zu sprechen. Sie sagte, sie realisiere erst jetzt so richtig, welch großes Unrecht sie mir angetan habe mit der Anzeige, und sie schätze es sehr, dass ich trotzdem immer noch so nett zu ihr sei. Sie schaffte sogar die Feststellung, als ruhiger, sensibler Mensch hätte ich unter ihren Aggressionen sicher sehr zu leiden. War diese Einsicht endlich ein nachhaltiger erster Schritt zur Veränderung? Erneut kamen in mir Optimismus und Hoffnung auf. Nach wenigen Wochen platzte beides – wie ein aufsteigender heliumgefüllter Ballon, wenn die Luft um ihn herum zu dünn geworden ist.

Anlass war die Geburtstagsfeier unserer 85-jährigen Hildegard. Mit ihrer unbekümmerten direkten Art war sie so etwas wie eine Familienfreundin. Mara hatte sie kennengelernt, kurz nachdem sie nach Deutschland gezogen war. Die ersten Wochen hatte Mara bei Verwandten gewohnt, dann bat die Tante sie, schnellstmöglich auszuziehen – und Hildegard gewährte ihr kurzentschlossen Unterschlupf. Mara war damals einundzwanzig gewesen.

Ein paar Stunden vor der Feier: Mara reibt sich an einer Kleinigkeit und eröffnet wutentbrannt: „Ich gehe nicht zu der Feier der Alten, ich habe Migräne. Aber wegen der nehme ich keine einzige Kopfweh-Tablette!“ Die Kinder brauchen nicht einmal die Köpfe aus den offenen Kinderzimmertüren zu recken, sie bekommen es auch so mit, wie abfällig ihre Mutter über eine Freundin spricht.

Von der Feier zurückgekehrt, teile ich Mara mit, ich hätte sie wegen Migräne entschuldigt. „Und was hat sie geantwortet?“ – „Die Mara mag mich nicht!“ Daraufhin rastet sie völlig aus: Im Keller wirft sie den Garderobenständer um, hämmert mit den Fäusten gegen die Wand und heult. „Alle wissen jetzt, dass ich mich gedrückt habe. Du bist nur der Mann, von dem ich drei Kinder habe, aber ein Freund bist du nicht!“

Was Hildegard mir sonst noch anvertraut hat, behalte ich lieber für mich: Damals in den Monaten des Zusammenlebens habe sie Mara erlebt als zwar warmherzige Frau, aber zuweilen auch stur und uneinsichtig. Wie sich Mara inzwischen entwickelt hat, das habe ich Hildegard verschwiegen.

Jahre später noch habe ich aus Loyalität, um sie zu schonen, das extreme Verhalten meiner Frau in meinem Freundes- und Bekanntenkreis verheimlicht. Ich schämte mich für sie, wollte Mara nicht bloßstellen.

Es ist Frühsommer und ich fahre mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause. Freitagmittag – ich freue mich auf das Wochenende! Während der Fahrt rücke ich mit einer Hand meine Schultasche zurecht, sie ist mit Expandern auf dem Gepäckträger festgezurrt.

In diesem Moment fahre ich in ein großes Schlagloch; es gelingt mir nicht, das Fahrrad abzufangen, und ich stürze über den Lenker zu Boden. Ich habe blutende Schürfwunden und kann die Schulter nicht mehr bewegen, selbst in Ruhestellung habe ich höllische Schmerzen.

Es sind einige Bänder gerissen, Schultereckgelenksprengung nennt es der Arzt, aber operiert wird erst nach dem Wochenende, „besorgen Sie sich Schmerztabletten“.

Das größere Problem sind aber die Schmerzen in der Seele über das Verhalten meiner Frau: Mara hat eine heftige Auseinandersetzung mit meinem Bruder gehabt – aus ihrer Sicht hat er nicht schnell genug seine Hilfsbereitschaft bekundet. Unsere Wiese muss nämlich gemäht werden und er hätte doch sehen können, dass ich dazu nicht in der Lage bin. Später kommt mein Bruder vorbei, um das Missverständnis zu klären, aber Mara wirft ihn hinaus. Am Abend kommt Sofie zu mir, drückt sich an mich und meint: „Ich schäme mich so, wie Mama sich heute gegenüber Onkel Daniel verhalten hat!“

Endlich wird meine Schulter operiert! Mara fährt mich ins Krankenhaus, es passt ihr gar nicht. Vor der Operation wollen sie mir Blut abnehmen, die Krankenschwester bittet mich in ein Behandlungszimmer. Mara begleitet mich und beobachtet, wie man mir einen Stauschlauch um den Oberarm legt.

„Moment, ich habe noch etwas vergessen“, entschuldigt sich die Krankenschwester und verschwindet im Nebenzimmer. Mit einer flinken Handbewegung zurrt Mara den Stauschlauch fest.

„Was machst du da, das tut mir weh.“ Mit verschränkten Armen steht meine Frau vor mir und grinst mich an.

Ich öffne den Schlauch mit der anderen Hand und zische sie an: „Geh nach Hause!“ – „Gerne, und wach schön wieder aus der Narkose auf.“

Nach zwei Tagen werde ich entlassen. Ich komme nach Hause – willkommen in der Realität: Ich sitze auf meinem Bürostuhl, blicke dankbar zurück auf die gelungene Operation und das freundliche Krankenhauspersonal …

Auf einmal steht Mara vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt, und lässt eine Schimpftirade auf meinen Bruder vom Stapel, dabei versucht sie in ihrer Erregung wiederholt, meine Telefonanlage vom Tisch zu reißen. Ich versuche, diese Attacken abzuwehren, gleichzeitig schlägt sie mir kräftig auf die frisch operierte Schulter. Mein Aufschrei quittiert sie mit einer Gegendarstellung: „Du simulierst doch, sei froh, dass du keinen Krebs hast!“

Vom Geschrei aufgeschreckt kommt der inzwischen 13-jährige, großgewachsene Marco dazwischen und stellt sich schützend vor mich hin. Mara beendet ihren Ausbruch mit der Drohung, ich könne zusehen, wie ich am nächsten Tag zur Nachkontrolle käme, sie würde mich jedenfalls nicht chauffieren.

Am Abend gibt unsere Jüngste, die zehnjährige, stets auf Ausgleich bedachte Sofie, mir einen Rat: „Papa, sperre doch dein Büro ab und verstecke den Schlüssel, dann kann die Mama dir nicht mehr alles kaputtmachen.“ Am nächsten Tag finde ich auf meinem Schreibtisch ein Zettelchen mit Sofies Handschrift: „… Möge Gott dir die Schmerzen nehmen. Du kannst es mir immer sagen, wenn du meine Hilfe brauchst …“ Wie gut diese Worte tun! So ganz anders als das, was Mara mir wenig später vor den Kindern „prophezeit“: „Ich mache dich psychisch fix und fertig!“

Unsere Töchter bleiben noch von den körperlichen Attacken Maras verschont, aber Marcos Ungehorsam bestraft sie inzwischen immer wieder mit kräftigen Ohrfeigen. Deswegen habe ich mit ihr heftige Auseinandersetzungen – es bringt nichts; aber ich

scheue den Gang zum Jugendamt oder zur Polizei, denn das wäre wohl das endgültige Aus für das erneute Familienglück, das ich uns allen so sehr wünsche.

Wenige Tage später vertraut sich Mara erneut unserem Pastor an. Er versucht ihr zu verdeutlichen, ihre Reaktionen auf Alltagsgeschehnisse seien zu extrem, und rät ihr wieder einmal dringend, einen Arzt aufzusuchen, denn Ursache dafür könnten neurobiologische oder chemische Vorgänge im Gehirn sein; auch könnte ein nicht bewältigtes Problem aus ihrer Kindheit vorliegen, zog er in Betracht.

Daraufhin zeigt Mara dem Anschein nach ernsthaftes Interesse und schafft es sogar, innerhalb kurzer Zeit einen Termin beim Psychiater zu bekommen.

Ich soll sie begleiten, das empfinde ich als Vertrauensbeweis; aber im Wartezimmer flüstert sie mir süffisant zu: „Jetzt kommt die Abrechnung, hier gehst du als Verlierer ՚raus.“ Ich kippe fast vom Stuhl. „Ja, ich habe gestern auf Youtube einen sehr guten Vortrag gehört, von einer Psychologin, zum Thema ‚Selbstbewusst auftretenʻ. Ich weiß jetzt, dass ich richtig liege: du bist das Problem, du brauchst psychologische Betreuung, mein lieber Thomas.“

Noch bevor ich überlegen kann, ob ich vielleicht gehen sollte, werden wir aufgerufen. Der Psychiater fordert Mara auf, ihre Problematik zu schildern; daraufhin beginnt Mara überzeugend und engagiert darzulegen, ihre Familie provoziere sie zu ihren etwas extremen Reaktionen, und ihr Ehemann spiele in diesem Drama die Hauptrolle des Bösen – er mache sie regelrecht fertig und instrumentalisiere in diesem Kampf auch die Kinder, hetze sie gegen die Mutter auf.

Ich kann kaum etwas richtigstellen, jedes Mal fällt Mara mir sofort ins Wort; der Psychiater greift die gesamte Dreiviertelstunde hindurch nicht ein, bleibt passiv. Er stellt kaum Fragen, versucht vor allem, die im Stakkato-Stil geäußerten Aussagen seiner Patientin zu Papier zu bringen und zu guter Letzt stellt er fest, wir hätten ein gravierendes Kommunikationsproblem. Seine Empfehlung: Paartherapie machen oder eine begrenzte räumliche Trennung in Betracht ziehen.

Eine Trennung war für mich immer noch keine Option. Aber warum eigentlich nicht, grübelte ich nun: Bin ich von Maras extremen Verhaltensauffälligkeiten vielleicht co-abhängig? Ein Indiz könnte ja sein, dass ich ihre groben Ausfälligkeiten, ja all die Verletzungen kontinuierlich ertrage, und das scheint sie auszunutzen …

Ich machte einen Selbsttest; das Ergebnis: Nein, ich bin nicht co-abhängig, ich definiere meinen Selbstwert nicht durch eine sogenannte Helferrolle. Ich vergebe ihr zwar immer wieder, bin sehr geduldig, aber ich rede ihr Handeln in keiner Weise schön. Auch kann ich mir ein Leben ohne Mara vorstellen.

Die Trennung wäre also eine Möglichkeit – aber wir haben drei Kinder zwischen zehn und dreizehn, und wie ich die derzeitige Familienrechtsprechung kenne: einseitig auf Mütter fixiert, müsste ich sie höchstwahrscheinlich bei ihrer schwierigen Mutter zurücklassen.

Aber das lässt meine Liebe zu meinen Kindern und mein Verantwortungsbewusstsein nicht zu! Mit vierzehn darf ein Kind selbst entscheiden, bei wem es leben will – also will ich noch drei Jahre durchhalten … Und vielleicht wirkt Gott bis dahin noch ein Wunder, wir waren ja beide Christen.

RATGEBER: Co-Abhängigkeit

Der Begriff „Co-Abhängigkeit“ tritt häufig in Erscheinung, wenn man erklären will, warum jemand die Alkoholsucht seines Ehepartners vertuscht, ihm vielleicht sogar den Alkoholkonsum finanziert.

Co-Abhängigkeit gibt es aber auch in Beziehungen; sie liegt dann vor, wenn der Betroffene seinen verhaltensauffälligen Partner unterstützt, indem er sein eigenes Leben hintanstellt und sich für den anderen aufopfert. Man fühlt sich regelrecht angezogen von der Bedürftigkeit des anderen, hat teilweise sogar das Gefühl, an den Problemen zumindest mitschuldig zu sein. Fast schon zwanghaft grübelt man über die Probleme des anderen nach und sieht dabei gar nicht mehr seine eigenen Nöte. Der Blickwinkel auf die Welt wird klein. Das eigene Selbstwertgefühl ist schwach, oft gehen psychosomatische Beschwerden damit einher.

Erkennen Sie sich wieder, sprechen Sie mit Ihrem Hausarzt darüber. Vielleicht ziehen Sie die Möglichkeit einer Therapie in Betracht; Sie können aber auch zunächst eine Selbsthilfegruppe für Co-Abhängige besuchen.

Jedenfalls müssen Sie den Mut haben, sich wieder um Ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Nur so erhalten Sie sich Ihre Gesundheit und gewinnen erneut Lebensfreude.

So wie auf jeden Regen Sonnenschein folgt, stellte sich auch bei meiner Frau wieder ein Hoch ein: In aller Offenheit bekannte Mara einige Wochen später, sie sei sich ihres bösen Verhaltens durchaus bewusst: „Thomas, weißt du – wenn es mir schlecht geht, möchte ich dich absichtlich verletzen. Gleichzeitig irritiert es mich, dass du immer so ruhig und souverän auftrittst. Du scheinst ein Übermensch zu sein.“

Das war Balsam für meine Seele, ein Schimmer der Hoffnung auf bessere Zeiten – sehr wohl in dem Wissen, dass die Sonne auch sehr schnell wieder untergehen konnte.

Tatsächlich befanden wir uns nun über Wochen in einer Schönwetterperiode. Mit Freude nahm ich wahr, wie Mara ihrem großen Hobby nachging, der Gartenarbeit – in unserem Garten gab es wohl kaum eine Pflanze oder einen Strauch, den sie nicht mit Namen kannte und den sie nicht selbst gepflanzt hatte. Mit ihrem ausgeprägten „grünen Daumen“ gestaltete sie ein wahres Gartenparadies.

Ich hatte immer gerne mitgeholfen; die gemeinsame Gartenarbeit war so etwas wie ein Friedensgarant. Man sagt, ein schöner Garten schenke Lebensfreude und verwöhne die Seele mit Harmonie – „Gärtnern macht glücklich“; so war es mir auch völlig egal, dass meine Frau im Gartencenter Jahr für Jahr ein kleines Vermögen ausgab, um es in der Erde zu verbuddeln.

Eines Abends saßen wir bei einem Glas Wein auf der Terrasse. Mara erzählte mir, sie würde ständig von negativen Gedanken geplagt und alle ihre Angriffe gegen mich seien ein Ausdruck davon, wie unzufrieden sie mit ihrem Leben sei. Sie habe die Nase voll von ihrem langweiligen Dasein zu Hause, wolle ՚rauskommen, eine Arbeit aufnehmen.

Ich bestärkte sie darin; von einer geregelten Berufstätigkeit erhoffte ich mir einen positiven Einfluss auf ihre Persönlichkeit: mehr Zufriedenheit, mehr Ausgeglichenheit, mehr Anerkennung. Auch bot ich ihr sofort an, sie bei den häuslichen Arbeiten noch mehr zu entlasten.

Und tatsächlich, in den nächsten Wochen ging Mara auf Arbeitssuche. Sie fand etwas Passendes, arbeitete dort zur Probe und der Arbeitsvertrag war fertig zum Unterzeichnen – aber eine Routineuntersuchung durchkreuzte diesen Plan.

Kind - auf Deine Kosten

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