Читать книгу Denken wie ein Neandertaler - Thomas Wynn - Страница 12

Neandertalergehirne

Оглавление

Dies ist ein Buch darüber, wie die Neandertaler dachten, und das Körperteil, das man zum Denken in erster Linie braucht, ist natürlich der Kopf, genauer: das Gehirn. Seit Jahrhunderten weiß der Mensch, dass das Gehirn das Organ ist, mit dem man denkt, aber erst in den letzten paar Jahrzehnten hat die Wissenschaft begonnen, zu verstehen, wie das Gehirn eigentlich funktioniert. Und das ist gar nicht so einfach, wie man denken könnte. Vor etwa 150 Jahren begannen Wissenschaftler, Dinge über das menschliche Gehirn zu entdecken, die heute noch Gültigkeit besitzen. Etwa um 1860 wusste man, dass der äußere und obere Teile des Gehirns, die Großhirnrinde (auch Kortex genannt), einen großen Spalt aufweist (die Fissura longitudinalis), der das Gehirn von vorne nach hinten in zwei Hemisphären teilt. Forscher vermuteten, dass die linke Hemisphäre mehr Verantwortung für wichtige sprachliche Funktionen besitzt als die rechte. Man wusste, dass die beiden Hemisphären durch den sogenannten Balken (Corpus callosum) miteinander kommunizieren. (Tatsächlich wird bei „Split Brain“-Patienten das Corpus callosum durchgeschnitten, ein Verfahren, das immer noch angewendet wird, um die Schwere epileptischer Anfälle zu verringern.) Wissenschaftler fanden außerdem heraus, dass der rechte Teil der Großhirnrinde die linke Seite des Körpers zu kontrollieren scheint – und umgekehrt. Es zeigte sich auch, dass der vordere Teil des Gehirns (linker und rechter Frontallappen) für unsere argumentativen Fähigkeiten verantwortlich ist, für Fantasie, Planungsvermögen und Entscheidungsfindung. (Bei der frontalen Lobotomie werden geringe Mengen von Hirngewebe in beiden Frontallappen zerstört. Dieses Verfahren wird heute noch angewendet – auf freiwilliger Basis! –, um bei Geisteskranken extreme Aggressionen zu mindern.) Es wurde bekannt, dass der Hirnstamm, der das Rückenmark mit dem Gehirn verbindet, derjenige Bereich ist, der für unsere grundlegenden Vitalfunktionen wie Herzschlag, Atmung und Blutdruck zuständig ist, und dass diese Funktionen auch ohne Kortex funktionieren – von daher bezeichnet man manche Patienten als hirntot, auch wenn sie weiterhin aus eigener Kraft atmen, sogar im Koma: Bei diesen Patienten, so sagt man, ist die Großhirnrinde tot, nicht aber der Hirnstamm. Man fand zudem heraus, dass die Großhirnrinde eine kleine Furche (Sulcus centralis) aufweist, die von einem Ohr zum anderen reicht, und der Streifen des Kortex vor der Furche scheint für körperliche Bewegungen zuständig zu sein (man nennt ihn den Motorkortex), während die Oberfläche hinter der Furche offenbar für die Integration unserer physischen Sinne mit der Außenwelt verantwortlich ist, insbesondere unseres Tastsinns (dieser Streifen wird als somatosensorischer Kortex bezeichnet, die gesamte Gegend als Scheitellappen).

Wir haben keine lebendigen Neandertalergehirne, ja wir haben sogar überhaupt keine Neandertalergehirne. (Ob Sie es glauben oder nicht: Unter ganz besonderen Umständen können Gehirne fossilisieren, oder es kann zumindest sein, dass ihre äußere Form erhalten bleibt, und Anthropologen besitzen sogar einen Abdruck des Gehirns eines viel früheren Hominiden.) Aber das bedeutet nicht, dass wir hier ganz und gar im Dunkeln tappen. Wir besitzen Hirnschädel von Neandertalern, anhand derer wir die Gesamtgröße und auch die ungefähre Form des Gehirns bestimmen können. Vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter dehnt sich der obere Teil des Hirnschädels aus, wobei das wachsende Gehirn Druck auf das Schädelinnere ausübt. In gewissem Sinne drückt das Gehirn gegen das Schädeldach, und daher bewahrt die innere Form des Schädels die Form des Gehirns. Neandertalergehirne unterschieden sich von unseren modernen Gehirnen in der Größe und in der Form. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Größe.

Die Gehirne der Neandertaler waren größer als unsere modernen Gehirne, etwa um 10 %. Das moderne Gehirn misst durchschnittlich etwa 1.300 cm3, das der Neandertaler durchschnittlich 1.427 cm3. Allerdings müssen wir hier vorsichtig sein. Uns steht keine allzu große Anzahl an Neandertalerschädeln zur Verfügung, nur 28 sind so vollständig erhalten, dass wir zuverlässig ihr Volumen messen können, und es ist durchaus möglich, dass wir durch Zufall ein paar extrem große Exemplare gefunden haben. (Der Amud-Neandertaler z.B. hatte eine Kranialkapazität von 1.740 cm3, etwa 400 cm3 größer als der Durchschnitt beim modernen Menschen.) Auch waren die Neandertaler sehr muskulös, und die Zunahme der Gehirngröße könnte zumindest zum Teil mit ihrer Körpermasse zu tun haben, auch wenn uns das angesichts ihrer kurzen Statur und ihres Körpergewichts (80–90 kg) doch eher unwahrscheinlich erscheint. Die meisten Anthropologen sind sich einig, dass die Neandertaler im Durchschnitt etwas größere Gehirne als die modernen Menschen hatten. Aber waren sie auch 10 % schlauer? Wahrscheinlich nicht. Erstens gibt es beim modernen Menschen keine klare Korrelation zwischen der Größe des Gehirns und der Intelligenz (wie auch immer man diese misst). Und zweitens sagt das Gehirnvolumen noch nichts über die genaue Anzahl von Neuronen aus – geschweige denn über die Größe der anderen Funktionseinheiten des Gehirns. Es ist nur die Größe.

Zwar gibt es, wenn wir Tiere miteinander vergleichen, durchaus eine Korrelation zwischen der relativen Größe des Gehirns und dem Abschneiden bei Intelligenztests. Aber wir müssen die Körpergröße ausklammern, da große Tiere größere Gehirne brauchen, um die Funktion ihrer größeren Organe und eine höhere Anzahl an Nervenenden zu überwachen. Bei jeder Messung der Größe eines Gehirns muss man die Größe des Körpers berücksichtigen. Aber wenn wir den Faktor Körpergröße außer Acht lassen, haben einige Tiere (Fische, Reptilien) immer noch ziemlich kleine Gehirne und andere (Säugetiere, Vögel) eher große. Wie Sie sich vielleicht schon denken können, schneiden Fische und Reptilien bei Intelligenztests eher schlecht ab. (Der Sohn von TW hat zu Hause eine Eidechse, die in ihrem Leben nur eine einzige Sache gelernt hat: Wenn sich der Deckel des Terrariums öffnet, fallen Grillen vom Himmel. Mäuse würden das in etwa zwei Studiendurchläufen lernen.) Wenn wir Säugetiere miteinander vergleichen, haben einige relativ kleine Gehirne (Pferde, Maulwürfe) und andere große (Primaten, Delfine), und auch hier scheint es eine gewisse Korrelation zur Intelligenz zu geben. Aber wenn wir Primaten miteinander vergleichen, funktioniert die Gleichung groß = intelligent nicht mehr ganz so gut. Alle haben relativ große Gehirne, und alle sind ziemlich schlau. (In Indien z.B. tun sich Affen zusammen, um die Menschen auf der Straße abzulenken und zu bestehlen.)

Aber es gibt einen Primaten, bei dem das ganz anders ist: den Menschen. Unser Gehirn ist etwa dreimal größer, als es für unseren Körper sein sollte, und wir können Tests ausarbeiten, die kein anderer Primat zu bestehen in der Lage ist. Mithin ist die Größe des Gehirns an sich nicht irrelevant. Abgesehen davon ist ein so großes Gehirn aber auch ziemlich kostspielig im Unterhalt. Über 20 % unseres Stoffwechsels – unserer Kalorienzufuhr sozusagen – dienen dazu, unser Gehirn am Laufen zu halten.13

Und die Neandertaler? Sie hatten große Gehirne, was, grob gesagt, darauf hindeuten könnte, dass sie klüger waren als wir. Gibt es aber Hinweise darauf, dass das stimmt? Auf der Basis archäologischer Funde sind die meisten Anthropologen heute der Meinung, dass die Neandertaler nicht intelligenter oder dümmer waren als wir. In diesem Buch werden wir zu einem etwas anderen Schluss kommen: Die Neandertaler waren sowohl intelligenter als auch dümmer. Mit anderen Worten: Die Frage bringt uns nicht wirklich weiter.

Die Neandertaler unterschieden sich von uns in intellektueller Hinsicht – doch sie waren nicht mehr oder weniger intelligent, ihre Intelligenz war lediglich eine andere. Das verrät uns aber nicht die Hirngröße. Unser erster Anhaltspunkt ist die Form des Gehirns. Neandertalergehirne waren länger und breiter als unsere, und wenn man sie von hinten betrachtet hätte, wären sie in der Mitte am breitesten gewesen.14 Ihr Frontallappen hatte ungefähr das gleiche Volumen wie unserer – das mag überraschen, wenn man sich ein wenig mit Gehirnen auskennt. Die Frontallappen, die sich an der Vorderseite des Gehirns befinden, hinter den Augen und der Stirn, steuern viele der sogenannten höheren Hirnfunktionen wie Argumentieren, Planen und Emotionsregulation. Wenn der Neandertaler also einen genauso großen Frontallappen besaß wie wir, muss er doch genauso geschickt im Argumentieren und Planen und im Regulieren seiner Emotionen gewesen sein wie der moderne Mensch, oder? Ganz so einfach ist es leider nicht. Die ähnliche Größe lässt durchaus vermuten, dass die Neandertaler darin nicht ganz anders waren als wir, das heißt aber nicht, dass sie uns darin ebenbürtig waren. Die verschiedenen Hirnlappen sind in komplexer Weise miteinander vernetzt, und man darf hier Unterschiede anderswo im Gehirn nicht außer Acht lassen.

Das Volumen der Scheitellappen der Neandertaler war beispielsweise geringer als unseres.15 Diese Lappen befinden sich oben an den Seiten und an der Rückseite des Gehirns, und in ihnen ist eine wahrhaft verwirrende Vielfalt kognitiver Systeme und Fähigkeiten angesiedelt, von der Wahrnehmung über das räumliche Denken und das Verstehen von Sprache bis zur Erzeugung mentaler Weltmodelle. Nach unserem momentanen Verständnis können wir jedoch von dieser Information ausgehend – dass Neandertaler kleinere Scheitellappen hatten – auf keinen einzigen Unterschied im Verhalten schließen. Deshalb sind archäologische Überreste weitaus wichtiger für die Interpretation der Denkweise der Neandertaler, und sie bilden die Grundlage für den Großteil unserer Thesen.

Denken wie ein Neandertaler

Подняться наверх