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Wo geht’s lang?

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Neandertaler mussten in der Lage sein, Beute zu lokalisieren und wieder zurück nach Hause zu finden. Bei den meisten Tieren ist die Fähigkeit, sich zu orientieren, ein wichtiger Teil ihres kognitiven Repertoires; nur wenige Tiere wandern ziellos umher. Tiere haben zahlreiche äußerst beeindruckende Navigationstechniken entwickelt, einige verlassen sich auf visuelle landschaftliche Kennzeichen, andere folgen bestimmten Gerüchen und wieder andere orientieren sich sogar am Magnetfeld der Erde. Aber die Neandertaler waren Primaten, und Primaten verlassen sich auf ihre Augen, ihr Gedächtnis und ihr Verständnis räumlicher Verhältnisse – hier müssen wir also ansetzen, wenn wir untersuchen wollen, wie die Neandertaler sich im Gelände zurechtfanden.

Stellen Sie sich kurz vor, Sie müssten jemandem, der Sie zu Hause oder im Büro besuchen möchte, den Weg beschreiben. Welche Informationen würden Sie ihm geben? Im Prinzip gibt es hier zwei Möglichkeiten, und für welche von beiden Sie sich entscheiden, hängt davon ab, was Sie über die Ortskenntnis des Besuchers wissen. Wir wollen mit der häufiger verwendeten Variante beginnen. Zunächst würden Sie den Besucher natürlich fragen, wo genau er sich befindet. Dann würden Sie einen Weg bzw. eine Route beschreiben, z.B.: „Vom Parkplatz aus links abbiegen. Dann fahren Sie bis zur zweiten Ampel und biegen rechts ab. Nach etwa 4 km müssen Sie direkt hinter dem großen Bankgebäude links abbiegen. Dann biegen Sie rechts auf den zweiten Parkplatz ein. Mein Büro befindet sich in der ersten Etage des Jugendstil-Gebäudes.“ An dieser Stelle werden einige Leser, vor allem Männer, sicherlich widersprechen und sagen: „Nein, ich würde Himmelsrichtungen angeben und sagen: ‚Hinter dem Bankgebäude nach Norden abbiegen.‘“ Aber würden Sie einem Fremden gegenüber Himmelsrichtungen angeben, vor allem in der Nacht? Himmelsrichtungen sind ein etwas anderer Ansatz, denn sie beruhen auf einem externen räumlichen Rahmen, aber es ist immer noch ein System, das auf der Beschreibung einer sequenziellen Route von Ort zu Ort beruht, mit Entscheidungen an jedem Ort.

Die zweite Möglichkeit, Anweisungen zu geben, wäre, Ihre Position in Bezug auf einen permanenten räumlichen Rahmen zu beschreiben, den der Besucher kennt und zu nutzen weiß: „Meine Position ist 38° 49,22’ N und 104° 43,91’ W.“ Wenn der Besucher ein GPS-Gerät besitzt oder eine entsprechende Karte, wird er Sie und Ihr Büro finden. Beide Methoden der Wegbeschreibung funktionieren gut, aber wir vermuten, die meisten von Ihnen verwenden die erste Methode. Diese Art der Orientierung stützt sich auf den Aufbau einer Abfolge von Punkten, die Erinnerung und Beschreibung markanter Orte sowie qualitative räumliche Entscheidungen (links abbiegen, erster Stock usw.). Nichts davon erfordert ein umfassendes räumliches Bild, an das man sich erinnern muss, also eine „mentale Landkarte“. Stattdessen, so der Anthropologe Tim Ingold, stellt sich der Reisende bzw. der, der die Route beschreibt, eine Folge von Wegpunkten entlang der Route vor. Diese Wegpunkte sind markante Objekte oder Details der Szenerie, an die man sich erinnert und die dann für die gewählte Route in der richtigen Reihenfolge aktiviert werden. Von einer enger gefassten kognitiven Perspektive aus gesehen (von deren Nutzung Ingold uns vielleicht eher abhalten möchte), stützt sich ein Reisender auf die erinnerte Szenerie und die Fähigkeit, bestimmte Wegpunkte aneinanderzureihen und grundlegende qualitative räumliche Beziehungen zu verstehen, die Geometer als topologisch bezeichnen (z.B. hinein/hinaus, links/rechts, oben/unten usw.). Solche Streckenkenntnis ist tatsächlich eine sehr effektive Art der Fortbewegung von A über B nach C und ist bei Weitem die häufigste Art und Weise, wie Menschen sich orientieren. Aber was, wenn Sie von C direkt zurück nach A möchten, ohne Zeit zu verschwenden, indem Sie zuerst nach B müssen? Oder was, wenn es keine markanten Punkte an der Strecke gibt?

Im April 1916 segelte Ernest Shackleton mit fünf Begleitern auf einem umgebauten Rettungsboot von Elephant Island in der Nähe des Polarkreises nach South Georgia Island, eine Reise von 1.500 km auf einem der stürmischsten Meere der Welt. Es gab keine Punkte, an denen man sich hätte orientieren können, und abgesehen von ein paar flüchtigen Momenten konnte man keine Sterne sehen, geschweige denn die Sonne; die ganze Zeit hatte die Besatzung mit Sturmböen und starken Strömungen zu kämpfen. Natürlich hatten sie einen Sextanten, einen Kompass und eine Uhr, und sie konnten hin und wieder anhand der Sonne einigermaßen akkurat ihre aktuelle Position bestimmen. Trotzdem war es eine bemerkenswerte Leistung, dass sie ihr Ziel erreichten. In kleinerem Maßstab, aber ganz ohne Sextant und Kompass, fuhren mikronesische Seefahrer von den Karolinen aus mit ihren Auslegerkanus mehr als 200 km weit über den offenen Pazifik; ihr Ziel: winzige Atolle, nur wenige Kilometer breit und ein paar Meter hoch. Und angeblich legten sie kürzere Strecken sogar des Nachts zurück, und das auch noch nach starkem Alkoholkonsum. Wie haben sie das geschafft? Auf diese Art und Weise die richtige Route zu finden, wird in der wissenschaftlichen Literatur als Überblickswissen bezeichnet. Ein solches Überblickswissen basiert auf einer Vielzahl künstlicher Konstrukte, die den geografischen Raum organisieren und einen Rahmen bilden, der alle zugänglichen (und oft auch nicht zugänglichen) Orte umfasst.

Shackleton, sein Steuermann und seine Crew waren allesamt mit dem geografischen Standard der westlichen Welt vertraut, nach dem jeder Punkt auf dem Globus eine feste, zweidimensionale Beziehung zu jedem anderen Punkt hat. Wenn Sie wissen, dass Sie am Punkt A sind, und zum Punkt B reisen wollen, ist es relativ einfach, beide Punkte mit einer Linie zu verbinden, und voilà: Schon haben Sie eine Route. Die mikronesischen Seeleute verwendeten ein siderisches System, in dem die Sterne und der Weg der Sterne über den Himmel den äußeren Rahmen darstellen, mittels dessen man sich auf dem Weg von einem Ort zum anderen orientieren kann (z.B. liegt Truk unterhalb des Punkts, an dem der Stern Altair aufgeht, wenn man vom Pulawat-Atoll ablegt). Beide Systeme schaffen einen allgemeinen Rahmen, der unabhängig von spezifischen, individuellen Routen als Konzept existiert. Ein mikronesischer Steuermann musste nicht einmal darauf warten, dass der Stern Altair aufging, um diesen Rahmen zu verwenden. Er existierte in seinem Kopf. (Und ja, die mikronesischen Steuermänner waren tatsächlich ausschließlich Männer.)21–23

In der Wissenschaft wurde die Orientierung an Wegpunkten früher für einfacher gehalten als das Überblickswissen, und daher war man der Meinung, dass diese Art der Orientierung wahrscheinlich älter sei. Können wir deshalb annehmen, dass sich die Neandertaler auf diese Weise orientierten? Es ist durchaus verlockend und bestätigt vielleicht auch unser Vorurteil, dass die Neandertaler primitiv waren. Aber so einfach ist es nicht. Wie sich herausgestellt hat, entwickeln sich beide Orientierungssysteme schon im Kindesalter. Das eine ist nicht der Vorläufer des anderen, es sind leidglich zwei unterschiedliche Systeme. Und der moderne Mensch verwendet mal dieses, mal jenes. Unsere mikronesischen Seeleute sind ein gutes Beispiel. Wenn sie zu fernen Inseln (jenseits des Horizonts) paddeln, verwenden die Steuermänner Wegpunkte wie Unterwasserriffe und Sandbänke, die die Beschaffenheit der Wasseroberfläche beeinflussen. Nachts spüren die Steuermänner diese veränderte Beschaffenheit sogar, durch die Bewegung des Kanus. Die Mikronesier versuchen lange Fahrten, auf denen sie sich allein an den Sternen orientieren können, möglichst zu vermeiden, denn wenn sie den Überblick darüber verlören, wo sie sich gerade befinden (z.B. aufgrund von Wolken oder Sturm), wären sie buchstäblich verloren. Solche gemischten Systeme gibt es nicht nur in der Seefahrt. Auch die Aborigines in Australien verwenden ein System aus Himmelsrichtungen und Wegpunkten, wenn sie weite Strecken über Land zurücklegen. Aber die Aborigines fügen dem Ganzen noch eine Komponente hinzu, die für sie von äußerster Wichtigkeit ist: Überall in ihrer Landschaft gibt es Orte mit großer symbolischer Bedeutung, die mit der „Traumzeit“ in Zusammenhang stehen – Schauplätze und Spuren mächtiger Vorfahren und Kreaturen. Diese bilden die Wegpunkte, an denen sich die Menschen unterwegs orientieren. Interessanterweise nutzten die Mikronesier, bevor sie christianisiert wurden, ebenfalls einen Großteil ihres symbolischen, rituellen Wissens in der Seefahrt, aber da sie ein praktisch orientiertes Volk sind, gaben sie die meisten der komplexen Seefahrtsrituale auf, sobald sie nicht mehr religiös motiviert waren.

Welche spezifischen kognitiven Fähigkeiten benötigt man also für ein solches gemischtes System aus Streckenkenntnis und Überblickswissen? Weiter oben haben wir festgestellt, dass die Streckenkenntnis dreierlei erfordert: dass man sich an bestimmte Wegpunkte erinnert, dass man solche Erinnerungen in die benötigte Reihenfolge bringt und dass man ein paar grundlegende topologische Beziehungen versteht. Beim Überblickswissen kommt noch eine Fähigkeit hinzu: die sogenannte allozentrische Wahrnehmung. Die Streckenkenntnis geht komplett von der Perspektive dessen aus, der sich eine Route vorstellt oder sie beschreibt, sie ist egozentrisch. Aber wenn man einen unabhängigen räumlichen Rahmen vorstellen und verwenden will, ist es notwendig, sich von der eigenen Perspektive zu lösen und die Landschaften aus einer anderen Sicht wahrzunehmen. Und zwar nicht aus der Sicht einer anderen Person: Es muss eine unabhängige, stabile Perspektive sein, die jeder benutzen kann. Ein Beispiel ist, eine Landschaft aus der Vogelperspektive zu betrachten. Wie die Menschen dies tun, darüber sind sich die Kognitionswissenschaftler noch uneins. Manche Menschen erstellen offenbar mentale Landkarten, das heißt, sie erschaffen eine Art inneres visuelles Bild davon, wie die Landschaft auf allozentrische Weise aussieht. Aber andere tun das nicht. Es scheint hier große individuelle Unterschiede zu geben. Solange man sich einen stabilen Rahmen vorstellen und ihn auch aufrechterhalten kann, sollte man, selbst wenn dieser nicht aus Bildern besteht, in der Lage sein, sich mittels Streckenkenntnis in einer Landschaft zurechtzufinden.

Wir sind nun endlich an dem Punkt, wo wir fragen können, wie die Neandertaler sich in ihrer Landschaft orientierten. Wir wissen, dass sie nur selten weite Strecken zurücklegten, zumeist entfernten sie sich von ihrer Wohnstätte nicht weiter als ein paar Kilometer. Wir wissen auch, dass sie eher direkt an einen Ort gingen und wieder zurück, als dass sie kreisförmige Strecken wählten. Soweit wir über die Methoden der Neandertaler, sich zu orientieren, informiert sind, könnten diese auch allein auf ihrer Kenntnis von Wegpunkten basieren. Aber wir wissen, dass die Neandertaler auch zu einer allozentrischen Wahrnehmung fähig waren. Hinweise darauf bieten uns nicht per se das Jagen und Sammeln, sondern ihr Werkzeug, das wir im nächsten Kapitel genauer untersuchen wollen. Viele Neandertaler stellten Steinwerkzeuge her, die die Fähigkeit erforderten, alternative Perspektiven einzunehmen. Ein Beispiel dafür ist ein Werkzeug, das wir als Faustkeil kennen und das eine dreidimensionale Symmetrie aufweist. Selbst die Querschnitte dieser Werkzeuge waren symmetrisch. Um solche Querschnitte zu konzipieren und herzustellen, muss man bedenken, dass man ja nicht in den Stein hineinsehen kann. Dadurch wissen wir, dass die Neandertaler allozentrische Fähigkeiten besaßen. Und es spricht nichts dagegen, dass sie diese Fähigkeiten auch zur Orientierung nutzten.

Schließlich sollten wir noch einen weiteren Punkt erwähnen: das Geschlecht. Viele Leser werden wissen, dass es signifikante und zuverlässige Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, wenn man sie bestimmten Tests zur räumlichen Wahrnehmung unterzieht. Der Grund für diese Unterschiede und auch ihre Relevanz (oder mangelnde Relevanz) ist nach wie vor umstritten, aber das Ergebnis selbst ist eindeutig. Der Evolutionspsychologe Irwin Silverman hat die These aufgestellt, dass diese geschlechtsspezifischen Unterschiede daher rühren, dass Männer früher das Überblickswissen verwendeten, um ihren Weg nach Hause zu finden, und Frauen sich eher an bestimmte Orte erinnerten, an denen sie Pflanzen oder Kleintiere sammeln konnten.24 Sie, der Leser, sollten an dieser Stelle die metaphorische rote Fahne schwenken: Die Neandertaler verfügten zwar, wie wir gesehen haben, über allozentrische Wahrnehmung, aber nicht über die Arbeitsteilung, die der These von Silverman zugrunde liegt. Natürlich waren die Neandertaler nicht unsere Vorfahren, Silvermans Hypothese könnte also immerhin auf uns zutreffen. Aber man sieht dabei, wie tatsächliche evolutionäre Beweise Hypothesen verkomplizieren können, die ausschließlich auf modernen Experimenten beruhen.

Denken wie ein Neandertaler

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