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Echte Kerle Wer waren die Neandertaler?
ОглавлениеDie Neandertaler waren ein prähistorisches Volk in Europa, das seine kulturellen Blüte vor etwa 200.000 bis 30.000 Jahren hatte. Dieser Satz mag ganz unschuldig klingen, aber schon sind wir mittendrin in der Kontroverse: Die Neandertaler als Volk zu bezeichnen, ist ziemlich riskant. Einige Anthropologen und Psychologen benutzen den Begriff Volk und vor allem den Begriff Mensch ausschließlich für Individuen und Gruppen, die sich in keiner Hinsicht von den heute lebenden Menschen unterscheiden, zumindest biologisch. Sie würden es vorziehen, dass wir Hominini oder Hominiden sagen; das sind Begriffe, die uns heutige Menschen sowie unsere Vorfahren und eine Reihe auf zwei Beinen gehender Verwandter miteinschließen, bis zurück zu unserer evolutionären Abspaltung vom Menschenaffen vor etwa acht Millionen Jahren. Diese Wissenschaftler haben nicht ganz unrecht: Die Begriffe Mensch und Volk sind natürlich voller Implikationen über Verhalten und Kognition. Und das ist genau der Punkt, warum wir sie verwenden möchten. Die Neandertaler waren uns anatomisch und genetisch so ähnlich, dass wir glauben, dass unsere Ausgangsposition in der Diskussion (die Nullhypothese, für Leser, die mit wissenschaftlicher Methodik vertraut sind) sein sollte, dass die Neandertaler sich von uns nicht unterschieden. Von hier ausgehend müssen wir stichhaltige Argumente für etwaige Unterschiede präsentieren.
Unser allererster Satz birgt aber noch einen zweiten Streitpunkt: „Neandertal“ oder „Neanderthal“? Als der Neandertaler in den 1850er Jahren entdeckt und beschrieben wurde, da schrieb man das deutsche Wort „Tal“ noch mit „th“; somit war der Fundort das Neanderthal und der Fund der Neanderthaler. Anfang des 20. Jahrhunderts änderte man die deutsche Rechtschreibung, fortan hieß es „Tal“. Gemäß der Linnéschen Regeln zur biologischen Benennung bleiben manche Forscher lieber bei der Original-Schreibweise. Diejenigen, die die Meinung vertreten, dass die Neandertaler eine eigene Spezies sind, schließen sich dieser Haltung oft an, denn die formale Bezeichnung für die Neandertaler als eigene Spezies lautet Homo neanderthalensis, eine Bezeichnung, die im 19. Jahrhundert eingeführt wurde. Andere halten dagegen, dass „Neandertaler“ keine formalwissenschaftliche Bezeichnung ist und dass wir dem aktuellen deutschen Sprachgebrauch folgen sollten. Entscheiden Sie sich, wie Sie möchten.
Die Neandertaler entwickelten sich in Europa aus einem früheren Hominiden, den man als Homo heidelbergensis kennt. Wir „modernen“ Menschen sind ebenfalls Nachfahren des Homo heidelbergensis, haben uns aber in Afrika entwickelt. Fossile und genetische Beweise zeigen, dass sich diese beiden Gruppen vor etwa einer halben Million Jahren voneinander trennten. Das ist lange genug, dass sich Unterschiede entwickeln konnten, aber vielleicht doch nicht lange genug dafür, sie in verschiedene Spezies zu unterteilen, was verlangen würde, dass sie nicht in der Lage gewesen wären, sich miteinander fortzupflanzen und zeugungsfähige Nachkommen zur Welt zu bringen. Zunächst lebten die Vorfahren der Neandertaler nur auf dem europäischen Kontinent, doch zur Zeit, als der Neandertaler auf den Plan trat, vor etwa 200.000 Jahren, hatten sie begonnen, sich in Richtung Westasien auszubreiten. Schließlich zogen sie bis ganz nach Usbekistan (nördlich von Afghanistan) und besiedelten weite Teile des Nahen Ostens.
Die letzten Neandertaler lebten offenbar ausschließlich auf der Iberischen Halbinsel, wo sie vor etwa 30.000 Jahren ausstarben. Der moderne Mensch, der sich in Afrika entwickelt hatte, zog vor etwa 60.000 Jahren nach Westasien und kam vor 40.000 Jahren nach Europa. Die meisten Paläoanthropologen glauben, dass der moderne Mensch irgendwie in das Verschwinden der Neandertaler verwickelt war, aber wie genau das passiert sein soll, ist unklar, und auch hier gibt es wiederum manche Kontroverse.
Wie sahen die Neandertaler aus? Wenn sie uns so ähnlich waren, wie es die Beweislage vermuten lässt, könnte man dann überhaupt einen Neandertaler erkennen, wenn er (oder sie) in moderner Kleidung an einer Bushaltestelle stünde?
Die Antwort ist: ja, aber vielleicht müsste man so genau hinsehen, dass es zu einer etwas peinlichen Situation käme. Als Erstes würde man das Gesicht bemerken. Unser ÖPNV-Nutzer hätte ein großes Gesicht, das von der Stirn bis zum Kinn gemessen ziemlich lang wäre (der Einfachheit halber bezeichnen wir ihn im Folgenden als er; die äußerlichen Merkmale gelten aber genauso für weibliche Neandertaler). Er hätte zudem ausgeprägte Überaugenwülste, das sind Schwellungen der Knochen direkt über den Augenhöhlen, und seine Nase wäre länger und breiter, als es für den modernen Menschen typisch ist. In der Tat würde der ganze mittlere Teil des Gesichts aussehen, als sei er nach vorne gezogen. Er hätte kein vorstehendes Kinn, vor allem weil seine Zähne im Durchschnitt größer wären als unsere und seine Zahnreihen länger. Wenn er lächelte, würde man wahrscheinlich feststellen, dass seine Schneidezähne stark abgenutzt wären. Es gäbe noch einige weitere Besonderheiten seines Gesichts, die Anthropologen an seinem Schädel erkennen würden, aber bei einer lebenden Person könnte man diese nicht so leicht entdecken, z.B. einen retromolaren Raum zwischen seinem dritten Backenzahn und dem aufsteigenden Teil seines Kiefers. (Apropos dritter Backenzahn: In seinem großen Kiefer wäre für die Weisheitszähne viel Platz.) Solche Merkmale helfen Anthropologen dabei, fragmentarische Überreste als diejenigen eines Neandertalers zu klassifizieren, und sie können in paläoanthropologischen Kreisen zu technischen Diskussionen darüber beitragen, wer mit wem verwandt ist; aber für unser Thema hier sind sie nicht besonders relevant. Eine Besonderheit, die man bei unserem Bushaltestellen-Neandertaler nicht bemerken würde, wären die Größe und Form jenes Teils seines Schädels, der das Gehirn enthält. Er wäre groß, wahrscheinlich größer als unserer, und er wäre am breitesten in der Mitte zwischen der Unter- und Oberkante, so dass er von hinten rund aussähe. (Bei uns sitzt die breiteste Stelle viel weiter oben.) Wenn man sich versehentlich seinen Hut aufsetzte, würde er einem vermutlich über die Augen rutschen. Das Gehirn des Neandertalers war im Durchschnitt etwa 10 % größer als unser heutiges Gehirn, und entsprechend war natürlich auch sein Kopf größer. Im Großen und Ganzen hätte unser Neandertaler also ein ungewöhnliches Gesicht und einen ungewöhnlichen Kopf, aber wahrscheinlich doch wieder nicht so ungewöhnlich, dass man bis zur nächsten Haltestelle zu Fuß gehen würde.1–4
Unterhalb des Kopfes würde uns unser Neandertaler an der Bushaltestelle überhaupt nicht ungewöhnlich erscheinen. Aber wenn man ihm ins Fitnessstudio folgte, würde man wahrscheinlich einige eindrucksvolle Unterschiede bemerken. Von der Körperhöhe her wäre er ziemlich klein (etwa so groß wie Nicolas Sarkozy oder Tom Cruise), aber er wäre viel massiger gebaut. Sein Oberkörper wäre breit, seine Hüften und sein Brustkorb ebenso. Er hätte starke Muskeln und sähe wahrscheinlich aus wie ein Bodybuilder oder vielleicht eher noch wie ein professioneller Gewichtheber. Aber er müsste bei Weitem nicht so viel Zeit und Mühe investieren, um so auszusehen; er wäre von Natur aus sehr muskulös. Seine Muskeln an Hals, Schultern, Brust, Rücken, Armen und Beinen wären gut entwickelt – sie sähen vielleicht nicht so „aufgepumpt“ aus wie die eines professionellen Bodybuilders, aber auf jeden Fall wäre die Muskelmasse die gleiche. Seine Arme und Beine wären ein wenig zu kurz geraten für seine Statur, insbesondere seine Unterarme und Unterschenkel. Dieser Körpertyp ist ein idealer Kraftspeicher. Falls unser Neandertaler schließlich bemerken würde, dass Sie ihn anstarren, und er Sie zum Bank- oder Armdrücken herausfordern würde, sollten Sie die Herausforderung besser nicht annehmen. Wahrscheinlich könnten es nicht einmal die stärksten Exemplare des modernen Menschen mit ihm aufnehmen (Abb. 1-1). Wie im Falle von Kopf und Gesicht besaßen die Neandertaler auch in ihren Knochen eine Reihe weniger offensichtlicher Merkmale, die Anthropologen zur Identifizierung verwenden, die uns an dieser Stelle aber nicht interessieren müssen.
Einzeln betrachtet, wäre keines der erwähnten Merkmale so absonderlich, dass man es nicht auch bei dem einen oder anderen modernen Menschen fände. Es gibt moderne Menschen mit langen Gesichtern, andere mit großen Nasen und großen Köpfen und wiederum andere, die relativ kurz sind, aber einen massigen Körper haben (man denke nur an die Mannschaft der bulgarischen Gewichtheber bei den letzten Olympischen Spielen). Einige anatomische Einzelheiten finden sich nur bei den Neandertalern, aber das sind überraschend wenige. Einer von uns beiden (TW) schickte früher hin und wieder seine Erstsemester los, um bei Vertretern der ehrwürdigen Professorenschaft neandertalerhafte Merkmale zu sammeln – eine Übung, die immer wieder für Heiterkeit sorgte. (Und ja: TW und FLC tauchten gelegentlich auch auf der Liste auf.) Was die Neandertaler und uns anatomisch trennt, sind nicht die einzelnen Merkmale, sondern ihre Kombination – das Gesamtpaket, wenn man so will.5
Aber halt: Unser Fitnessstudio-Beispiel mag eine weitere sehr wichtige Frage aufwerfen. Wenn Arnold Schwarzenegger in ein Fitnessstudio gehen kann, um sich starke Muskeln und eine kraftvolle Physis zu erarbeiten, inwiefern war es dann bei den Neandertalern anders? Vielleicht bedingte ihr tägliches Leben ja, dass sie viel schwere, körperliche Arbeit verrichteten (und das tat es) – vielleicht ist es ja das, was wir an ihren Skeletten sehen, und gar kein angeborener biologischer Unterschied?
Abb. 1-1: Neandertaler in moderner Pose. ddp images/dapd/Sebastian Willnow.
Die Anatomie und Physiologie eines Erwachsenen sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Genen und der Umwelt während seiner Entwicklung, und es ist selten der Fall, dass der eine oder der andere Faktor der einzig entscheidende ist. Die Töchter eines von uns beiden (TW) sind eineiige Zwillinge, die jedoch alles andere als identisch sind. Schon bei der Geburt gab es feine anatomische Unterschiede. Doch sie hatten die gleichen Gene und hatten sich in derselben Gebärmutter entwickelt. Tatsächlich ist die Genexpression ein komplexes Phänomen. In diesem Fall erhielten die Mädchen, obwohl sie sich eine Plazenta teilten, nicht genau die gleiche Nahrung. Außerdem ist die Genetik keine so strikt deterministische Wissenschaft, wie man es einst dachte. Selbst die Transkription von DNA nach RNA, der erste Schritt in der Proteinsynthese, wird durch Merkmale der nuklearen Umwelt von außen beeinflusst, u.a. durch die Gegenwart von Proteinen, die von außen in den Nukleus eingedrungen sind. Die Zellumgebung kann tatsächlich die Art und Weise ändern, wie die DNA transkribiert wird, das heißt, die äußere Umgebung kann die Genexpression auf dieser tatsächlich grundlegenden Ebene verändern, und die Wirkung kann dann durch mehrfache Zellteilung weitergegeben werden, ein Verfahren, das man epigenetische Vererbung nennt. Einige dieser epigenetischen Faktoren funktionieren auf probabilistische Weise, so dass es sein kann, dass eine identische DNA-Sequenz in getrennten Gruppen von Zellen oder Individuen einen unterschiedlichen Ausdruck findet. So ist es kaum verwunderlich, dass eineiige Zwillinge unterschiedlich aussehen können. Noch relevanter für ihre Anatomie (und für unser Neandertaler-Thema) sind die unterschiedlichen Erfahrungen, die sie als Kind durchleben. Eines der beiden Mädchen ging zum Fußball, das andere zum Ballett. Ihre Muskeln wurden unterschiedlich ausgebildet, ihre Knochen unterschiedlich beansprucht, und dieser Unterschied hatte einen dauerhaften Effekt darauf, wie sich ihr Körper entwickelte. Wenn wir also beschreiben, welche Unterschiede es gab zwischen dem Körpertyp des Neandertalers und dem des modernen Menschen, müssen wir anerkennen, dass dieser Unterschied eine komplexe Folge verschiedener physischer Umgebungen, unterschiedlicher Erfahrungen bei der Entwicklung als Kind und Jugendlicher sowie von Unterschieden in den Genen ist.6
Und was ist nun mit dem Neandertaler? Betrachten wir einmal seinen Brustkorb. Es gibt Menschen in der heutigen Zeit, deren Brustkorb eine ganz ähnliche Form hat wie der des Neandertalers. Das sind Leute, die ihr ganzes Leben lang in über 3.000 Metern Höhe leben. Aufgrund der niedrigeren Sauerstoffkonzentration in großer Höhe entwickeln diese Menschen eine größere Lungenkapazität und haben eine größere Brust (und sogar ein etwas größeres Herz). Dies wird kaum, wenn überhaupt, durch die Gene bestimmt. Stattdessen haben sich ihre Körper verändert, um sich den örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Wenige Neandertaler (wenn überhaupt welche) lebten jedoch in großer Höhe, so dass uns diese spezifische Erklärung hier nicht weiterhilft. Aber vielleicht führten sie ein Leben, das sich durch große körperliche Anstrengung auszeichnete, zu einer Erweiterung des Brustkorbs; immerhin bedeutet eine große körperliche Belastung auch eine Verminderung der Fähigkeit eines Individuums, Sauerstoff zu verarbeiten. In ähnlicher Weise könnte die Größe des Kiefers des Neandertalers etwas mit seiner Nutzung zu tun haben. Viele Neandertaler hatten stark abgenutzte Schneidezähne, was auf ständige Beanspruchung hinweist, vielleicht sogar um Objekte zu greifen oder zu tragen. Eine solche Verwendung gepaart mit schwerem Kauen würde den Kiefer im Wachstum massiver werden lassen. Heutige Menschen, die viel und schwer kauen, haben größere Kiefer (und brauchen weniger oft einen Kieferorthopäden) als solche, die das nicht tun. Das ist kein genetischer Unterschied, sondern ein Unterschied im Lebenswandel.
Mithin können wir manche Merkmale des Neandertalers durch seine Lebensweise erklären. Doch wie können wir unterscheiden, welche Merkmale angeboren waren und welche sich durch seine Lebensweise entwickelten? Es gibt da durchaus Hinweise. Zum einen: Wenn alle Neandertaler (Männer, Frauen und Kinder, vor allem Kleinkinder) eine gemeinsame Besonderheit aufweisen, hätten sie alle das Gleiche tun müssen, mit der gleichen Intensität und Anstrengung. Und wenn dann auch noch die Neandertaler aus ganz unterschiedlichen Gegenden, z.B. aus Europa und aus dem Nahen Osten, dieses Merkmal besitzen, dann hätten alle Neandertaler überall das Gleiche tun und erleben müssen, mit der gleichen Intensität. Eine einfachere Lösung ist in diesen Fällen die Schlussfolgerung, dass das betreffende Merkmal, z.B. die Form des Brustkorbs, vererbt wurde.