Читать книгу Denken wie ein Neandertaler - Thomas Wynn - Страница 21
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ОглавлениеNeandertaler waren erfolgreiche Jäger und Sammler, aber sie unterschieden sich von allen Jägern und Sammlern der modernen Welt, ja sogar von allen, die in den vergangenen 20.000 Jahren gelebt haben. Verglichen mit Gruppen moderner Menschen, die auf Nahrungssuche gehen, nutzten die Neandertaler eine viel geringere Auswahl von Ressourcen und waren vor allem auf mittelgroße Pflanzenfresser spezialisiert. Natürlich jagten und aßen sie auch kleinere Tiere und sammelten essbare Pflanzen, aber nicht in dem Maße wie die Jäger und Sammler der jüngeren Menschheitsgeschichte. In Gegenden wie dem Nahen Osten enthalten die archäologischen Funde neuerer, moderner Jäger und Sammler (aus den letzten 20.000 Jahren) zahlreiche Beweise für den Verzehr von Pflanzen (vor allem Nüssen, aber auch einigen Getreidearten), kleinen Säugetieren (u.a. Mäusen) und Vögeln. Die Knochen von kleinen Säugetieren und Vögeln sind gut erhalten, und man hätte solche Knochen auch in Neandertalerstätten wie Kebara gefunden, wenn die Neandertaler diese Tiere gegessen hätten. Stattdessen haben wir sehr wenige Belege dafür, dass kleine Säugetiere oder Vögel auf dem Speiseplan standen, und die Hinweise auf den Verzehr von Pflanzen sind minimal. Die Neandertaler von Kebara konzentrierten sich auf Gazellen und Damhirsche und nahmen auf dem Weg nach Hause gelegentlich eine Schildkröte mit. Und die Neandertaler höherer Breiten konzentrierten sich sogar noch stärker auf Säugetiere.
Man könnte jetzt argumentieren, dass die Neandertaler hinsichtlich ihrer Ernährungsweise den modernen Inuit ähnelten. Immerhin spielen tierische Produkte eine wichtige Rolle in der Ernährung der Inuit, vor allem Rentiere und Meeressäuger. Aber es gibt erhebliche Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen, auch wenn sie beide Jäger und Sammler sind. Die Ernährung der Inuit ist ein wenig vielfältiger und bezieht Meeressäuger und gelegentlich auch Fisch mit ein, aber der größte Unterschied ist technischer Natur: Die Inuit verfügen über eine ausgereifte Technik, zur der komplexe Gerätschaften (z.B. Harpunen), Boote, Schlitten und genähte Kleidung gehören und noch viel mehr. Die Neandertaler waren als Jäger ausschließlich zu Fuß unterwegs und nur mit einfachen Stoßspeeren bewaffnet.
Es gibt in der modernen Welt einfach nichts, was dem Lebensstil der Neandertaler entspricht, und seine relative Einfachheit (zumindest im Bereich der Nahrung) hat eine interessante Konsequenz: Den Neandertalern fehlte wahrscheinlich eine deutliche Arbeitsteilung auf der Basis von Geschlecht und Alter. Diese These haben zuerst die Archäologen Mary Stiner und Steven Kuhn aufgestellt, und auch wenn es dem Leser zunächst unwahrscheinlich erscheinen mag, erklärt sie doch einen Teil der relativen Monotonie der archäologischen Zeugnisse zu den Neandertalern.18 Unter den modernen Jägern und Sammlern in den Tropen und den gemäßigten Breiten sorgen Frauen für die Deckung eines Großteils des Kalorienbedarfs, indem sie Pflanzen und kleine Tiere sammeln. Die Männer jagen, und auch wenn alle das Fleisch großer Tiere schätzen, liefert es langfristig weniger Kalorien als die Nahrung, die von den Frauen gesammelt wird. Natürlich jagen gelegentlich auch die Frauen und die Männer sammeln, aber die primäre Rollenverteilung der Jäger und Sammler sieht anders aus. Und bei vielen Gruppen von Jägern und Sammlern unterstützen die Kinder ihre Mütter beim Sammeln (auch wenn ihr Beitrag eher gering ist). In der Arktis, z.B. bei den Inuit, sind die Frauen für die Herstellung und Pflege eines Großteils der aufwendigen Technik zuständig, ohne die die gesamte Gruppe untergehen würde. Für Archäologen ist es ein Leichtes, Beweise für diese Art der Arbeitsteilung bei Jägern und Sammlern zu finden, in Form von Geräten zur Verarbeitung von Pflanzen (z.B. Schleifsteinen), Knochen von kleinen Säugetieren und Vögeln oder, im Falle der Jäger und Sammler der Arktis, aufwendiger Technologie.
Die Stätten der Neandertaler haben nichts davon. Entweder taten die Frauen und Kinder bei den Neandertalern nichts, um zur Beschaffung von Nahrung beizutragen, was eher unwahrscheinlich ist – oder sie nahmen ebenfalls an der Jagd teil. Dies könnte auch gewisse Auffälligkeiten der Neandertaleranatomie erklären: Neandertaler zeigen deutliche Anzeichen schwerer körperlicher Belastung schon in sehr jungen Jahren. Falls alle Neandertaler an der Jagd teilgenommen haben, ist dies nicht weiter verwunderlich. Die Oberkörper erwachsener männlicher Neandertaler weisen indes oft Verletzungen auf, die bei den erwachsenen weiblichen Neandertalern nicht in diesem Umfang zu finden sind. Das deutet darauf hin, dass Frauen und Kinder bei der Jagd andere und weniger gefährliche Rollen übernahmen. Stiner und Kuhn glauben, dass die Frauen und Kinder dabei mitgeholfen haben könnten, die Jagdtiere vor sich her zu treiben oder auf das Buschwerk zu schlagen, um Tiere aufzustöbern. Doch selbst wenn Frauen und Kinder nur dabei halfen, das Fleisch zurück nach Hause zu tragen, hätte diese Anstrengung an ihren Körpern Spuren hinterlassen. Eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist unter modernen Jägern und Sammlern allgegenwärtig, ja unter modernen Menschen überhaupt. Dies soll keine chauvinistische Generalisierung sein, und wir wollen auch nicht behaupten, dass dies so sein sollte; es ist nur eine Feststellung darüber, wie sich der moderne Mensch entwickelt hat. Bei den Neandertalern war dies offenbar anders.