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Mein Ersatzvater hieß Gerland

Es gibt viele Geschichten darüber, wie Profis überhaupt zum Fußball gekommen sind. Oft ist der Vater Auslöser, der seinen Sohn mit ins Stadion genommen hat. Manchmal sind es Kameraden, mit denen du auf der Straße kickst und die – wenn sie selbst schon in Vereinen spielen – dich zu ihren Klubs mitnehmen. Oder aber der Zufall spielt eine tragende Rolle. So wie bei mir.

Mit den neuen Fußballschuhen, die ich liebte und behütete wie einen Schatz, obwohl es keine Markenschuhe waren, traute ich mich nun auch, auf richtigen Fußballplätzen zu spielen. In unserem Stadtteil Werne gab es ein großes Sportgelände, das zum Verein TuS Vorwärts Werne 09 gehörte. Dorthin zogen meine Freunde und ich, um endlich auch einmal auf richtige Tore zu schießen. Regelmäßig besuchten wir das Gelände und kickten – wenn man uns ließ – stundenlang.

Er hieß Helmut Kirchhoff und war ein großer, stabiler Kerl mit einem recht breiten Mittelscheitel. Beruflich leitete er als Direktor das Kinderwohnheim im Bochumer Stadtteil Werne. Privat engagierte Kirchhoff sich als Jugendtrainer beim TuS Vorwärts. Er war häufiger Zaungast und beobachtete uns bei unserem Freizeitkick. Eines Tages sprach er mich an: »Hast du nicht Lust, bei uns im Verein mitzumachen?« Natürlich hatte ich Lust. Ich trainierte einmal mit und blieb als Spieler der E-Jugend.

Schon frühzeitig fand ich im Fußball den Typen, dem ich nacheifern würde. Mein Idol hieß Hans-Peter Briegel. Seine kraftvolle Art zu spielen imponierte mir. Als ehemaliger Zehnkämpfer wurde er wegen seiner manchmal ungelenken Art von einigen belächelt. Aber welche Power steckte in diesem Menschen! Für mich stand fest: Ich wollte so sein wie er, ein Brecher, einer, der vor nichts Angst hat und schnurgerade seinen Erfolgsweg sucht. Und das habe ich auch geschafft.

Beim TuS Vorwärts Werne 09, der später mit der SG Werne fusionierte und schließlich WSV Bochum 06 hieß, spielte ich in allen Jugendmannschaften erfolgreich. Regelmäßig schoss ich meine Teams zur Meisterschaft oder zum Aufstieg. Mein absoluter Rekord lag bei knapp 180 Toren in einer Saison.

Natürlich meldeten sich auch Auswahltrainer. Am Anfang stand in der D-Jugend die Bochumer Kreisauswahl, ab der C-Jugend wurde ich dann in die Westfalen-Teams berufen. In dieser Zeit erhielt ich auch erste Offerten von den Bundesligisten in der näheren Umgebung. Doch die Angebote aus Dortmund oder Bochum, die sich besonders in meinem ersten B-Jugendjahr häuften, wurden abgelehnt, weil einerseits mein Herz für Bochum-Werne schlug und andererseits mein Vater – wie sollte es anders sein – die Marschrichtung vorgab.

Dann kam der Tag, den ich nie vergessen werde. Denn da veränderte sich mein damaliges Leben völlig.

Zu Hause bei uns am Tisch saß wieder einmal Klaus Kaschuber. Er kam zu uns in die Straße Auf den Holln 62, weil er beim VfL Bochum für die B-Jugend zuständig war. Er wollte mich für den VfL verpflichten, hatte bei seinen vorherigen Besuchen aber immer wieder bei meinem Vater auf Granit gebissen. Ich weiß nicht mehr, warum, aber dieses Mal hoffte ich, dass er meinen Vater umstimmen könnte.

Doch wieder einmal sollte ich mich täuschen. Mein Vater fiel Kaschuber ins Wort, und schon mit seinem ersten Satz begann sich das farbenprächtige Bild aufzulösen, das meine Fantasie voreilig erstellt hatte. Er stand auf und bellte: »Mein Sohn geht nicht zum VfL. Nur über meine Leiche. Der Einzige, der hier bestimmt, bin ich und nicht etwa mein Sohn oder meine Frau.« Worte, die ich empfand wie Keulenhiebe.



In meinem Jugendzimmer unserer Wohnung »Auf den Holln«. VfL-Fan blieb ich, egal, wo ich Fußball spielte.

Doch sie lösten einen Impuls in mir aus, mit dem ich selbst nicht gerechnet hatte: Ich ging auf Konfrontationskurs. Ich nahm allen Mut zusammen, fixierte ihn scharf und hörte mich sagen: »Du bist jetzt leise. Jetzt rede ich. Ich gehe zum VfL Bochum, und du hast nichts zu melden.« Ich konnte beinahe selbst nicht glauben, dass ich mich gegen meinen Vater auflehnte. Der zog wortlos seine Jacke über und verließ das Haus. Die Angst, die immer latent vorhanden war, kam mit Wucht in mein Bewusstsein zurück. Während Klaus Kaschuber mit meiner Mutter über einen Wechsel zum VfL Bochum sprach, pisste ich mir in die Hose. Ich wusste genau, was nach der Rückkehr meines Vaters passieren würde, und meine bösen Vorahnungen sollten sich bestätigen.

Nachdem er das Haus wütend verlassen hatte, ging er zuerst in seinen Schrebergarten. Dort hielt er sich in der Regel ein bis zwei Stunden auf. Die Parzelle lag etwa eineinhalb Kilometer von unserem Haus entfernt in der Nähe der Bahngleise. Danach trieb es ihn zwar wieder heimwärts, doch an der Kreuzung Rüsingstraße / Auf den Holln lag seine Stammkneipe direkt am Eck. Dort kehrte er meistens für einige Stunden ein und trank vor allem das Gedeck der Bergleute: Bier und Korn.

An diesem Abend kam er stockbetrunken nach Hause und nahm sich uns vor. Wir, meine Mutter und ich, saßen nervös im Wohnzimmer. Als die Tür auffl og, bin ich sofort zu meiner Mutter und habe sie umarmt. Mein Vater zog seinen Mantel aus und stürzte sich sofort auf seine Frau. Er beschimpft e sie als »Schlampe und Hure«, riss mich weg und schlug meine Mutter windelweich. Danach kam ich an die Reihe. Er prügelte auf uns ein. Meine Mama, für mich die liebste Frau der Welt, war von blauen Flecken übersät. Ich selbst spürte kaum noch die Schläge mit dem Rohrstock, die so viele Striemen auf meiner Haut hinterließen. In mir wuchs der Widerstand mit jedem Schlag.

Wenn ein Mensch ständig unterdrückt und gequält wird, dann zerbricht er entweder daran oder er beginnt irgendwann, sich zu wehren. Als mein Vater schließlich von mir abließ, hatte ich endgültig mit ihm abgeschlossen.


Bochumer Legenden: Hermann Gerland, Jupp Tenhagen und »Ata« Lameck (von links) beim Trainingslauf im Wald.

Angeberisch rief er noch: »Ich bin der Einzige, der hier im Haus etwas zu sagen hat!« Doch da spuckte ich ihm ins Gesicht und schrie zurück: »Ich hasse dich so, dass es für ein ganzes Leben reicht.«

Es ist kaum zu glauben, aber von dieser Sekunde an hat mich mein Vater respektiert. Ich wurde nie wieder geschlagen.

Trotzdem wechselte ich zunächst nicht zum VfL Bochum. Vielleicht traute ich mich doch nicht, sofort diesen Schritt zu vollziehen. Ich blieb zunächst bei meinem Stammverein in Werne, und das sehr erfolgreich. Wenig später erhielt ich ein Angebot vom DSC Wanne-Eickel. Sie spielten wie die B-Jugend des VfL Bochum in der Westfalen-Liga. Da ich mit dem TuS Vorwärts noch in der Bezirksliga kickte, wäre der Sprung zum DSC vielleicht einfacher gewesen als zum »großen« VfL. Möglich, dass mich dieser Gedanke dazu trieb, es vorher in Wanne-Eickel zu versuchen.

Die Nachricht, dass der Kapitän der Bochumer Kreisauswahl nach Wanne-Eickel und damit in den Kreis Herne abwandern wollte, gefiel meinem Auswahltrainer Bernd Büdenbender überhaupt nicht. Er schlug beim VfL Bochum Alarm. So dauerte es nicht lange, bis eine Reaktion kam. Und was für eine: Hermann Gerland stand vor unserer Tür.

Auch wenn ich ihn vorher noch nie persönlich getroffen hatte, so elektrisierte mich doch sein Name. Der langjährige Profi des VfL Bochum war an der Castroper Straße, an der das Stadion lag, eine Institution. Er verkörperte den VfL Bochum wie kein anderer. Gerland war ein »echter Bochumer Junge« und spielte mit einer Leidenschaft, die ihm den Namen »Tiger« einbrachte. Ein Fußball-Malocher, der als eisenharter Abwehrspieler niemals aufgab. Bevor er 1985 Co-Trainer von Rolf Schafstall wurde, arbeitete er nach seinem Karriereende 1984 schon mit der VfLJugend, unter anderem als A-Jugendtrainer.

Und nun, im Oktober 1984, saß er bei uns am Küchentisch und machte mir das Angebot, beim VfL Bochum zunächst in der B-Jugend anzufangen und dann bei ihm in der A-Jugend zu spielen. Er war persönlich gekommen, um sich ein Bild davon zu verschaffen, wie ich lebte.


Mit meiner Mutter in unserer Straße »Auf den Holln«.

Als gebürtiger Bochumer war Gerland selbst in einer Großfamilie aufgewachsen, deshalb störte er sich nicht an einfachen Lebensumständen. Ihn interessierten immer die Menschen, mit denen er zu tun hatte. Er unterhielt sich lange mit meiner Mutter und sagte schließlich: »Frau Legat, Sie brauchen sich nicht zu schämen für das, was Ihnen Ihr Mann oder er Ihrem Jungen angetan hat. Ich bin ab jetzt Tag und Nacht für Sie da.«

Das hat mir sehr imponiert. Fortan sah ich in ihm eine Art Vater-Ersatz. Ich konnte mit ihm über alles reden, habe mich sogar bei ihm ausgeweint. Endlich war da jemand, zu dem ich Vertrauen aufb auen konnte. Das hatte ich vorher ja nie erlebt. Gerland unterstützte mich in allen Belangen, selbst, wenn ich Klamotten oder Schuhe benötigte. Aber er konnte auch knallhart reagieren oder mir die Leviten lesen, wenn er der Meinung war, dass ich mich nicht professionell verhielt. Gerland war es, der letztlich die Weichen für mich stellte.

Wenn das Leben foul spielt

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