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Eine menschliche Kanonenkugel

Kann ein Mensch fliegen? Nun, es kommt darauf an, was man darunter versteht. Nehmen wir einmal Sven Hannawald zu seinen besten Zeiten. Er war ein Skiflieger, weil seine Sprünge manchmal über 150 Meter gingen. Dabei hob er ab von der Sprungschanze, für die auch der norwegische Begriff »Bakken« benutzt wird.

Mehr als 150 Meter waren es nicht, die ich an diesem grauen Nachmittag geschafft hatte. »Etwa 100 Meter«, schätzte ein Zeuge später. Und vom Bakken abgehoben bin ich auch nicht. Ich saß vielmehr auf meinen Backen, als der katapultartige Vortrieb begann.

Skiflieger bringen es auf eine Anlaufgeschwindigkeit von etwas mehr als 100 km/h. Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war, dass die Tachonadel bei 205 km/h stand. Dann überfiel mich der Sekundenschlaf.

Sekundenschlaf? Aus einer tiefen Bewusstlosigkeit wachte ich erst Stunden später auf der Intensivstation auf.

Die Polizei rekonstruierte den Unfall später so: Der Fahrer des VW Sharan stieß mit dem Wagen etwas seitlich versetzt gegen den Auflieger eines fahrenden Sattelzugs. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der Mann durch die Windschutzscheibe etwa hundert Meter weit über die Autobahn A2 geschleudert. Der Unfall geschah um 17:25 Uhr am 10. September 2002.

Als ich die Scheibe durchschlug, schlitzte mir das zerbrochene Glas den Hals auf Höhe des Kinns so stark auf, dass ich rund drei Liter Blut verlor. Dazu brach ich mir den siebten Halswirbel. Aber auch wenn sich das jetzt vielleicht merkwürdig anhört: Ich hatte Glück.


Was vom Auto übrig blieb. Kaum zu glauben, dass ich den Crash überleben konnte.

Zunächst wirkte sich positiv aus, dass ich den Auflieger seitlich versetzt getroffen hatte und nicht voll aufgefahren war. Sonst wäre ich sofort mausetot gewesen. Außerdem bestätigten mir die Ärzte, dass mich mein enormer Muskelaufbau, den ich im Anschluss an meine Profikarriere betrieben hatte, vor einer Querschnittslähmung bewahrte. Am Tag des Unfalls wog ich 108 Kilo – das waren etwa 20 Kilo Muskelmasse mehr als noch zu meiner aktiven Zeit als Fußballer.

Bleibt vielleicht die Frage, wie weit ein Hannawald mit diesem Gewicht gekommen wäre.

Aus der Bewusstlosigkeit aufzuwachen, ist schon ziemlich abgefahren. Ich wusste nichts mehr von meinem unfreiwilligen Job als lebende Kanonenkugel. Man wird langsam wach, undeutliche Konturen nehmen Gestalt an, und man kämpft mit Erinnerungslücken. Weil ich unsicher war, hielt ich mich an das, was ich noch wusste. Zuletzt hatte ich im Wagen gesessen. Dort war ich jetzt nicht mehr. Das war klar. Und vor mir stand eine Krankenschwester.

»Hey, Schwester, wo ist mein Auto? Ich muss doch nach Bremen.«

Drei lange Wochen lag ich im Evangelischen Krankenhaus in der Nähe von Hamm. Zeit genug, um mir Gedanken zu machen, wie es für mich weitergehen sollte. Oft starrte ich an die Decke und grübelte.

Nach Bremen, wo ich die größten Erfolge meiner Profikarriere erlebte mit der Deutschen Meisterschaft, dem Europapokalsieg in Lissabon und dem DFB-Pokalsieg, war ich quasi als Azubi zurückgekehrt. Eine Umschulungsmaßnahme der Berufsgenossenschaft nach meinem Karriereende auf Schalke. Als Co-Trainer im Jugendbereich und als Scout erwarb ich zuerst B- und A-Lizenz und arbeitete dann – wieder an der Weser – zusammen mit Dieter Eilts, meinem einstigen Mannschaftskameraden bei Werder.

Er war es, der mich bat, nach Hannover zu fahren, um dort als Scout bei einem A-Jugendturnier Berichte über interessante Spieler anzufertigen. Ein Profil von jedem Nachwuchsfußballer anzulegen, das ist enorm aufwendig. Da ich alles immer einhundertprozentig erledigen wollte, habe ich mir in meinem Sharan, in dem ich an einem Tisch arbeiten konnte, die ganze Nacht um die Ohren geschlagen. Vielleicht schlief ich am Stück dann noch anderthalb Stunden im Wagen, kurzes Frühstück – hundemüde – an der Tanke, dann wieder ein paar Stunden Beobachtungen beim Turnier. Und schließlich mit dem Bleifuß los auf die Autobahn. Heute weiß ich: Das konnte eigentlich nicht gutgehen.

Einen Horrorunfall, wie ich ihn erlebt habe, steckt man als Mensch nicht so einfach weg. Schon als mein Bruder mich aus der Klinik abholte, bemerkte ich, dass mich die Sache noch längere Zeit beschäftigen würde. Als ich ins Auto einsteigen wollte, konnte ich es nicht. Ich hatte schreckliche Angst.

Nach Einschätzung der behandelnden Ärzte war ich dem Tod quasi von der Schippe gesprungen. Das Schicksal hatte mir eine zweite Chance gegeben. Und eine Zwangspause zum Nachdenken. Über meine Zukunft, aber auch über mein bisheriges Leben. Denn da gab es so einiges an Licht und an Schatten, auf das ich jetzt ehrlich zurückblicken wollte. Auch auf den großen schwarzen Fleck in meiner Kindheit. Davon werde ich nun zum ersten Mal berichten.

Wenn das Leben foul spielt

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