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Mein Vater war ein Schwein

Unser Haus in Bochum-Werne lag »Auf den Holln«, ganz am Ende eines fast kilometerlangen schnurgeraden Straßenabschnitts. Solch eine Lage hatte den Vorteil, dass meine Geschwister und ich Besucher schon frühzeitig sehen konnten. Zum Beispiel meinen Vater, wenn er nach Hause kam. Ich erinnere mich, dass ein ziemlich breiter Bürgersteig neben der Straße entlangführte. Wir erkannten leicht, in welchem Zustand sich unser Vater befand: Benötigte er die ganze Breite des Gehwegs, dann war er wieder mal besoffen.


Die Straße »Auf den Holln« in Bochum-Werne heute. Ganz links das Haus, in dem ich aufgewachsen bin.

Er hieß Gerhard Legat und hatte 13 Jahre lang unter Tage in den Zechen Shamrock 1 und 2 in Herne gearbeitet, ehe er nach deren Stilllegung zu einer Bochumer Firma wechselte, die Dämmstoffe herstellte. Er war ein großgewachsener Bergmann, kräftig und gutaussehend, besaß aber Charaktereigenschaften, die ich mit gewalttätig und tyrannisch beschreiben würde. Alkoholmissbrauch und Jähzorn steigerten sein asoziales Verhalten uns gegenüber ins Unermessliche. Ich habe immer Angst vor ihm gehabt – mein ganzes Leben.

Was mich bis heute verfolgt und was ich nur schwer aus meinem Kopf bekomme, sind die Bilder der brutalen Prügelattacken. Er schlug meine Mutter, meine Geschwister und mich meistens mit zentimeterdicken Bambusstöcken. Mehrfach musste ich miterleben, wie er meine Brüder blutig schlug, so lange, bis der Bambus zerbrach. Er war schier unberechenbar und kannte keine Grenzen.

Wenn er betrunken nach Hause kam, dann ließ dieser Choleriker seinen Aggressionen freien Lauf. Es begann immer damit, dass er wütend die Tür zuknallte, wenn er das Haus betrat. Mehr als einmal musste ich mitansehen, wie er zuerst meine Mutter und dann einen meiner Brüder windelweich schlug. Anschließend war ich an der Reihe.

Es fällt mir schwer, Begriffe zu finden, die ihn treffend beschreiben. Familien-Diktator, brutaler Selbstdarsteller oder tickende Zeitbombe sind nicht mehr als verzweifelte Versuche. Er war einfach nur ein mieses Schwein.

Ich wuchs auf in einer sechsköpfigen Familie. Zusammen mit drei älteren Brüdern lebte ich in einem recht einfachen Haus. Ein dreistöckiger Altbau, der in schmutziggrauem Putz gekleidet war, aus dem Jahre 1880. Die Toilette war auf dem Flur. Eine Dusche gab es nicht, wir wuschen uns im Keller, in dem auch eine alte Zinkbadewanne stand. Wenn man so will, war das unser Bad, inklusive Bollerofen oder – wie man auch sagen könnte – Heizkessel. Da wir nicht so viele Zimmer besaßen, mussten wir immer improvisieren. So schlief ich als jüngstes Kind noch bei den Eltern. Das nutzte mein Vater aus. Jahrelang.


Ein Ort schlimmer Erinnerungen: das Bett meiner Eltern, in dem ich schlief, solange ich ein Kind war. Mein Vater nutzte das aus.

Das Bett war – wie früher üblich – zweigeteilt. Ganz rechts lag meine Mutter, neben ihr mein Vater, während ich auf der linken Seite schlief. Es begann immer damit, dass mein Papa an mich heranrückte, wenn ich mich in der Tiefschlafphase befand, aus der ich dann verwirrt erwachte. Zuerst spürte ich die Hände, dann schlug er das Bein über mich, um sich an mir zu reiben. Oder er begann mich im Intimbereich zu streicheln. Wenn mir endlich klar wurde, was er da trieb, rief ich panisch nach meiner Mutter. Sie versuchte dann verzweifelt, ihn von mir wegzuziehen. Es war das reinste Horrorszenario. Sequenzen davon verfolgten mich noch sehr lange – mitunter sucht sich die verdrängte Scheiße von damals auch heute noch einen Weg an die Oberfläche. Aber wie wehrt man sich gegen ein Ohnmachtsgefühl?

Für ein Kind, das sich normalerweise bei den Eltern geborgen fühlen sollte, war dieser Vertrauensbruch das schlimmste Vergehen. Der Missbrauch durch meinen Vater blieb nicht ohne psychische Auswirkungen. Er veränderte mich total. Ich lebte meine Aggressionen auf der Straße aus. Ich wurde ohnehin gehänselt, weil unsere Familie arm und mein Vater ein Säufer war. Ich hatte nichts, selbst ordentliche Schuhe fehlten mir manchmal, und ich musste im Sommer sogar mit Gummistiefeln herumlaufen, während die anderen Kinder Sandalen trugen. Ich dachte immer: Säufer, ja, das ist er. Aber das ist nur die Hälfte der bitteren Wahrheit.

Was kann man als Kind dagegen tun, wenn der Mensch, der es beschützen soll, zum Missbrauchstäter wird? Ich habe versucht, es zu verdrängen, doch das ist nicht so leicht. Weil immer wieder etwas passierte. Manchmal hat mich mein eigener Papa – als er wieder einmal betrunken war – sogar angepinkelt. In mir spürte ich die allgegenwärtige Angst – aber auch Hass, Ekel und Wut. Ich wünschte ihm den Tod.

Meine Jugend war ein nicht enden wollendes Martyrium. Mein Vater schreckte nicht davor zurück, mich ständig zu demütigen. Es störte ihn nicht einmal, dass meine Freunde anwesend waren. Als seine Füße schmerzten, sollte ich ihn massieren. Als ich es tat, zwang er mich, ihn auch im Genitalbereich anzufassen – vor den Augen meiner Freunde.

Es gibt auch heute noch Situationen, in denen diese Bilder plötzlich wieder durch meinen Kopf spuken. Dann habe ich mit Tränen zu kämpfen und empfinde dieses Ohnmachtsgefühl, das mich damals als kleinen Jungen erfasste. Behütete Kindheit, Familie als sicherer Zufluchtsort, liebende Eltern, die stolz auf dich sind – für mich damals Begriffe aus einer fremden Welt. Vielleicht habe ich deshalb heute Angst, meine eigenen Kinder nicht sehen oder vor Unheil behüten zu können. Ich möchte immer für sie da sein.


»Trinkzeiten« – Was auf dem Schild hinter meinem Vater (rechts) und einem seiner Bekannten steht, hätte auch sein Lebensmotto sein können. Allerdings ohne Zeitlimit.

Möglicherweise fragt man sich jetzt, warum bei derartigen Missständen die Polizei nicht eingriff. In den sechziger und siebziger Jahren gehörte körperliche Bestrafung zu den üblichen Erziehungsmaßnahmen in Deutschland. Der Vater verkörperte in den Familien den Chef, der meistens unantastbar war. Die Polizei hatte nichts zu suchen in den Bergmannsfamilien, in denen Stockschläge zum Alltag zählten. Aber Missbrauch?

Nun, dieses Th ema wurde tabuisiert, man sprach nicht darüber. Dabei spielte die Scham eine entscheidende Rolle und natürlich die Angst vor dem Haustyrannen, der stark war wie ein Bulle. Wer sollte also meinem Vater etwas nachweisen, solange die Familie schwieg?


Mein Vater in seiner Stammkneipe.

So endete für mich das, was im Alter von etwa fünf Jahren begonnen hatte, erst ungefähr sieben Jahre später. Ich vertraute mich meinen Brüdern an, und sie schworen mir, künft ig genau hinzuschauen und mich zu beschützen. Irgendwann kam der Moment, in dem mein betrunkener Vater wieder einmal versuchte, mich anzufassen. Ich konnte mich aus der Umklammerung befreien, bin aus dem Zimmer gelaufen und zu meinem Bruder geflüchtet. Meine Geschwister, die selbst so unter dem Vater gelitten hatten, zahlten es ihm noch am Abend mit gleicher Münze zurück. Er wurde verprügelt – aber richtig.

Gegenüber seiner Frau wurde mein Vater trotzdem immer gewalttätiger. Eines Tages kam er nach Hause, als meine Mama in der Küche das Essen zubereitete. Als wäre es erst gestern gewesen, so sehe ich diese Szene noch heute vor mir: wie mein Vater seinen Mantel auszieht, das Fenster sperrangelweit aufstößt, seine eigene Frau am Hals packt, um sie aus dem dritten Stock zu werfen. Während ich mich mit meinen zwölf Jahren verzweifelt bemühte, ihn daran zu hindern, kam Gott sei Dank mein Bruder Peter ins Zimmer. In dem Augenblick, als meine Mutter schon keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, ging er dazwischen und befreite sie. Dann fasste er meinen Vater, warf ihn zu Boden und malträtierte ihn mit Fußtritten – so lange, bis eine Blutlache auf dem Fußboden zu sehen war.

Warum mein Vater zum Säufer und Schläger geworden ist, der alle terrorisierte und sich an seinen Kindern verging, weiß ich nicht. Ich glaube, er wirkte nur äußerlich so stark, doch tief in seinem Innern war er ein Feigling. Freundschaften ging er nur ein, wenn er das Gefühl hatte, dass er diesen Freunden überlegen war. Er musste immer die erste Geige spielen und wollte bewundert werden. Spielten die Kollegen dabei nicht mit, dann sorgte er dafür, dass die Freundschaften zerbrachen.

Leute, die seiner Meinung nach »minderwertig« waren, provozierte er – meistens ziemlich betrunken – so lange, bis es zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam. Meine Mutter erzählte, dass er in einer Kneipe einen kleinen, kompakten Mann angestänkert hatte. Keiner wusste, dass dieser Typ ein Boxer war. Das Ergebnis: Mein Vater lag sehr schnell auf dem Kneipenboden – mit blauen Augen und ausgeschlagenen Zähnen. Er war »endlich einmal an den Richtigen geraten«, wie es so schön heißt.

Vor neun Jahren ist mein Vater gestorben. Sein Herz versagte, als er in seiner Gartenlaube werkelte. Er fiel einfach um. Ein Jahr zuvor haben wir meinen Bruder Peter beerdigt. Mein großes Idol starb an Krebs. Um ihn habe ich getrauert.

Wenn das Leben foul spielt

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