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Flucht aus der Familie

Peter, mein Held und Vorbild, war der älteste Bruder. Uns trennten elf Jahre. Er arbeitete bei Thyssen-Krupp und übernahm früh Pflichten, die eigentlich einen Vater auszeichnen sollten. Er sorgte sich um unsere Mutter und versuchte, uns das Gefühl des familiären Zusammenhaltes zu vermitteln. Von Peter bekam ich auch meine ersten Fußballschuhe.

Den Tag werde ich nie vergessen, denn vorher kickte ich meistens in meinen Gummistiefeln oder nur in Strümpfen. Wir spielten an der Rückseite der Häuser, die an der Straße »Auf den Holln« lagen. Zwischen der Eisenbahnlinie und den Häusern gab es einen Hinterhof, auf dem wir uns nachmittags trafen. Dreckige schwarze Asche als Untergrund – aber das interessierte niemanden, Hauptsache, der Ball lief. Die Spielfläche war nicht größer als ein doppelter Sechzehnmeter-Raum. Hier wurde gekickt, was das Zeug hielt, oder nach Regeln gespielt, die heute vielleicht befremdlich klingen. »Deutschland erklärt den Krieg gegen …«, hieß beispielsweise ein Fangspiel, an das sich heute vielleicht nur noch die älteren Jahrgänge erinnern. Die Kinder wurden in Nationen aufgeteilt, dann wurde ein Name wie Holland gerufen und alle »Holländer« mussten aufpassen, dass sie nicht gefangen wurden. Denn dann wurden sie selbst zu Fängern, bis am Ende keine Nation mehr übrig blieb.

Solche Momente unbefangenen Glücks verdankte ich Peter. Trotz seines beruflichen Stresses kämpfte er bei uns zu Hause an vielen Fronten. Wobei ihn der Kampf gegen den väterlichen Terror auslaugte. Er erkrankte schließlich an einem Zungenkarzinom.

Wenn Gewalt, Hass und Missgunst das Leben und den Alltag einer Familie bestimmen, dann sind seelische Schäden programmiert. Um das zu kapieren, musste ich nicht Psychologie studiert haben. Die Folgen einer permanenten Angst vor der Unberechenbarkeit des Familientyrannen wurden mit der Zeit klar erkennbar. Nicht nur bei mir und bei Peter, sondern auch bei meinen beiden anderen Brüdern.


Nach meiner Einschulung vor unserem Haus in der Straße »Auf den Holln«.

Volker war neun Jahre älter als ich. Während Peter mit Fußball nichts am Hut hatte, brachte Volker großes Talent mit. Obwohl er ein Lebemann war, gerne feierte und einen unheimlichen Schlag bei Frauen besaß, stand er lange Zeit auf dem Sprung zum Profi. Ihm fiel eigentlich alles zu, und das wiederum missfiel meinem Vater. Der neigte dazu, neidisch zu werden, wenn er nicht im Mittelpunkt stand. Dazu muss man wissen, dass Gerhard Legat als Fußballer einen guten Ruf genossen hatte. Er selbst erzählte, er habe sogar ein Angebot aus England ausgeschlagen. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Tatsächlich kam er nicht über Herne-Süd und den TuS Vorwärts Werne 09 hinaus. Kurzum, er war mit seinen Ambitionen gescheitert.


Ein guter Fußballer, aber menschlich ein Schwein: mein Vater bei einer sportlichen Ehrung.

Anstatt nun Volker zu unterstützen, ihn zu motivieren und stolz auf die Fortschritte seines Sohnes zu sein, begann er, ihn zu deckeln. Und dies auf eine perfide Art und Weise, die nur einem kranken Hirn entsprungen sein konnte. Als mein Bruder wieder einmal topfit und austrainiert vom Verein kam, sagte mein Vater: »Krempel mal deine Ärmel hoch.« Und als Volker verständlicherweise nach dem Grund fragte, erklärte er ihm: »Ich habe von anderen Leuten gehört, dass mein Sohn sich Heroin spritzt.«


Polaroid-Schnappschüsse: meine älteren Brüder Volker und Peter sowie ich selbst zu Hause im Wohnzimmer.

Daraufhin sind bei meinem Bruder alle Sicherungen durchgeknallt. Er hatte – wie ich von ihm selbst erfuhr – als kleiner Junge einen ähnlichen Leidensweg durchmachen müssen wie ich. Auch er wurde von meinem Vater schändlich missbraucht. Das, was sich in all den Jahren aufgestaut hatte, brach jetzt aus ihm heraus. Er stellte seine Sporttasche in die Ecke und schlug seinen jahrelangen Peiniger brutal zusammen, bis der nichts mehr von sich gab. Gewalt erzeugt Gegengewalt – manchmal nur mit zeitlicher Verzögerung.

Zwei Monate lebte Volker noch bei uns, dann kam die Flucht aus einer Familie, die für ihn unerträglich geworden war. Er zog aus. Einige Zeit später gab er den Fußball auf. Jemand hatte ihm offensichtlich den Spaß genommen. Ich habe damals zu meiner Mama und meinem Bruder gesagt: »Ich bring Papa um.« Nie vergesse ich diesen Tag.

Über meinen drittältesten Bruder möchte ich an dieser Stelle nicht viel sagen. Auch er hatte unter unserem Vater schwer zu leiden, aber er hat daraus andere Schlüsse gezogen als ich. Für sein Verhalten fehlt mir jedes Verständnis. Doch manchmal frage ich mich, was aus uns geworden wäre, wenn wir einen anständigen Vater gehabt hätten.

Übrigens verließen meine Brüder und ich, der als Letzter auszog, die elterliche Wohnung nicht ohne Drohung. »Mama steht unter unserem Schutz. Solltest du auch nur einmal die Hand gegen sie erheben, dann überlebst du das nicht.«

Wenn das Leben foul spielt

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