Читать книгу Wenn das Leben foul spielt - Thorsten Legat - Страница 13
ОглавлениеBochum, ich komm’ aus dir …
Als Herbert Grönemeyer das Lied über meine Heimatstadt Bochum herausbrachte, bekam ich beim Zuhören eine Gänsehaut. Er beschrieb meine Heimat, wie ich sie auch erlebt habe. »Bochum, ich komm’ aus dir, Bochum, ich häng’ an dir« – das war meine Hymne.
Wenn ich Titelgewinne als Maßstab anlege, dann habe ich natürlich in Bremen meine erfolgreichste Zeit als Bundesligaprofi erlebt. Im ersten Jahr Europapokalsieger, danach Deutscher Meister und DFB-Pokalsieger. Unglaublich. Wenn ich aber auf Kriterien wie Leidenschaft, Zusammenhalt, Fanunterstützung oder totales Engagement schaue, dann gibt es für mich nur den VfL Bochum.
Fünf Jahre durchlief ich die Jugendmannschaften. Zunächst spielte ich in der U17, der U18, dann in der U19, und in der Saison 1986/87 wurde ich zu den Profis berufen – natürlich von Hermann Gerland, der meine Entwicklung entscheidend prägte. Eines Tages, nach dem Abschlusstraining der A-Jugend, sagte Hermann zu mir: »Pass auf, Thorsten, du fährst heute nicht nach Hause. Du sitzt bei den Profis gegen Borussia Mönchengladbach auf der Bank.«
Mein erstes Spiel als Profi am 6. September 1986 – mit gerade einmal 17 Jahren – läuft noch heute vor meinem inneren Auge ab. Beim Stand von 1:1 gegen Borussia Mönchengladbach kam ich in der 69. Minute für Peter Knäbel ins Team. Ich gab mein Bestes und half mit, das Remis zu retten. Denn in der Schlussphase gingen meine Kollegen auf dem Zahnfleisch.
Meine Autogrammkarte aus der Saison 1988/89.
Fußball in Bochum (Grönemeyer: »Du machst mit dem Doppelpass fast jeden Gegner nass …«) bedeutete für mich als Kind des Ruhrpotts Wohlfühlatmosphäre. Auch wenn wir fast immer gegen den Abstieg gespielt haben, der familiäre Charakter dieses Klubs und die unglaublichen Fans sorgten dafür, dass ich über einen möglichen Wechsel niemals nachdachte. Wenn es nach mir gegangen wäre, niemals hätte ich dem VfL Bochum den Rücken gekehrt.
Als ich in einer durchschnittlichen Mannschaft mehr und mehr in den Blickpunkt rückte, begannen andere Vereine ihre Fühler auszustrecken. Trotzdem kam ein Transfer für mich nicht infrage. Selbst als mein großer Mentor Hermann Gerland als Coach nach Nürnberg ging, kam ich nicht auf Abwanderungsgedanken. Im Gegenteil, ich verlängerte meinen Vertrag um zwei weitere Jahre und verzichtete damit auf viel Geld.
Ich erlebte fünf tolle Jahre in Bochum, aber immer war es mehr oder weniger ein Kampf ums Überleben. Platz 11, 12, 15, 16 und 14 – der VfL und ich blieben zwar in der Bundesliga, aber manchmal war es ganz schön knapp. Einmal, in der Saison 1989/90 mussten wir sogar nachsitzen. Zwei Endspiele gegen den Drittplatzierten der 2. Bundesliga, das war nichts für schwache Nerven.
Schon der letzte Spieltag war dramatisch gewesen. Wir lagen auf dem Relegationsplatz 16, und nur einen Punkt hinter uns lauerte Waldhof Mannheim. Bayer Uerdingen und Borussia Mönchengladbach hatten zwei Punkte mehr, ein Punktgewinn am letzten Spieltag würde sie also vor dem Abgrund retten. Der Zufall wollte es, dass diese beiden Mannschaften gegeneinander spielen mussten. Sollte eine von ihnen verlieren und wir unser Spiel gegen den Karlsruher SC gewinnen, dann wären wir gerettet. So weit die Theorie. In der Praxis aber sah es so aus, dass wir Karlsruhe zwar mit 2:0 schlugen, womit wir dem direkten Abstieg entgangen waren. Uerdingen und Mönchengladbach aber schlossen eine Art Nicht-Angriffspakt und halfen sich mit einem 0:0 gegenseitig.
Unser Gegner in der Relegation hieß Saarbrücken, und wir mussten zunächst ins Saarland reisen. Es war kein Riesenspiel im Ludwigspark, aber wir besaßen deutliche Vorteile. Dann gab es Mitte der zweiten Halbzeit Elfmeter für uns. Als keiner der etablierten Spieler schießen wollte, schnappte ich mir das Leder. Ich dachte, warum scheißen sich alle in die Hose? Ich legte den Ball auf den Punkt, nahm Anlauf und donnerte die Kugel mit links in die linke Ecke. Dann drehte ich eine halbe Runde durch den Strafraum und streckte die Hand Richtung Fans. Sie hatten mich in den Wochen zuvor mehrfach ausgebuht. Vielleicht waren meine Leistungen auch nicht immer gut, doch mein Herz schlug für Bochum, und ich hatte immer alles gegeben. Wie auch jetzt wieder: Als alle anderen von Muffensausen befallen waren, habe ich die Verantwortung übernommen. Nun feierten mich die Fans wieder. Später, als ich die Übertragung am Fernseher noch einmal sah, hörte ich den Reporter sagen: »Legat ist Lateinisch und heißt Bote. Und der Bote schickt den Ball ins richtige Eck.«
Wir siegten also mit 1:0 und wollten nun in Bochum den Deckel draufmachen. Beim Training vor dem Rückspiel konnte ich mir die Frage nicht verkneifen, warum ein erfahrener Torjäger wie Uwe Leifeld nicht zum Elfmeter in Saarbrücken angetreten war. Seine Antwort sprach für mich Bände: »Du bist so unbekümmert. Selbst wenn du den Elfer verschossen hättest, keiner hätte es dir übel genommen.« Ihm schon – und davor hatte er Angst.
Obwohl ich das Match in Saarbrücken entschieden hatte, sollte ich beim Rückspiel zunächst nicht auflaufen. Erst als Frank Heinemann wegen einer Verletzung passen musste, wurde ich nominiert. Ich war stocksauer. Das heizte meine Motivation zusätzlich an. Abstieg – das kam für mich nicht infrage. Ich nahm mir vor, bis zum Umfallen zu kämpfen. Und das tat ich auch. Allerdings musste ich mitansehen, wie Anthony Yeboah das Team von Trainer Klaus Schlappner mit einem super Kopfball in Führung brachte. Da gab es selbst für unseren Toptorwart Andreas Wessels nichts zu halten. Plötzlich war alles wieder offen.
Bis zur 77. Minute stand das Spiel vor nur 20.000 Zuschauern auf des Messers Schneide, dann fiel das erlösende 1:1. Unser Holländer Rob Reekers, der ein glänzendes Spiel absolvierte, spielte scharf auf Michael Rzehaczek. »Ratschi« nahm den Ball gar nicht an, sondern schlenzte ihn mit dem Außenrist zu Leifeld. Uwe lupfte das Leder dann gekonnt über den Saarbrücker Torhüter Wahl ins Netz. Ich erwischte unseren Torjäger als Erster, dann fielen alle über ihn her. Ausnahmezustand!
Es folgten etwas mehr als 20 Minuten, in denen Andreas Wessels über sich hinauswuchs und Yeboah und Co. in die Verzweiflung trieb. Doch er und wir alle hielten stand und retteten uns. Bekanntlich war das Prädikat »unabsteigbar« eng mit dem Image des VfL Bochum verknüpft – und nie war es so präsent wie in diesen letzten Minuten.
Später, als in einem Bericht des Magazins »11 Freunde« an diese Relegation erinnert wurde, berührte mich ein Lob unseres Torwarts Andreas Wessels. Er sagte: »Th orsten Legat war der beste Fußballer, mit dem ich in meinem ganzen Leben jemals habe spielen dürfen. Seine fußballerischen Fähigkeiten waren grandios.«
Meinen größten Erfolg mit dem VfL Bochum hatte ich schon zwei Jahre vorher feiern können: den Einzug ins Finale des DFB-Pokals. Es war auch der schönste Erfolg für meinen Förderer Hermann Gerland, der danach zum 1. FC Nürnberg wechselte.
Zweikampf mit Klaus Augenthaler, den Libero des FC Bayern. In dieser Partie holten wir ein 1:1-Unentschieden.
Im Halbfi nale des DFB-Pokals schlugen wir den HSV mit 2:0. Hier kläre ich vor dem Hamburger Heinz Gründel.
Am Ende der Saison 1987/88 lagen wir zwar nur auf Platz zwölf, doch im DFB-Pokal hatten wir eine Siegesserie hingelegt: 4:1 gegen den VfB Oldenburg, 2:1 gegen den TuS Giengen, 1:0 gegen Schwarz-Weiß Essen und 4:1 gegen Fortuna Köln. Im Halbfinale kam der Hamburger SV, der zuvor den großen FC Bayern geschlagen hatte. Die Hamburger waren im Pokalwettbewerb Titelverteidiger und gingen natürlich als Favoriten ins Rennen.
Dienstagabend, Ruhrstadion unter Flutlicht, 31.000 Zuschauer und ein Gegner, der klasse Fußballer in seinen Reihen wusste. Trainer Willi Reimann setzte auf Profis wie von Heesen, Plessers, Kaltz, Spörl, Jakobs, Kastl, später Bein oder Gründel – und auf Dietmar Beiersdorfer, den ich ein paar Jahre später bei Werder Bremen wiedertreffen sollte. Es wurde ein perfekter Abend für uns.
Schon nach 27 Minuten schockte Martin Kree die Hanseaten mit einem Hammer-Tor zum 1:0. Für Jupp Koitka gab es nichts zu halten. Der HSV-Keeper patzte allerdings in der 60. Minute, als er einen Schuss von Andrzej Iwan durch die Beine bekam. Ausgerechnet der Jupp, der wie ich in Bochum geboren war.
Ich trat wie immer im Mittelfeld an und lieferte mir heftige Duelle mit Heinz Gründel. Hermann Gerland gab mir für die 90 Minuten ein »Pflichtenheft« mit auf den Weg: »Er wird versuchen, dich zu provozieren. Lass dir nichts gefallen, knall ihn weg.« Eine Ansage, die ich nicht falsch verstehen konnte.
Heinz Gründel – offensiv ausgerichtet und technisch stark – suchte immer den direkten Zweikampf eins gegen eins. Ein Straßenfußballer, der ein Jahr zuvor mit dem HSV den DFB-Pokal gewonnen hatte. Das war kein »Hosenpuper«, sondern ein mit allen Wassern gewaschener Berliner Junge. Er hat mich natürlich provoziert und auch mal »weggeflext«. Aber, was soll ich sagen, er traf auf einen jungen, dynamischen, frischen Burschen namens Legat, der sich nicht beeindrucken ließ, selbst wenn der Kontrahent versteckt foulte oder kniff. Und die provokanten Sprüche konterte ich: »Halt’s Maul, alter Mann, du läufst doch nur hinter mir her.«
Und so war es auch. Es entwickelte sich einer dieser knallharten Zweikämpfe, die ich so liebte und die mich top motivierten. Es waren die Anfänge, in denen ich mir meinen Ruf als »harter Hund« verdiente.
90 Minuten lang spielte unsere Mannschaft gegen die Hamburger wie aus einem Guss, und unsere »Katze« Zumdick im Tor ließ nichts anbrennen, parierte Kopfbälle von Ditmar Jakobs und einen gefährlichen Schuss von Uwe Bein. Unser Keeper hielt den Sieg fest und bescherte uns damit eine Prämie von 10.000 Mark. Die hatten wir uns redlich verdient. Ich fühlte mich wie nach einem Marathonlauf. »Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin«, hatten die Fans vom Anpfiff an gesungen. Sie behielten recht.
Ins »Deutsche Wembley« zu kommen, war für mich als 19-jähriger Profi der reinste Wahnsinn. 76.000 Zuschauer bevölkerten an diesem 28. Mai 1988 das Berliner Olympiastadion, um unser Spiel gegen Eintracht Frankfurt zu sehen. Ich fühlte mich wie Jung-Siegfried und hätte Bäume ausreißen können. Doch von den vier Finalspielen im DFB-Pokal, die ich im Laufe meiner Karriere erlebte und von denen meine Mannschaft drei gewann, sollte mein erstes Endspiel bitter enden. Ich erfuhr am eigenen Leib, dass der Fußball, den ich so liebte, manchmal grausam sein konnte.
Es begann damit, dass wir mit 1:0 in Führung gingen. Jedenfalls dachten wir das. Rob Reekers hatte auf Uwe Leifeld gespielt, der lief noch ein paar Schritte und zog ab. Dem Frankfurter Keeper Uli Stein, der den Ball mit beiden Händen aufnehmen wollte, flutschte er durch die Beine. Doch während Uli Stein wie ein Maikäfer auf dem Rücken lag und wir Leifeld feierten, nahm Schiedsrichter Heitmann, der zunächst auf Tor erkannt hatte, den Treffer zurück. Einer seiner Assistenten signalisierte eine Abseitsstellung. Eine falsche Entscheidung, wie auch die Fernsehbilder später bestätigten. Wir waren enttäuscht und wütend. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Ich weiß, dass wir uns in der Halbzeit noch einmal richtig heiß machten. Gerland erinnerte uns daran, dass wir in der Meisterschaft zweimal gegen Frankfurt 1:0 gewonnen hatten. Ich dachte, der Hermann hätte es vor allem verdient, dass er in seinem letzten Spiel als Trainer für den VfL Bochum noch einen Titel erringt. Doch trotz aller Bemühungen gelang uns nach Wiederanpfiff kein Treffer.
Schließlich waren noch etwa zehn Minuten zu spielen. Eine ausgeglichene Partie steuerte auf die Verlängerung hin, als sich das Glück endgültig von uns abwandte. Frankfurt bekam einen Freistoß zugesprochen – und das in der Nähe des Sechzehnmeter-Raumes.
Wie oft hatten wir im Vorfeld dieses Thema angesprochen. »Nur keinen Freistoß« – Worte unseres Trainers, die sich in den Köpfen festgesetzt hatten. Und dann dieses Foul. Alle wussten, dass Frankfurt mit dem Ungarn Lajos Detari einen Spezialisten beschäftigte. Den Stellenwert dieses Spielers mag man daran erkennen, dass das ungarische Fernsehen live übertrug. Detari, Nationalspieler seines Landes, trug Schuhe, die der Sportartikelhersteller in den Nationalfarben gefertigt hatte.
Tränen der Enttäuschung: nach dem verlorenen DFB-Pokalfinale in Berlin. »Ata« Lameck (links), der kurz zuvor seine große Profikarriere beendet hatte, versucht mich zu trösten.
Wir stellten unsere Mauer auf. Es waren fünf Mann, darunter ich mit meinen 1,85 Metern. Zumdick korrigierte die Mauer noch einmal, dann erwarteten wir den Schuss. Ich schaute auf Detaris Schuhe, die mit den rot-weiß-grünen Streifen auf mich wie zwei Lollipops wirkten. Dann lief er an und schoss. Was in diesen Millisekunden passierte, verstehe ich bis heute nicht, wenn ich daran zurückdenke. Alle sprangen hoch, um den Ball zu blocken – nur ich blieb stehen. Genau durch diese Lücke flog der Ball und fand den Winkel.
Der Held hieß Lajos Detari und der Depp Thorsten Legat.
Es ist schon kurios, wenn man in seiner Karriere dreimal DFB-Pokalsieger geworden ist und trotzdem immer wieder auf das eine verlorene Finale angesprochen wird. Aber das passiert mir bis heute in meiner Geburtsstadt. Egal wo ich Fans oder Kollegen treffe, irgendwann kommt die Sprache auf 1988 und anschließend gleich der Vorwurf: »Wärst du damals hochgesprungen, wären wir Pokalsieger geworden.«
Das stimmt natürlich nicht, denn alle vergessen immer, dass es 0:0 stand. Wenn ich den Ball mit dem Kopf geblockt hätte, wäre dann der VfL Bochum Pokalsieger gewesen? Natürlich nicht, erst hätten wir ja selbst ein Tor erzielen müssen, und das wissen die Fans. Aber sie wissen auch, wie sie mich ärgern können. Dabei ärgerte ich mich damals am meisten über meinen Fehler.
Obwohl wir durch Detaris Freistoßtreffer verloren hatten, wurden wir am nächsten Tag in Bochum wunderbar empfangen. Zwar nur als »Vize-Pokalsieger«, aber das »Vize« hatten die Fans ganz klein geschrieben. Mit einem Autokonvoi ging es zum Bochumer Rathaus, wo uns ein Meer von Menschen feierte. Ehrlich gesagt, bekam ich auf dem Rathausbalkon ein wenig Schiss, denn die Brüstung wirkte alles andere als solide. Trotzdem: Es war ein fantastischer Tag.