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Die Stadt bei den Flüssen, 6. Kapitel

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Dachte Adam an Stella am nächsten Morgen, als die Sonne wieder über dem Lupinental schien und Wärme und Lebensfreude in jeden Winkel goss? Hatte er im Wirbel seiner Gedanken noch Platz für Stella, als er neben Frau Piyol aufwachte, und ihr Zimmer wie eine Bühne beleuchtet war von den hellen Strahlen, die durch die großen Fenster fielen? Oder zappelte sein Denken sinn- und hilflos an dem Haken, den er in seiner begeisterten Lust verschluckt hatte, hingeworfen von einer Frau, die so weit jenseits seiner Vorstellungskraft existierte, dass er es für denkgesetzlich ausgeschlossen gehalten hatte, sie könnte ihn jemals als Liebhaber begehren? Oder dachte er jetzt, als mit dem verschwindenden Morgen und dem beginnenden Tag für nur ganz kurze Zeit in einen tieferen Schlaf geglitten war, gar nichts, in einem einzigen Moment überhaupt nicht mehr? Die völlige Entspannung auf seinem Gesicht mag Frau Piyol als ein Lächeln verstanden haben, das glückliche Lächeln eines schlafenden Jungen, den sie für einige Minuten genau betrachtete, ehe sie aufstand. Oder vielleicht deutete auch sie gar nichts, schaute einfach nur hin, um sich zum Aufstehen zu überwinden. Und sicherlich stellte sie sich nicht die Frage: Was hatte sich Adam nur dabei gedacht? Sie selber hatte gar nicht gedacht und den Abend und die Nacht mit ihm genossen. Sie stand auf und deckte, ehe sie leise das Zimmer verließ, Adams nackte Schultern zu, mit einer zärtlichen aber nicht hingebungsvollen Geste. Vor dem Sturm her hatte es diesen Jungen in ihre Arme geweht, nun der Sturm sich gelegt und wieder dem ruhigen Sommerglück gewichen war, wollte sie ihn nicht länger festhalten.

Sie war ganz Lachen und Strahlen, als Adam nicht viel später als sie ihr Büro hinter der Rezeption betrat. Ob er gut geschlafen habe, fragte sie, und ob er etwas frühstücken wolle, das Buffet sei an diesem Morgen für den Ausflug einer großen Firma besonders reich aufgetragen und er könne sich nehmen, was er wolle. Und dabei lud ihr geschwungener, lachender Mund ihn ein, sich keine Gedanken zu machen, sich nicht zu sorgen und keine Zweifel daran zu verschwenden, ob die vergangene Nacht etwas bedeutet hatte. Fröhlich, sagte dieses Lachen, fröhlich sollte er essen, wenn er Hunger hatte, und trinken, um seinen Durst zu stillen. Sein Zögern, das ihn auf dem Weg hinunter in ihr Büro unaufhaltsam beschlichen hatte, war von ihrem Lachen sofort vertrieben.

„Vielen Dank, Carla“, sagte er, „ich bin kein großer Frühstücker. Aber ein um so größerer Kaffee-Trinker.“

„Da wirst du unseren Oberkellner mit einem charmanten Kompliment über seine Künste an der Kaffeemaschine sehr glücklich machen“ lachte sie. „Er hält sich für einen unwiderstehlichen Barrista und lässt sich nicht durch gutes Zureden und nicht durch inniges Bitten davon abbringen, unsere Gäste mit den unglaublichsten Kreationen aus Milch und Gewürzen zu beglücken. Die Chefin empfiehlt einen simplen Café Crème, das passt auch am besten zum Frühstückscroissant für kleine Frühstücker.“

„Das hört sich ganz fantastisch an. Danke für den Tipp.“

Wie selbstverständlich ging er zu ihr hin, sie gaben sich Küsschen auf die Wange und dann trennten sie sich, als er in den Frühstückssaal ging, während sie im Büro ihre Arbeit fortsetzte.

Im Frühstückssaal waren nur eine Handvoll Tische besetzt, die Türen auf die große Terrasse hin waren zum Teil geöffnet. Draußen saß kein einziger Gast, die Tische waren auch nicht eingedeckt. Unschlüssig sah Adam sich um. Lautlos war ein Kellner an ihn heran getreten, einen gute Kopf kleiner als Adam, lederne Gesichtszüge unter kohlrabenschwarzem Haar, mit dem gelassenen Blick eines in vielen Situationen erprobten Gastronomen. Adam erkannte sofort, dass das der Oberkellner und selbstherrliche „Barrista“ sein musste.

„Guten Morgen, der Herr“, begrüßte er Adam, „Sie können selbstverständlich draußen Platz nehmen, man muss sich nur trauen und sich darauf verlassen, dass der Sturm längst vorbei und der ganze Tau schon seit kurz nach Sonnenaufgang weggedampft ist.“

„Oh, das ist prima. Sehr gerne.“

„Was darf ich zu trinken bringen?“

„Frau Piyol empfahl mir Ihren fabelhaften Café Crème“, entgegnete Adam in der berechtigten Erwartung, dass der Oberkellner ohnehin schon die ganze Situation begriffen hatte. Tatsächlich malte sich in dessen Gesicht keinerlei wissender Spott aus, sondern pure Freude über den Glanz seines Berufs.

„Das freut mich zu hören. Ich kann ihnen da eine ganz neu eingetroffene Arabica Dura Mischung anbieten, gebrannt wie der Sand der Wüste und mit dem Aroma sagenhafter Urwälder.“ Ohne eine Antwort Adams abzuwarten, marschierte er los in Richtung der Bar.

Adam schnappte sich von dem tatsächlich schier überlaufenden Buffet sein Croissant und ging hinaus auf die Terrasse. Der Sturm hatte dort keine sichtbaren Spuren hinterlassen, sollte er Laub oder Äste hinaufgeweht haben, waren die jedenfalls gründlich beseitigt. Auch im Park selber herrschte, soweit Adam das sehen konnte, dieselbe geordnete Idylle wie am Vortag. Ebenso war es wieder warm und hell geworden. Und auch alle Spuren des Regens, den er gestern Nacht gehört hatte, waren, wie der Oberkellner es versprochen hatte, vollständig verdunstet und getilgt. Da kam der Oberkellner auch schon mit dem Kaffee. Adam dankte, biss von seinem Croissant ab und überlegte, ob es sich darüber nachzudenken lohnte, was ihm in der vergangenen Nacht hier passiert war.

Eigentlich gab es da nicht viel nachzudenken. Er war von einer wunderbaren Frau – seine Freunde und vielleicht auch sein Vater würden Carla wohl in einer Adam widerwärtige Weise eine „erfahrene“ Frau nennen – er war also von dieser wunderbaren Frau, der aus eigener Initiative zu gefallen er keine nennenswerte Hoffnung haben durfte, liebevoll verführt worden. So etwas passierte. Es war ein seltenes und glückliches Erlebnis für einen Mann in Adams Alter, aber es passierte. Die Kumpels aus seiner Clique hatten so etwas wohl kaum erlebt. Adam dachte das ohne jedes Gefühl der Überheblichkeit. Ihm war aber bewusst, dass es für seine Freunde und Bekannten in seinem Alter viel spannender – und vor allem auch einfacher – war, Abenteuer im unbegrenzten virtuellen Raum des Cybersex zu erleben, als sich auf die komplexen Reize einer Frau wie Carla Piyol einzulassen. In der Gesellschaft unter den Kuppeln beherrschte das Gebot immerwährender und immer zufrieden machender Konsummöglichkeit auch das Geschlechtsleben der Menschen. Die schnell und sicher arbeitende Computer- und Netzwerktechnik lud zusammen mit den ausgefeilten technischen Lösungen der mit viel Forschungseifer entwickelten Cybersex-Hardware förmlich dazu ein, sexuelle Genüsse zu einem erheblichen Anteil im Virtuellen zu suchen. Daran war weder ein Geheimnis, noch ein Tabu. Vernünftiger Weise hatte sich schon vor vielen Generationen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Cybersex, damals noch in einer aus Sicht von Adams Zeitgenossen ziemlich atavistischen Weise praktiziert, vor allen Gefahren sicheren Schutz bot, den vor allem in ihrem Sexualleben unerfahrene junge Menschen ausgesetzt waren. Die Übertragung schlimmer Krankheiten war ebenso ausgeschlossen wie das noch drastischere Risiko einer zwar sehr seltenen, aber dann um so grausamer verlaufenden spontanen Schwangerschaft der Frau.

Kein vernünftiger Mann, der einigermaßen gesund im Kopf war, also buchstäblich keiner, höchstens vielleicht ein mit äußerst kaltblütiger Brutalität vorgehender, ja terroristischer Verbrecher, hätte eine echte Sexualpartnerin wissentlich der furchtbaren Gefahr einer spontanen Schwangerschaft ausgesetzt und damit die vielfältigen schrecklichen Komplikationen bewusst verantwortet, die für die Frau in den meisten Fällen einem Todesurteil gleichkamen. Und doch passierten hin und wieder, die Medien berichteten dann recht ausführlich im Tone volksschützender, mitleidiger Anteilnahme darüber, spontane Schwangerschaften, die einfach durch pures Nichtwissen und die grobe Missachtung der simpelsten Verhütungsanweisungen hervorgerufen wurden. Das konnte selbst dem Dümmsten mit Cybersex nicht passieren. Und das trug zur vollständigen Akzeptanz aller marktgängigen Praktiken natürlich ungeheuer bei.

Hinzu kam, dass nicht nur jeder und jede es tat, sondern auch alle freimütig darüber redeten. Es war ohnehin schon gesellschaftlich verpönt, sich über sein eigenes Sexualleben auszuschweigen, schon ein leichtes Rumdrucksen oder Zögern mochte den Verdacht abartiger Neigungen erwecken, wieso hätte derjenige, der mit Berichten und Erzählungen knauserte, sonst etwas verbergen wollen. Eine Weigerung, über die heißesten und neuesten Erlebnisse im Cybersex zu erzählen, und sei es auch in einer Runde mit kaum bekannten Personen, das wäre mehr als nur unanständig erschienen, es wäre lächerlich gewesen. So in etwa, als mache man ein Geheimnis daraus, in welchen Supermarkt man am liebsten ging. Was wäre denn ein Aspekt gewesen, dessentwegen sauberer und manierlicher, in den eigenen vier Wänden praktizierter Cybersex genierlich hätte sein sollen? Die wohldurchdachten Peripheriegeräte der Sextechnologie garantierten sowohl Frauen als auch Männern den Höhepunkt, wahlweise schnell oder nach längerer Anwendungszeit, alles eine Frage der Software und der gewählten Voreinstellungen. Jedem konnte der virtuelle Sex das bieten, was ihm gerade beliebte, man kann ja auch nicht an jedem Tag an dem immer selben Geschmack finden. Das Angebot an Hardware ebenso wie an Software war schlicht zu groß, als dass man ganz alleine den Überblick hätte behalten können, da war es sogar wichtig, sich im Freundes- und Bekanntenkreis auszutauschen und auf dem Laufenden zu halten. Das Netz bot allein an kostenlosen Downloads eine solche Vielzahl von Anwendungen, mit denen jeder nur erdenkliche Geschmack bedient werden konnte, die aber auch niemand selbst bei semiprofessioneller Beschäftigung mit Cybersex nach Art eines sehr in Anspruch nehmenden Hobbys alle hätte ausprobieren können. Viele der kostenlosen Programme wurden von Firmen gesponsert, sei es im Rahmen von Werbeauftritten auf ihren Homepages, sei es als Zugabe zu ihren Produkten und Dienstleistungen. Der größte Limonadenhersteller in der Paneupinia hatte gerade letztes Jahr für Furore gesorgt mit einer Programmserie „Kunstvolle Verwöhnungen“. Da gab es zu jeder Flasche Limo einen Zugangscode für eine von fünfhundert fantastischen Applikationen voller prickelnder Erfahrungen, wie es wortspielerisch in der Anpreisung sowohl der Limonade als auch der gesponserten Cybersexprogramme hieß. So etwas lag ganz im Trend, jeder machte ihn mit und niemand, abgesehen vielleicht von ein paar total verschüchterten Freaks, die so gar nicht mit anderen Menschen umgehen konnten, vergaß darüber die Bedeutung von echtem Sex mit echten Sexualpartnern. Das war freilich eine ganz andere Kategorie, für die jungen Männer in Adams Alter eine ganz andere Schwierigkeitsklasse.

Mädchen, junge Frauen, das waren von vornherein einmal ganz fantastischen Geschöpfe, aber eben auch ziemlich komplizierte. Es galt, sich behutsam an sie heran zu wagen und Ausschau nach der zu halten, mit der es möglich wäre, die im Cybersex erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten gewissermaßen in vivo zur Anwendung zu bringen. Das war nicht etwa deshalb schwierig, weil die jungen Frauen sich grundsätzlich geziert hätten, nein, sie hatten ja genau denselben Anteil an dem offenen Umgang mit Sexualität, virtueller und realer, aber in einem unterschied sich ihr gesellschaftlich akzeptierte und praktizierte Rolle stark von derjenigen der jungen Männer: Es wurde von ihnen erwartet, und die allermeisten kamen dieser Erwartung nur zu gerne nach, dass sie anspruchsvoll waren und das ihre sie umschwärmenden Verehrer auch deutlich merken ließen. Anspruchsvoll nämlich in jeder Hinsicht: Auf seinen allerersten Kontaktversuch reagierte sie vorzugsweise mit einer Anteilnahme kurz unterhalb kühlen Ignorierens. Das hatte er gefälligst sportlich zu nehmen, verlegen durfte es ihn freilich machen, aber er sollte bitteschön nicht meinen, er hätte sich nun genug bemüht und wenn sie nicht wolle, sei das nicht sein Problem. Nahm er es in dieser Weise auf, und das kam ja durchaus vor, dann war er schon im ersten Stadium der Prüfung durchgefallen. Ernst zu nehmende Kandidaten machten einen weiteren Anlauf, der dann immerhin mit so etwas wie einer kurzen Entgegnung belohnt wurde, und in weiteren Anläufen konnte er dann darauf hoffen, dass sie sich einladen und ausführen ließ, er ihr Geschenke und Aufmerksamkeiten zukommen lassen durfte, die sie mit mehr und mehr Zuwendung entgalt. Ab einem solchen Punkt bedurfte es für ihn auch keines großen Ideenreichtums mehr, um an sein Ziel zu gelangen, will heißen: eine wenigstens kurze Beziehungen einschließlich gutem und gerade in der ersten Zeit heftigem Sex, das ergab sich vielmehr wie von selbst, wenn er nur am Ball blieb und nicht zu früh meinte, ihr die Initiative überlassen zu können. Dass umgekehrt sie das Geschehen lenkte und antrieb, sie ihn gar gezielt verführte, es war demgegenüber schon möglich, aber eben außergewöhnlich. Und ein Abenteuer, wie Adam es die Nacht zuvor mit Carla Piyol erlebt hatte, das war ebenso wenig weder undenkbar noch anstößig. Derlei Romanzen eines jungen Mannes mit einer Frau, die älter als er selber war, waren Gegenstand manche erotischer Bücher und Filme. Aber dass so etwas im echten Leben passierte war nun einmal so wahrscheinlich, wie es eben unwahrscheinlich war, in der Handlung eines Films zu leben. Also ein unerhörter Glücksfall, und nun hatte ein eben solcher Glücksfall unseren guten Adam getroffen.

Wie er in der steigenden Morgensonne saß, behaglich erkennend, dass der Oberkellner den schlichten Café Crème im Gegensatz zu den am Nachmittag zuvor servierten Kaffeemischkreationen wirklich beherrschte, da gelangte er schnell zu der Überzeugung, dass es wahrhaftig keinen Anlass gab, über dieses fantastische Abenteuer in Carla Piyols Armen nachzudenken. Das wäre töricht gewesen, ein so wertvolles Erlebnis in rationelle Scheibchen zu zerschneiden und sie nach vermeintlich objektiven Maßstäben aufzuwiegen und zu vermessen und über ihre Bedeutung vernünftelnd zu urteilen. Ihre Anweisung, einfach nicht nachzudenken, war im richtigen Augenblick gesprochen und stimmte voll und ganz. Sie hatte auch jetzt noch Gültigkeit. Und entgegen allen Konventionen, von denen er genauso stark geprägt war wie seine Zeit- und Altersgenossen, fasste er im selben Augenblick den festen Entschluss, auch mit niemandem jemals über die vergangene Nacht zu reden. Weniger aus Rücksicht auf Carla, die ja offensichtlich gar kein Geheimnis daraus machen wollte, sondern vor allem, um eine zergliedernde Betrachtung auch in einer etwaigen Unterhaltung mit Freunden zu vermeiden.

Nachdenken musste er jetzt aber über Stella, da gab es einiges, worüber er sich klar werden wollte. Stella, sie war so wie Carla auch eine deutliche Abweichung von dem Frauenbild, wie er es als herrschendes kennen gelernt hatte. Auch sie zog sich nicht auf die Rolle der Dame zurück, um die der Verehrer werben musste, ehe er auf Erhörung rechnen durfte. Schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen vor nun schon drei Wochen war sie es gewesen, die von Anfang an die Situation kontrolliert hatte. Es war ungeheuerlich gewesen, zumal an einem Treffpunkt junger Männer auf der Pirsch, die sich am Ufer der Kirna an sonnigen Samtsagnachmittagen in Scharen aufhielten, wie Stella ohne ein Wort der Erklärung sich zu ihnen herüber getraut und aus einem beiläufigen Sich-Sehen eine bewusste Kontaktaufnahme gemacht hatte. Entsprechend tiefen Eindruck hatte sie dann ja bei den Jungs auch hinterlassen, wohl bei allen, außer ihm selber, wie Adam sich jetzt bei nochmaligem Nachdenken eingestehen musste. Er hatte da einfach noch keinen Blick für sie gehabt, immer noch unter Sandras Eindruck stehend. Was hätte er auch tun sollen, er war wirklich förmlich betäubt gewesen. Die jeweils auf eigene Weise missglückten weiteren Kontakte mit ihr, hatten nach und nach seine Aufmerksamkeit auf ihre Person gelenkt. An der Verabredung im Brauhaus war er schon ernsthaft interessiert gewesen und hatte nicht wenig Stolz darüber empfunden, die Initiative vermeintlich zurückgewonnen zu haben. Seinen Irrtum hatte er freilich schnell bemerkt, schon in dem Augenblick, in dem er zu der Verabredung im Brauhaus endlich, viel zu spät, erschienen war, war es für ihn unübersehbar, dass wiederum Stella das Geschehen vollständig kontrollierte. Es war allein ihre Entscheidung gewesen, die Verabredung trotz seiner dreisten Verspätung nicht platzen zu lassen, und dann hatte auch sie allein sich dazu durchgerungen, ihm sogar noch eine Chance zu geben, nachdem er ihr das Bier über die Hose geschüttet hatte. Hätte sie sich dazu nicht entschließen können, wäre sie schon in diesem Moment einfach aufgestanden oder gegangen, oder hätte sie ihn einfach den ganzen Abend über in kühler Verachtung zappeln lassen, sie hätte sich damit keinem berechtigten Vorwurf ausgesetzt. Indem sie es dennoch nicht tat, hatte sie ein weiteres Mal bewiesen, wie sehr ihr daran gelegen war, Adam näher zu kommen, ihn in ihrer eigenen, selbstbewussten Weise zu umwerben, und seine eigenen, zaghaften und vollkommen vertölpelten Werbungsversuche freundlich zu ignorieren. Diese Freiheit zur ganz und gar eigenen Entscheidung, ihrem eigenen Willen folgend und nicht auf das achtend, was er oder gar Dritte über sie denken könnten, das war es, was er seit dem Abend im Brauhaus an Stella mochte, ja bewunderte. Das hatte ihm die Augen für sie geöffnet. Erst danach, bei ihrem Wiedersehen im Lupinental und dann später auf der Rückfahrt in die Stadt, schließlich abends in bei ihr, hatte er auch wahrgenommen, wie schön sie war. Hatte sie da endlich Begehren in ihm geweckt? Wenn er ehrlich zu sich und nicht rücksichtsvoll zu ihr war, musste er das verneinen.

Er schwamm auf einer breiten, nicht zielgerichteten Woge einer liebeslustigen Empfindung, bereit, rauschhafte Glücksmomente zu erleben, gleichviel, mit welcher Frau. Diese Woge hatte ihn nun in die Arme von Carla Piyol getrieben. Darüber war er glücklich, wie er da den neuen Sommermorgen auf der Terrasse in sich aufnahm, glücklich und frei von Gewissensbissen. Es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass er, indem er sich auf Stella eingelassen hatte, ihr gegenüber zu etwas verpflichtet sein könnte. Zwar würde er ihr von Carla und der Nacht mit ihr nicht erzählen, aber eben nur deshalb, weil er von niemandem davon berichten wollte.

Der Café Crème war ausgetrunken, das Croissant gegessen, er nahm sein Handy heraus ohne besondere Absicht. Ach, die Zeit in der Morgensonne war ihm viel länger vorgekommen, er hatte nur etwas mehr als ein Viertelstündchen in Gedanken zugebracht, trotzdem wollte er nun aufbrechen.

Nach einem kurzen, freundlichen Abschied von Carla war er losgefahren, das Auto war nach dem Sturm und Regen mit einer Schicht aus Staub und Pollen überzogen, aber in seiner wiedererwachten Gleichgültigkeit gegenüber dem Chic seines Wagens störte ihn das nicht. Die Seitenscheiben heruntergelassen steuerte er aus dem großen Haupttal hinaus, hinauf zum Wald. Der Fluss mit den Weidenbäumen lag jetzt zu seiner Linken und er warf wie zum Abschied einen glücklichen Blick hinunter. Wieder einmal fuhr er in das dichte Waldstück hinein und wieder fiel ihm der Weg zurück in Richtung der Stadt viel leichter. Dieses Mal zwar nicht abgelenkt von einer Unterhaltung mit einer Beifahrerin, hatte er dafür Carlas Erzählungen von der Gegend hier draußen im Ohr, und ihr Urteil, dass alles, was in diesem Wald lebte, für sich lebte. Und, wie er jetzt, da er in das dämmrige Dunkel des Baumtunnels hineinfuhr, ergänzte, vermutlich hatten die armen Geschöpfe des Waldes vor seinem mit unbezwingbarer elektrischer Antriebsenergie dahinsurrenden Auto mehr Angst als er jemals vor namenlosen Wesen des Waldes ernsthaft verspüren konnte. Die Seitenfenster könnte er jetzt hochfahren, es ist ja auch gleich viel frischer im Wald, aber was soll’s, da vorne wird es ja gleich wieder heller und wärmer.

Hätte er sich in diesem Moment nicht damit beschäftigt, für die Rückfahrt nun doch etwas Musik aus dem Unterhaltungssystem herauszusuchen, und hätte er dabei nicht den Kopf ein kleines Stück nach rechts gedreht, er hätte womöglich die Gestalt gar nicht sehen können, die im Halbdunkel am Straßenrand stand, einen halben Meter vielleicht vor dem Waldrand zwischen zwei Bäumen. Nur aus dem Augenwinkel hatte er eine kleine, schnelle Bewegung gesehen, die Gestalt hob und senkte beide Arme, zweimal schien sie so zu winken. Unwillkürlich trat Adam heftig auf die Bremse, das Verkehrssystem fing das Schleudern des Wagens aber schon im Bruchteil einer Sekunde ab, so dass der Wagen nur spürbar von einer Seite zur anderen ruckte, dann verlangsamt weiterrollte.

Das konnte nicht wahr sein! Adams Verstand weigerte sich zuzugeben, dass da doch etwas war, in diesem undurchdringlichen Waldtunnel. Er hatte diese Gestalt dort auf der linken Seite doch gesehen, in diesem Augenblick, im besten Sinne in diesem einen ganz kurzen Blick, den er auf sie geworfen hatte, den Kopf ruckartig zur Seite gedreht, dann ebenso rückartig wieder abgewendet und nach vorne gerichtet, da hatte er sie gesehen, hatte es, dieses Lebewesen, so deutlich wahrgenommen, dass ihm nichts daran wie ein Traum oder gar eine Sinnestäuschung vorkam. Adam atmete durch, dann wagte er einen Blick in den Rückspiegel. Der diffuse Eindruck des Lichts unter dem geschlossenen Blätterdach, das wieder nur von wenigen Lichtpunkten durchbrochen war, wurde noch dadurch verstärkt, dass er beim Losfahren zwar die Windschutzscheibe saubergesprühte hatte, aber nicht die Heckscheibe. Jetzt gab der Rückspiegel nur ein dunkles und körnig grobes Bild der Straße wieder, die hinter ihm lag. Da war nichts. Adam kniff beide Augen kurz zu, um schärfer hinschauen zu können, suchte nochmals das Bild im Rückspiegel ab. Nichts. Doch! Da! Etwas löste sich vom Fahrbahnrand, es unterschied sich in Farbe und Kontur kaum von einem niedrigen Baum oder einem Strauch, jetzt trat es auf die Straße, es war eine aufrecht auf zwei Beinen stehende Gestalt, lange Arme baumelten an den Seiten herunter, auf den Schultern ein flacher Kopf, bedeckt mit einem Fell oder einem Vlies, es war nicht näher zu erkennen. Wieder bremste Adam ab, wieder fing der Wagen das drohende Schleudern ab, ein Warnsignal des Verkehrssystems verfehlte seine Wirkung nicht, Adam blickte wieder nach vorne. Aber noch verlief die Straße gerade und ohne Kurve durch den Wald, er konnte nicht anders, als noch einmal in den Rückspiegel zu sehen. Die Gestalt war mitten auf der Fahrbahn stehen geblieben und sah ihm hinterher. Da winkte sie wieder, indem sie beide Arme schnell wedelnd ein-, zweimal auf und ab bewegte, noch ein Winken. Jetzt erhob sie einen Arm steil nach oben, der Arm, ein langer, dünner Arm stieß viele Male senkrecht zum Dach des Baumtunnels hinauf, eine Geste wie eine Drohung oder Verwünschung. Adam riss sich von dem Anblick los, er ertrug ihn nicht mehr. Gleich ging es in die nächste Kurve, Adam wollte in einem Gedanken der Flucht beschleunigen und schnell, so schnell es ging hinaus aus dem Baumtunnel, hinaus ans Licht und weg von der Gestalt da hinten. Stattdessen schaute er noch einmal in den Rückspiegel – da war nichts! Vor Überraschung vollführte Adam eine Vollbremsung, unter Protest der Reifen und des nervös quäkenden Verkehrssystems kam der Wagen zum Stehen. Adam drehte den Kopf nach rechts über die Schulter, wandte sich ganz um, starrte angespannt nach hinten. Es ist weg, verschwunden! Sein Blick suchte den Waldrand ab, da war auch nichts mehr zu sehen, ganz genau inspizierte er beide Straßenränder bis hin zu der Stelle, an der die Gestalt gestanden haben musste.

Wie ein schrilles Pfeifen in seinem Kopf durchschoss seinen Geist eine schreckliche Vorstellung: Idiot! Was stehst du mitten im Wald herum und starrst nach hinten! Von vorne, sie kommen von vorne, schleichen sich an das stehende Auto heran, und dann haben sie dich, packen dich und schleppen dich in den Wald, wenn sie dich nicht gleich an Ort und Stelle über dich hermachen. So schrill pfiff es in seinem Kopf, dass ihm der Angstschweiß ausbrach, als er sich langsam wieder nach vorne umdrehte, gleich würde er den Gestalten unmittelbar ins Gesicht sehen, vor ihm würden sie stehen, nahe genug, um ihn mit ihren langen dünnen Armen zu ergreifen, zu würgen und zu zerren. Da kommen sie schon, vielleicht in einer großen Schar aus dem Wald, umringen das verwundbar ruhig dastehende Auto. Weiter und weiter drehte er sich in namenloser Angst nach vorne, schloss die Augen und kniff sie zusammen, dann war sein Kopf nach vorne gewandt, in einem verzweifelten Mut öffnete er die Augen wieder – leer lag die Straße vor ihm. Eng gesäumt von den nach oben im Blätterdach aufgehenden Bäumen führte sie offen und unversperrt auf die nächste Kurve zu, hinter der, das wusste er als lebensrettende Gewissheit, es wieder hinausgehen würde. Nach links hin würde der Wald zurücktreten und dann wäre da der Abhang, der zu einer dünnen Baumreihe zum Fluss hinunterführte. Mit fliegenden Händen ergriff Adam Lenkrad und Fahrschalter. Unter neuerlichem Protest des Verkehrssystems schoss das Auto so heftig nach vorne, dass er durch die Beschleunigung in den Sitz gepresst wurde. Das Verkehrssystem bremste ihn vor der Kurve auf die Höchstgeschwindigkeit ab, eine langgezogene Kurve, da war die Kante des Schattens zu sehen, die das Blätterdach warf, und an der die sonnenbeschienene Fahrbahn begann, jetzt, ja jetzt war er schon heraus, geschafft!

In der hellen Sonne, die durch die offenen Seitenfenster flutete und das Dach des Wagens sofort aufzuheizen begann, überliefen Adam Kälteschauer und schüttelten ihn in kurzen Anfällen, bis seine Hände wie im Fieber geschüttelt wurden. Die zitternde Bewegung übertrug sich auf das Lenkrad, er hielt es mit vor Anspannung weißen Fingern fest umklammert, und der Wagen geriet ins Schlingern. Er bremste wieder ab. Atme, atme, atme feuerte er sich an, den Schrecken ausatmen und den Lebensmut der hellen und warmen Sonn einatmen, den bösen Brodem des Waldes da hinter sich austauschen gegen frische Luft. Er schnappte hektisch nach Luft und hielt sich angestrengt zu ruhigen, tiefen Luftzügen an, Mühe bereitete es ihm, um die nächste, wieder sehr sanfte Kurve herumzusteuern, Vorsicht!, jetzt war er doch sogar auf die Gegenfahrbahn geraten, Vorsicht, jetzt bloß nicht verrückt werden und einen Unfall bauen, hier kann dir so schnell keiner helfen, die Stadt ist noch weit, so bald kommt hier keiner entlang, eher sind die Kreaturen des Waldes, nein, nicht daran denken, atmen, ruhig atmen. Die Kurve war geschafft, behutsam wie ein Fahranfänger steuerte er den Wagen auf eine längere Gerade, atmete ruhiger. Da lockert sich endlich der Knoten beklommener Angst, der sich um seine Brust geschlungen hatte. Es war ja vorbei, geschehen und überstanden. Entspannt sank er tiefer in den Fahrersitz, lenkte mit der linken Hand, mit der offenen Innenseite der Rechten strich er sich über das Gesicht und meinte zu spüren, wie sich das Gesehene wegwischen ließ. Vorbei, vorbei, vergessen.

Als er wieder bewusst nach vorne auf die Straße sah, standen sie da. Mitten auf der Fahrbahn, eine Gruppe von vielleicht einem Dutzend. Wie sie dorthin gelangt waren, hatte er nicht gesehen. Als wären sie auf die Straße gezaubert worden, waren sie in einem einzigen Augenblick aufgetaucht. Er bemerkte sie, noch bevor das Verkehrssystem anschlug, das freilich nach weniger als einer halben Sekunde das Hindernis auf dem Weg erkannte ein klingelndes Warnsignal abgab, und, um die Kollision so gut es ging zu verhindern, eine maximale Vollbremsung einleitete. Mit durchgedrückten Armen stemmte Adam sich gegen das Lenkrad, presste den Oberkörper zurück in den Sitz und fing die enorme Wucht der Verzögerung mit angespanntem Nacken auf. Lautlos, das Verkehrssystem verhinderte ein Blockieren der Räder, kam das Auto zum stehen, überflüssiger Weise nahm Adam noch wahr, dass das Verkehrssystem den Abstand zum Hindernis mit noch exakt 8,3 Metern angab, zusammen mit der Meldung, dass alle Fahrzeugsystem einwandfrei funktionierten. Na, herzlichen Glückwunsch!

Dafür hatte er es jetzt nicht nur mit einer der Gestalten zu tun, sondern mit einem ganzen Trupp. Als hätten sie an dieser Stelle schon die ganze Zeit über auf ihn gewartet, waren sie ihm offen zugewandt, standen in unregelmäßiger Ordnung teils nebeneinander, teils in zwei oder drei Reihen hintereinander auf der Straße, die Köpfe ihn seine Richtung gedreht. Aus kreisrunden, in ihrer ganzen Fläche schwarzgrünen Augen, trübe wie ein mooriger Tümpel, starrte sie ihn an, fixierten ihn, wenngleich er keine Pupillen ausmachen konnte. Behaart waren sie am ganzen Körper, das war in der hellen Sonne nicht zu übersehen. Überall waren sie bedeckt mit einem dichten und langhaarigen, pelzartig dichten Fell, struppig und stumpf, bei vielen von ihnen stand es klumpig verfilzt ab. Die ganz Gruppe stand in der gleichen Pose da, gerade aufgerichtet, die langen, bis zur Mitte der Beine reichenden Arme regungslos an den Seiten. Hier im Hellen konnte Adam gut genug sehen, um erstmals Notiz zu nehmen von ihren unförmigen und großen Händen, unförmige Klumpen mit riesenhaften, dicht behaarten Handflächen, an denen, über knotige Gelenke verbunden, stummelartige Finger hingen. Am Ende der Finger: schmutzig schwarze Fingernägel, oder besser: Krallen, gut zwei Drittel so lang wie die ebenfalls von Fell überwucherten Finger selber.

Adam presste sich immer noch mit zunehmend schmerzenden, durchgedrückten Armen nach hinten, als könnte er einen rettenden Abstand von den Gestalten vor sich gewinnen. Dann wurde er sich schlagartig bewusst, dass jetzt alles von ihnen abhing, dass er ihnen nicht entkommen konnte, wenn sie ihn nicht entkommen lassen wollten. Sie versperrten den Weg, waren allesamt so groß, dass ein durchschnittlicher aufrecht stehender Erwachsenen ihnen allenfalls bis zur Brust reichte. Jeder von ihnen hatte kräftig wirkende Glieder, manche eher schlank und muskulös, andere massig und schwer. Da gab es keine Chance, mit dem Auto durchbrechen zu wollen, er käme an ihnen nicht vorbei. Schon zu dritt wären sie ihm gründlich überlegen gewesen, aber es waren ja viel mehr. Es würde jetzt das geschehen, was sie geschehen lassen wollten, davon war Adam überzeugt. Er ließ das Lenkrad los, ließ die Arme erschöpft sinken. Er hoffte, gefasst abwarten zu können, was die Lebewesen nun tun würden.

Schnell war es mit seinem kurzen Anflug von Mut dabei. Denn – da! – jetzt lösten sich drei der Lebewesen von der Gruppe, kamen mit sehr langsamen und seltsam federnden Schritten auf das Auto zu. Adams Blick fiel auf die Mitte ihrer Beine, eine Art Kniegelenk schien so etwas wie einen Oberschenkel mit einem Unterschenkel zu verbinden. Aber das Knie wies nach hinten und Ober- und Unterschenkel knickten beim Gang der Lebewesen in einem starken Winkel ein, daher das federnde Auf und Ab. Im Inneren Winkel der Beuge zwischen Ober- und Unterschenkel war ein Strang aus Sehnen und Muskel sichtbar, eine dickes Paket kräftiger Verbindungen, die den Eindruck machten, als verliehen sie den Lebewesen gewaltige Sprungkraft. Doch sie kamen nicht angesprungen, ganz langsam, zögernd vorsichtig näherten sie sich dem Auto an. Ihren Gesichtern, auch diese mit Fell bedeckt, einem allerdings kürzeren und helleren Fell, war eine Mimik nicht zu entnehmen, ein breite und platte Nase ging in einen nach Art eines Katzenmauls vorspringenden Mund über. Adam konnte nicht ausmachen, ob die Lebewesen Neugierde empfanden oder Überraschung oder gar Furcht vor dem Auto, dessen Systeme im Ruhezustand keinen Laut abgaben. Oh nein, die Seitenfenster, warum nur hatte er die Seitenfenster nicht geschlossen, schoss es Adam durch den Kopf. Sie brauchen mich nur durch die Türen hindurch zu packen, um mich aus dem Auto zu zerren. Er verkrallte sich in den Rändern des Sitzes und bemerkte, wie sich die Haare auf seinem Kopf aufrichteten, ihm buchstäblich zu Berge standen. Eines der drei Lebewesen blieb vor dem Auto stehen, eines ging zur Fahrertür, das dritte zur Beifahrertür. Dann hielten alle drei inne.

Für eine Zeitdauer, die Adam wie eine Ewigkeit vorkam, geschah gar nichts. Er schaute die Lebewesen an, sah nach links und rechts zu den an den Türen stehenden Mitgliedern der Gruppe, dann wieder nach vorne. Sogar das Vogelgezwitscher, jetzt von keinen anderen Geräuschen übertönt, drang in sein Bewusstsein. Er dachte gar nichts, sein Kopf war vollkommen leer, oder genauer gesagt nicht leer, sondern voll quälender Erwartung dessen was geschehen würde, und diese Empfindung verdrängte jeden fassbaren Gedanken.

„Sie werden mir nichts tun“, ging es ihm schließlich durch den Kopf, „sie werden mir nichts tun, sonst hätten sie es schon getan. Das sind nur Tiere, die in ihren Handlungen von Instinkten geleitet werden. Wenn ihre Instinkte ihnen befohlen hätten mich anzugreifen, dann hätten sie mich längst erledigt. Sie sind mir vollkommen überlegen, ich bin ihnen ausgeliefert. Sie wollen mir nichts tun, sie wollen mich bloß anschauen, mich näher betrachten.“ War da nicht auch ein neugieriges Forschen in ihrer Gestik und Mimik? Nein, das redete er sich jetzt natürlich nur ein, die Lebewesen standen ganz still da, ohne erkennbare Regung, die auf ihr Wollen oder Empfinden hätte schließen lassen. Trotzdem wuchs in ihm mit jeder Sekunde die Gewissheit, von den Gestalten nichts befürchten zu müssen. Das half ihm, ruhig zu bleiben, als jetzt das Lebewesen vor dem Auto anfing, beide Arme zu heben. Langsam hob es die Arme mit nach oben offenen Handflächen in einer Bewegung von innen nach außen, hob die Hände bis auf Brusthöhe, bis es die Arme geöffnet und senkrecht zum Körper hielt. Adam merkte, wie die anderen Lebewesen aus der Gruppe, auch die beiden neben den Autotüren Stehenden, zu der Gestalt vor dem Auto kurz hinsahen, nur ganz kurz, ehe sie ihren Blick wieder auf ihn lenkten. Eine Weile verharrte das Lebewesen vor dem Auto mit ausgestreckten Armen, dann bewegte es die Arme in einer symmetrischen Bewegung nach innen, drehte dabei die Handflächen von außen her kommen nach unten und führte die Hände parallel, die Handflächen nun nach unten zeigend in Richtung Boden. Dann sah es aus, als würde es mit den Handflächen hin und her wedeln, es bewegte die Händen auf und ab, ohne die Haltung der Handflächen nach unten hin zu verändern. Auch diese Bewegung war langsam, erweckte aber nicht den Eindruck gefahrvoller Spannung, vielmehr war es eine ruhige, der Spannung entgegenwirkende Bewegung. Auch die anderen Gestalten führten diese Bewegung aus, zunächst hatten die beiden links und rechts des Wagens damit begonnen, dann setzte der Rest der Gruppe ein, der weiter vorne stand. Alle bewegte sie ihre nach unten weisenden Händen auf und ab, im gleiche Tempo, nicht synchron, aber alle in derselben Ruhe. Dabei sahen sie Adam weiter unverwandt an.

Er begriff. Das war eine Geste, eine beschwichtigende, beruhigende Geste. Das sollte heißen, hab keine Angst. Sie wollen mich beruhigen, dass ich keine Angst haben muss. Aber das war doch Unsinn, das waren Tiere, gewiss keine Tiere, die ihm gefährlich werden würden, bestimmt keine Menschenfresser hatte Carla Piyol gesagt, das war sicher, ganz sicher richtig. Aber eben doch Tiere, keine Wesen, die Gesten machen konnten, das wäre bewusste Kommunikation gewesen, eine willentliche Methode, mit ihm als artfremden Wesen zu kommunizieren. Und das war nicht nur unwahrscheinlich, es war nachgerade ausgeschlossen. Gab es das überhaupt, dass Tiere kommunizierten, willentlich und mit dem Ziel, eine Botschaft auszudrücken, noch dazu gegenüber einem Menschen? Adam war sich nicht sicher, für Tiere hatte er sich nie interessiert, war lebenden Tieren welcher Art auch immer sehr selten nahe gekommen. Kommunikation, die Fähigkeit, sich auf irgendeine Art verlässlich und zielgerichtet verständlich zu machen, das schien ihm aber jedenfalls das Kriterium zur Unterscheidung zwischen menschlichem und tierischem Geist zu sein. Musste es nicht stattdessen so sein, dass die Gruppe zufällig auf die Straße und dort stehen geblieben war, vielleicht aus überraschtem Schrecken? Nun standen sie da, und ihre Bewegung hatte gar nichts zu bedeuten, jedenfalls sollte sie keine Botschaft ausdrücken, womöglich hatte sie irgendeine biologische Bedeutung, vielleicht mussten sie das machen um irgendeine Lebensfunktion aufrecht zu erhalten. Oder sie kommunizierten untereinander, eine Art lautloses Zwitschern oder Bellen gewissermaßen, mit dem sie sich in dieser wohl auch für sie aufregenden und beängstigenden Situation verständigten. Es waren ja nur Tiere.

Aber das Lebewesen da hinten im Baumtunnel? Konnte das dort zufällig aufgetaucht sein? Es wollte ganz so scheinen, als wäre das ein Späher gewesen, der Adams Auto abgepasst hatte, damit die Gruppe ihn dann hier abfangen konnte. Diese Wesen würden sich kaum freiwillig länger auf der Straße aufhalten, sie hätten ihre Entdeckung fürchten müssen. Offenbar hatte noch nie jemand sie vorher gesehen, sonst wäre die Straße ja auch gar nicht freigegeben. So könnte es auch gewesen sein. Es kam Adam sogar viel naheliegender und vernünftiger vor, dass diese Gruppe auf eine irgendwie übermittelte Mitteilung des Spähers hin auf die Straße getreten war, um ihn sicher abzufangen. Aber das bedeutete, dass die Lebewesen nicht nur auf recht komplexe Art miteinander kommunizieren konnten, sie mussten auch die Fähigkeit besitzen, einen Plan zu entwerfen und sich für seine Ausführung zu verabreden. Das hatten sie augenscheinlich getan, indem sie ihn in diese Falle fahren ließen. Was würde das für Adams Situation bedeuten? Zwar könnte er sich dann nicht mehr sicher sein, dass die Lebewesen ihm nicht doch noch Böses wollten und nur einen geeigneten Augenblick abwarten, zugleich aber empfand er geringere Furcht vor dem Verhalten von in gewisser Weise vernunftbegabten Wesen im Vergleich zu demjenigen rein instinktiv handelnder Tiere. Gegenüber vernunftbegabten Wesen bestand immer die Aussicht mit etwas Glück eine eigene Kommunikation aufzubauen und ihnen dadurch mitzuteilen, dass auch er ihnen nichts tun wollte, für sie ungefährlich war und wirklich nur den Wunsch hatte, so schnell wie möglich in die Stadt zurück zu kommen, hinaus aus diesem furchtbaren Wald und zurück in seinen für ihn trostreichen Lebensraum.

Was nun richtig war, ob es bloße Tiere waren, oder doch irgendwie vernünftige Kreaturen, er würde es bestenfalls dann merken, wenn er den Versuch einer Verständigung aufnähme. Aber wie beginnen? Konnte er irgendein Zeichen geben, solang die Lebewesen noch ihre Bewegung immer weiter und weiter fortsetzten? Musste er sie dann nicht zunächst einmal ausreden lassen? Oder warteten sie auf eine Antwort, vor der sie mit der Bewegung nicht aufhören würden? Ein nervös-irres Lachen drohte in Adam aufzusteigen bei der Vorstellung, dass er es versäumen würde, den Lebewesen angemessen zu antworten und die armen Teufel ihre Hände immerzu weiter hin und her schwenken würden. Denen würden noch die Arme abfallen und er würde hier auf der Straße verhungern, weil ihm keine angemessene Antwort auf die Geste der zutraulichen Schrate einfiel.

Ja, Schrate waren das, felltragende Schrate aus dem Wald, die vielleicht schon seit Ewigkeiten hier lebten und die zu entdecken Adam das zweifelhafte Glück gehabt hatte. Ob es da in der Gruppe, die ihn angehalten Männchen und Weibchen gab, vielleicht war das ja eine fröhliche Schratfamilie mit ihren groß gewordenen Söhnen auf Wochenendausflug? Oh, bitte nicht, jetzt bitte nicht verrückt loskichern, hör auf damit, sie stehen direkt neben dir, egal, ob das jetzt wilde Tiere oder rationell denkende Schratsippen waren, sie würden bestimmt wütend werden, wenn er nun durchdrehte. Er musste sich eine Reaktion einfallen lassen, musste zu verstehen geben, dass er begriffen hatte, dass ihre Botschaft angekommen war, er müsse sich nicht fürchten. „Ich fürchte mich aber“, schloss er seinen rasenden Gedankengang ab. „Was soll ich jetzt tun?“

Vorsichtig hob er seine Hände von den Kanten des Sitzes und in eben diesem Moment hörten die Bewegungen der Schrate auf, die drei am Auto entfernten sich um einen Schritt rückwärts. War das Zufall gewesen, oder hatte seine Bewegung sie erschreckt? Auch er erstarrte, die Hände ein kurzes Stück über den Sitz angehoben. Doch er erkannte auch, dass er jetzt nicht so verharren konnte, er musste irgendwie weitermachen, irgendeine Geste, möglichst einfach zu erkennen und mit der für die Schrate verständlichen Botschaft, dass alles in Ordnung war, er musste umgekehrt auch sie beruhigen und beschwichtigen. Warum also nicht ihre Bewegung wiederholen? Wenn stimmte, wovon er in seinem Inneren überzeugt war, dass diese symmetrische Bewegung mit den nach unten zeigenden Handflächen Beruhigung und Beschwichtigung bedeuten sollte, dann würden sie auch ihn so verstehen, wenn er ihre Bewegung nachahmte. Und auf den Arm genommen, nachgeäfft würden sie sich ja wohl kaum fühlen. So bewegte er die Arme weiter, führte sie, wie es der einzelne Schrat vor seinem Auto gemacht hatte, von unten nach oben, von innen nach außen, wandte dann die Handflächen nach unten um und wedelte mit den nach unten weisenden Händen vor sich auf und ab. Das hatten sie gemerkt, ja, das hatten sie gesehen. Sie kamen alle näher, die drei Schrate am Auto berührten es jetzt beinahe und der vor dem Wagen streckte seinen Kopf nach vorne. Sie hatten es gesehen, nahmen es wirklich wahr! Und sie begriffen es auch. Der vor dem Auto nahm die Bewegung jetzt wieder auf, beschwichtigend winkte er auf und ab, die an den Seiten machten wieder mit, die ganze Gruppe. Als Adam die Bewegung abbrach, hörten auch die Schrate sofort auf.

Die größere Gruppe weiter vorne wandte sich kurz darauf ab, die Schrate dort machten noch einmal kurz die winkende Bewegung und gingen dann nach rechts von der Straße hinunter, über den schmalen Grasstreifen in den Wald. Auch die beiden Schrate an den Seiten brachen auf, der an der Fahrerseite ging um das Heck herum, noch einmal beschwichtigend winkend, dann war er mit dem anderen Schrat verschwunden. Adam war mit dem Schrat vor dem Auto alleine. Der erhob jetzt seinen rechten Arm, streckte ihn nach vorne aus – wie furchtbar lang diese Gliedmaße war! Die knubbelige Hand fuhr mit den stummeligen Fingern und den langen Krallen wie in einer sanft streichelnden Bewegung über den Lack des Wagens, einmal hin und her, dann noch einmal, schließlich tätschelte der Schrat das Blech patschend und betrachtete es dabei aus einen grünschwarzen Augen. Dann trat er beiseite, wies mit einer mehrfachen schleudernden Bewegung in Adams Fahrtrichtung. Das Aufbruchsignal, das Einverständnis mit Adams Weiterfahrt. Fahr weiter, hieß das, du darfst weiterfahren. Diesmal dachte Adam nicht lange darüber nach, ob er mit seiner Deutung der Schratgesten richtig lag, behutsam legte er den Fahrtregler um und rollte langsam los. Als der Wagen am Schrat vorbeirollte, tätschelte der noch einmal die Beifahrertür, dann wieder die schleudernde Bewegung in Richtung der Stadt. Es ist gut, fahr nur zu.

Adam beschleunigte, das Verkehrssystem gab die neu errechnete Ankunftszeit an, keine Dreiviertelstunde bis in die Innenstadt, gleich war das alles hier vorbei. Adam blickte in den Rückspiegel. Der Schrat hatte sich wieder in die Mitte der Straße gestellt und wechselte die schleudernde „Fahr weiter“-Bewegung mit einer anderen Geste ab, als ob er etwas an sich heranziehen wollte machte er ausladende Bewegungen mit beiden Armen und führte die Hände in weitem Bogen von sich weg und wieder zu sich heran. Immer wieder, immer im Wechsel mit der Bewegung, die ein Weiterfahren bedeuten sollte. Fahr weiter. Komm wieder. Ruckartig brach der Schrat seine Bewegung ab und war mit einem einzigen gewaltigen Sprung aus dem Stand im Wald verschwunden. Was war passiert?

Das Signal des Verkehrssystems, mit dem es Adam vor Gegenverkehr warnte, lenkte seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne. In einiger Entfernung bog ein großes Auto um die Kurve, offenbar auf dem Weg aus der Stadt hinaus zu den Hotels auf dem Land. Davor war der Schrat geflüchtet. Adams Wagen passierte das andere Auto, eine Familie darin. Vater und Mutter vorne, hinten das fröhlich lachende Kinde in einem gewaltigen Kindersitzen angeschnallt, so fuhren sie lachend in ihr gemeinsames Wochenende. Das Kind winkt Adam ausgelassen im Vorüberfahren.

„Ich muss sie warnen!“ schoss es ihm durch den Kopf. „Nein! Fahrt nicht weiter, nicht da rein! Sie sind viele, können euch anhalten und eure Kinder. Es sind vielleicht doch nur Tiere, gefährliche Tiere, die sich im Wald verstecken!“ Doch er fuhr weiter. Unternahm nichts, in der plötzlichen Überzeugung, dass der Schrat nicht etwa in den Wald gesprungen war, um auf neue Beute zu lauern, sondern weil er von keinen anderen Menschen außer Adam entdeckt werden wollte. Fahr weiter. Komm wieder. „Sie werden euch nichts tun. Es sind bestimmt keine Menschenfresser“, dachte Adam.

Schnell kam er der Stadt näher, der Wald war verschwunden, die Schnellstraße wurde vierspurig, hinter dem weiten Schilffeld tauchten die Betonblöcke der Nahrungsmittelproduktionen auf. „Es ist alles gut“, dachte Adam, „ich fahre nach Hause, gleich bin ich da, jetzt habe ich die Stadt schon erreicht.“ Mühelos floss der Verkehr nach Kys hinein, Adams Wagen schwamm, gelenkt vom Verkehrssystem, mühelos im Strom der Automassen mit. Die Menschen fuhren in ein tolles Wochenende, zu Grillparties, Treffen mit Freunden, ein paar Superstunden an Orten, an denen man in Kys im Sommer einfach sein musste. Niemand sah Adam weinen. Während ihm die Tränen über die Wangen liefen und Schluchzen ihn schüttelte, gab er eine neue Zieladresse ins Verkehrssystem ein. Fahr weiter. Komm wieder. Das hier – war es noch seine Stadt.

Er kam ohne Stau durch bis zu Stellas Wohnung. Verweint saß er im Wagen vor ihrem Haus. Wieder stieg ein Schluchzen in ihm auf, er schlug die Hände vors Gesicht. Sie sind da draußen, sie haben mich gesehen und erkannt, mich beruhigt und mir dann gesagt: Fahr weiter. Komm wieder. Ich muss wieder zu ihnen.

„Adam?“

Stellas Stimme. Sie stand neben dem geöffneten Fenster.

„Adam. Komm her.“ Sie öffnete die Tür, er stieg aus. Sie nahm ihn in den Arm, tröstete ihn wie ein Kind, das sich beim Spielen wehgetan hatte. „Adam. Es ist alles gut.“

Adam Bocca im Wald der Rätsel

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