Читать книгу Adam Bocca im Wald der Rätsel - Tilmann A. Büttner - Страница 9
Die Stadt bei den Flüssen, 5. Kapitel
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So schön der Sommerabend auch war, mit milder, klarer Luft und dem begeisternden Duft aufblühender Bäume, so finster war die Nacht geworden. Neumond lag erst knapp eine Woche zurück und so schimmerte nur ein schwaches Mondlicht über Kys. In der Stadt selber machte es keinen Unterschied, ob der Mond voll oder nur als schmales Band am Himmel stand, ob er unverdeckt schien oder hinter Wolken verborgen war. Die überall und die ganze Nacht hindurch scheinenden Lichter der Straßenlaternen, Leuchtreklamen und Autos legten einen immerwährenden Teppich einer nicht unerheblichen Resthelligkeit über die Stadt, genug Licht jedenfalls, um alles und jeden in den Straßen gut erkennen zu können. Das änderte sich, je näher Adam wieder auf die Stadtgrenze zusteuerte. Sobald er den innersten Ring der Gewerbegebiete erreicht hatte, wurden die Leuchtreklamen spärlicher und waren nur noch vereinzelt jenseits des Spaliers der hohen Bogenlampen zu sehen, mit denen die Schnellstraße gesäumt war, und die um den Asphalt einen Lichttunnel aufspannten. Dann die Fabriken, schließlich die Nahrungsmittelproduktionen, da leuchtete nur alle paar Sekunden ein Licht jenseits der Laternen am Augenwinkel vorbei.
Er fuhr über die Stadtgrenze, auch die Straßenlaternen standen jetzt in doppeltem Abstand. Dort, wo die Ausbaustrecke endete, riss auch das Laternenspalier ab, Adams Verkehrssystem warnte ihn treu vor „verschlechterter Straßenbeleuchtung ab hier“. Das war glatt gelogen, denn jenseits dieses Punktes gab es überhaupt keine Straßenbeleuchtung mehr. Nur der Lichtkegel der Autoscheinwerfer schnitt eine helle Fläche in die Nacht. Die Bäume am Straßenrand wirkten jetzt, als stünden sie noch dichter an der Fahrbahn, an jeder Kurve kam es Adam vor, als würde er unmittelbar bis an den Stamm eines der großen Laubbäume heranfahren. Mit Verwunderung schoss es ihm durch den Kopf, dass im Dunkeln die Gegenstände doch eigentlich weiter entfernt scheinen müssten, aber womöglich wurde dieser Effekt durch das starke künstliche Licht der Scheinwerfer umgekehrt. Der menschliche Geist rechnet im dunklen nicht damit, etwas wahrzunehmen und reagiert mit dem Eindruck unmittelbarerer Nähe, wenn das Licht doch auf einen Gegenstand trifft.
Im Übrigen war Adam viel zu sehr damit beschäftigt, sich selber wegen des unglücklichen Endes des Abends zu bemitleiden, als dass er sich tieferen Reflexionen über die ihm ungewohnte Nachtfahrt über Land hätte hingeben können. Jetzt musste er, anstatt sich weiterhin Stellas Initiative bei diesem ersten wirklich gelungenen Rendezvous anvertrauen zu können, schon wieder diese dusselige Landstraße entlang kurven. Zum Glück brauchte er sich wegen des Tokens keine Sorgen mehr zu machen, kurz nach der Abfahrt hatte er im Hotel angerufen und dort zwar nur noch die Hoteldirektorin erreicht, die sich als Frau Piyol vorstellte, die ihm aber freundlich erklärte, er könne sehr gerne heute Abend noch vorbeikommen. Restaurantbetrieb sei zwar keiner mehr, dafür sei zu wenig los, aber der Token, ja, der sei gefunden worden, sie habe ihn gleich bei sich in den Tresor gelegt und er könne ihn, wenn er denn schon unterwegs wäre, gerne abholen. Nein, sie sei ohnehin noch länger wach, er brauche sich gar nicht zu beeilen. Wenigstens etwas.
Befreit von dieser Sorge, schmerzte ihn das Misslingen des Rendezvous um so mehr. Stella war, das hatte er heute begriffen, nicht nur sehr geduldig mit ihm und seiner anfangs so linkischen Art, sie war vor allem von einer sieghaften Fröhlichkeit, die ihr auch aus einer scheinbar völlig verkorksten Situation heraushelfen konnte. Wäre er an ihrer Stelle gewesen und hätte sich eines völlig ignoranten Machos erwehren müssen, der einen dann auch noch ohne zu zögern außerhalb der Stadt sitzen lässt, er hätte wenigstens für den Rest dieses Tages auf jede weitere menschliche Gesellschaft verzichtet und sich darin geübt, dieses Arschloch nach allen Regeln der Kunst zu verfluchen. Nicht so Stella. Sie hatte das Ärgernis spätestens hinter sich gelassen, sobald er im Hotel angekommen war, und hätte er nicht danach gefragt, hätte sie von sich aus wohl kaum damit angefangen. Stattdessen freute sie sich daran, jetzt in netterer Gesellschaft zu sein und genoss den Augenblick. Adam, der seine Lust daran, eine unglückliche Situation gründlich auszukosten, kannte, bewunderte diese Fähigkeit. Dass Stellas Verhalten an diesem Tag nicht nur ihrem fröhlichen Gemüt geschuldet war, sondern auch etwas damit zu tun haben könnte, dass sie endlich ein paar unbeschwerte Momente mit ihm, Adam, verbringen konnte, das kam ihm in seiner Bescheidenheit gar nicht erst in den Sinn.
In derlei Gedanken versunken spulte Adam die ihm nun nicht mehr unbekannte Strecke nach den Weisungen des Verkehrssystems beinahe automatisch ab. Erst als er spürte, wie das System den Wagen noch weiter verlangsamte, schaute er wieder bewusst auf die Umgebung. Ja, richtig, der Baumtunnel, hier wurde es richtig kurvig, und war nicht auch die Straße an dieser Stelle enger? Ach nein, das war ihm vorhin nur so vorgekommen, weil sich an dieser Stelle das Blätterdach über der Straße schloss und hier sogar bei hellem Sonnenschein nur diffuses Licht herrschte. Na, in so einer stockdunklen Nacht machte es ja keinen Unterschied, ob die Straße unter den Bäumen hindurch oder über ein freies Feld führte. Oder doch? Wenn nun plötzlich etwas vor seinem Wagen auftauchte – oder jemand – und er käme nicht mehr weiter, niemand würde ihn bemerken, ihm helfen können. Er schaute in den Rückspiegel, in dem er erwartungsgemäß nur schwarze Dunkelheit und ganz schwach den roten Schein der Rückleuchten auf dem Asphalt erkannte. Würde er hier in den Wald, unter die dicht stehenden Bäume gezerrt, er bliebe spurlos verschwunden, schon wenige Schritte hinter dem Waldrand unauffindbar, den Blicken der am nächsten Morgen Vorbeifahrenden verborgen.
Adam fuhr um die letzte scharfe Linkskurve im Baumtunnel und schnaubte verächtlich. Jetzt musste er sich aber wirklich darauf besinnen, sich nicht wie ein ängstlicher Junge in Hirngespinsten zu verlieren, sondern wie ein vernünftiger junger Mann alle fünf Sinne beisammen zu haben. Hätte er sich nicht wie ein verliebter Teenager auf der Restaurantterrasse hingelümmelt und gedankenverloren den Token auf den Tisch gelegt, er müsste jetzt gar nicht erst hier durch die Dunkelheit tuckern. So, und jetzt war er aus dem dichten Baumtunnel ja auch wieder heraus, stimmt, da rechts geht’s zum Fluss ins Tal hinunter, und gleich da hinten kommt auch schon das Hotel „Lupinental“.
Frau Piyol öffnete den schon verschlossenen Hoteleingang, nachdem Adam geklingelt hatte.
„Guten Abend, Herr Bocca, das ging ja schnell“, begrüßte sie ihn. „Hatten sie nicht gesagt, Sie kämen aus der Innenstadt angereist?“
„Ja, allerdings habe ich Sie aus dem Auto angerufen, da war ich schon eine Weile unterwegs.“
„Ach so, deshalb. Der Weg zu mir heraus ist nämlich auch mit dem Auto etwas langwieriger als Ihr Städter Euch das manchmal vorstellt. Besonders nach dem Ende der Ausbaustrecke geht es nicht mehr ganz so flott voran, viele Verkehrssysteme berechnen das falsch, und es dauert länger, als vorhergesagt. Besonders im Dunkeln.“
Adam nickte, unsicher, ob es angebracht war, mit Frau Piyol Konversation zu machen, oder ob er, wonach es ihn drängte, gleich nach dem Token fragen und ohne weiteres wieder zurückfahren sollte.
„Aber ich will Sie mit meinem Geschwätz nicht aufhalten“, fuhr Frau Piyol fort, „kommen Sie doch bitte herein, ich gebe Ihnen den Token.“ Sie machte kehrt und ging ins Hotel hinein. Mit einer Armbewegung lud Sie ihn ein, ihr zu folgen. „Hier entlang bitte.“
Er folgte Ihr durch die nicht sehr große, aber um so elegantere Eingangshalle, geschmackvoll möbliert ohne jeden Land- oder Gemütlichkeitskitsch, in Richtung der Rezeption. Dahinter lag ihr Büro.
„Kommen Sie doch bitte mit herein und nehmen Sie kurz Platz, es dauert einen kurzen Moment, bis ich den Tresor geöffnet habe.“ Im Büro wies sie auf die beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch. „Es dauert gar nicht lange. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
„Ich..., ja sehr gerne.“
„Einen Hauscocktail?“
„Nein, danke, ich wollte ja gleich wieder zurückfahren.“
„Ach so, natürlich, dann vielleicht etwas Erfrischendes?“
„Sehr gerne.“
Geschwind gab sie etwas in das Kommunikationssystem ihres Computers ein, dann wandte sie sich dem Tresor zu, der in eine Seitenwand neben dem Schreibtisch eingelassen war, und in den sie, wie Adam vermutete, einen Code eingab. Wie sie dastand, mit dem Rücken Adam zugewandt, fiel ihm ihr wunderbares Haar auf, das sie, zurückgehalten von einem Reif, offen trug. Fantastisch langes, volles braunes Haar, es fiel auf ihrem schlichten knielangen Kleid aus einem grausilbern changierenden, seidenartigen Stoff fast bis zur Hüfte, glatt und glänzend und mit einer Fülle, dass er hätte hineingreifen und es fühlen mögen. Er konnte es auch nicht verhindern, ihre vollkommene frauliche Figur anzustaunen, ihr schöner Rücken lief nach unten in einer perfekten Taille zu. Das um die Beine nicht eng und nicht weit geschnittene Kleid gab den Blick erst ab den Kniekehlen frei, und Adam erwischte sich bei dem Gedanken, von ihren festen, geschwungenen Waden auf ihre Oberschenkel zu schließen.
„Wie gesagt, es dauert einen Augenblick wegen der Sicherheitszeiteinstellung.“ Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch, nachdem sie den Öffnungscode des Tresors eingegeben hatte. „Sie waren heute aber nicht als Hotelgast bei mir, oder?“
„Nein, ich habe meine Freundin… meine Bekannte hier abgeholt.“
„Die junge Dame, die nicht wieder mit ihrer Gruppe abgereist ist, nicht wahr? Klug gehandelt, wenn ich mir diese Bemerkung bei aller diskreten Zurückhaltung erlauben darf, ihr Begleiter war wirklich eine schreckliche Person.“
Es klopfte am Rahmen der offenen Bürotür, ein Kellner brachte zwei Getränke herein.
„Danke, den Gin Tonic für mich, die Schorle für den Herren. Wir können die Bar dann wohl ganz zumachen, Zimmerbestellungen werden wohl nicht mehr kommen. Gute Nacht.“
Der Kellner wünschte ebenfalls eine gute Nacht und schloss, wie Adam hörte, die Tür hinter sich.
„Auf Ihr Wohl, Herr Bocca.“
„Auf das Ihre, vielen Dank.“ Sie nippten an ihren Getränken.
„Sie führen hier ein sehr schönes Hotel“ nahm Adam einen Konversationsfaden auf, schließlich war er sich nicht sicher, wie lange die Zeiteinstellung des Tresors laufen würde. Und außerdem verspürte er zunehmende Lust, sich mit dieser wunderschönen Frau zu unterhalten, hegte sogar die unterschwellige Hoffnung, ihr ein wenig imponieren zu können, indem er sich ganz weltmännisch gab.
„Vielen Dank. Mein größtes Kapital ist die wunderbare Lage. Jedenfalls glaube ich das. Es gibt für mich keinen schöneren Ort, in jeder Jahreszeit lebt und gedeiht es hier, immer auf seine eigene Weise. Ein Archäologe war einmal hier zu Gast und er sicherte mir zu, dass dieser Platz vor ewiger Vorzeit einmal als ‚Ort der Fülle‘ bezeichnet wurde und deshalb als Kultstätte diente. Ich hätte gute Lust, daraus ein Werbekonzept zu machen, aber ich fürchte, der Herr wollte mir nur schmeicheln und mich mit seinem Professorenwissen beeindrucken.“
Adam nickte, ein wenig zu heftig, fühlte sich ertappt.
„Aber leider“ fuhr sie fort, „leider kann ich nur von der schönen Lage nicht leben. Wenn ich mich auf grelle Bergromantik verlegen würde, könnte ich damit womöglich zuverlässige Scharen alter Leutchen anlocken. Das sind für Hoteliers sehr beliebte Gäste, immer gut bei Kasse, und wenn sie es immer nur schön warm und gut verdaulich haben, auch sehr leicht zufrieden zu stellen. Aber das würde ich auf Dauer nicht aushalten, immer nur Grauköpfe um mich herum. Deshalb habe ich vor einigen Jahren ein Sporthotelkonzept aufgegriffen. Das erlaubt mir so etwas wie ein wenig städtischen Chic mit dem Reiz der Umgebung zu verbinden, und zum Glück muss ich nicht in jedem Jahr hohe Mindestumsätze aus dem Betrieb herauspressen.“
Adam nickte wieder, wiederum im besorgten Gefühl, ertappt worden zu sein. Obwohl er aufmerksam zuhörte, hatte er ihr Gesicht genau studiert. Ihre großen, hellen Augen, deren Farbe er im Schein der indirekten Beleuchtung und über den Schreibtisch hinweg nicht erkennen konnte, strahlten ihm entgegen, warme Farbpunkte, die ihren zarten, hellen Teint zu illuminieren schienen. Ihre Nase war ebenfalls zart, aber von vollkommener Form, genau so wie ihre vollen, in einem hellen rot geschminkten Lippen, die sich im Gespräch zu einem breiten Mund schlossen und öffneten und dabei kurze Blicke auf die Ahnung eines strahlenden Lächelns preisgaben. Anders als im Gesicht einer jungen Frau wie Stella (oder in einer schönheitsoperierten und zurechtgezogenen Fratze, wie man sie so häufig bei Frauen jenseits der dreißig sah), waren in Frau Piyols Zügen kleine Falten unübersehbar, die dem Ausdruck auf ihrer länglich-runden Gesichtsform die Lebendigkeit ihres Temperaments verliehen. Als sie geendet hatte, vermochte Adam sich nicht sofort von seiner Betrachtung loszureißen und eine kleine Gesprächspause trat ein.
„Aber nun bin ich schon wieder meinem Laster erlegen“, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf, „und belästige Sie als meinen Gast mit meinem belanglosen Geschwätz. Dabei ist es für mich viel interessanter, etwas von Ihnen zu hören, wenn Sie mir etwas über sich verraten wollen.“
Adam erzählte ihr bereitwillig von sich, indem er von seine freiwilligen Dienstzeit im Regierungsamt und seiner Analyse kleiner und mittelgroßer Unternehmen berichtete. Geflissentlich überging er dabei, dass er sich erst seit Beginn dieser Woche mit der Analyse beschäftigte, was der sicher und gewandt vorgetragenen Darstellung den Anschein gab, als handele es sich um ein gründliches und lang angelegtes Forschungsprojekt.
„Wie bemerkenswert“, warf Frau Piyol ein und ein leiser Stolz durchglühte ihn in einem angenehmen Schauder. „Ohne Ihrem Dienstherren zu nahe treten zu wollen, muss ich doch zugeben, dass ich unserer Regierung die Behandlung so ernsthafter Fragen gar nicht zugetraut hätte.“
Vom Tresor her ertönte ein Piepen, die Tür entriegelte hörbar.
„Ah, endlich das Sesam-öffne-dich.“ Sie erhob sich und entnahm dem Tresor eine kleine Kassette. „Hier ist Ihr Token. Wenn Sie so aktuelle spannende Fragen in Ihrer Tätigkeit behandeln, ist es freilich kein Wunder, dass Sie auf das Netzwerk Acht geben müssen. Bitte schön.“
Sie ging um den Tisch herum, gab ihm den Token. Seine weltläufige Pose deutlich vernachlässigend sprang er auf und nahm den kleinen Chip mit dem zugeklappten Display entgegen. Unmittelbar vor ihm stand sie, er konnte ihren Duft, ihr Parfum im Einklang mit ihrem Zauber, ganz aufnehmen, und berührte ihre Hand einen Augenblick zu lang, als dass es nur eine einfache Geste der Übergabe des Tokens gewesen wäre.
„Vielen Dank“, murmelte er heiser.
„Keine Ursache, behalten Sie ruhig Platz.“ Einen Ausdruck freundlicher, gar nicht spöttischer oder herablassender Amüsiertheit, versuchte sie gar nicht zu verbergen, und ging wieder zu ihrem Schreibtischsessel zurück. Sie setzte sich und prostete ihm nochmals zu.
„Auf die glückliche Rettung also.“
„Ja, vielen Dank nochmals für Ihre freundliche Mithilfe.“
„Bitte sehr. Ich will Sie auch nicht länger aufhalten, wenn Sie gleich wieder zurückfahren wollten.“ Und als Adam stutzte, fügte sie hinzu: „Weil Sie schon so aufbruchsbereit dastehen.“
„Ach so, nein, Entschuldigung, ich war gerade nur... Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie schon immer hier gelebt haben.“
„Das nun nicht, aber über zwanzig Jahre sind es nun schon. Ich habe erst in dem Waldhaus-Hotel gearbeitet, weiter oben im Tal, und seitdem lebe ich draußen vor der Stadt. Es ist mir immer unpraktisch gewesen, zwischen der Stadt als Wohnort und dem Land für die Arbeit zu pendeln. Nicht so sehr wegen der Fahrtzeiten, aber wenn ich hier arbeite, dann will ich auch hier leben, und das geht nicht, wenn Sie zugleich versuchen, ein Freizeitleben in der Stadt zu führen.“
„Dann kennen Sie sich auch in der Gegend gut aus?“
„Gewiss, es ist das Privileg von uns Hoteliers auf dem Land, zu jeder Jahreszeit die Wälder und Hügel erkunden zu können. Vor dem Frühling und nach dem Spätsommer haben wir die Wege und Steige oft ganz für uns allein.“
„Ist es Ihnen nicht manchmal etwas unheimlich?“
„Unheimlich? Nein, gar nicht. Wo sollte es hier einen unheimlichen Winkel geben?“ Sie fragte mit echtem Erstaunen.
„Nicht hier unten im Tal, aber ich habe auf der Herfahrt heute Nachmittag gesehen, weiter oben auf der Anhöhe steht der Wald doch sehr dicht, selbst die Straße ist schon fast überwuchert.“
Sie lächelte, nicht nachsichtig wissend, sondern freundlich. „Das kann ich verstehen, wenngleich nicht nachvollziehen, dass das für Sie eine etwas seltsam anmutende Ecke ist. Ja, der Wald gedeiht da oben wirklich besonders prächtig, er ist für die Pflege der Landschaft ein besonderer Schatz. Ich bin auch nicht sehr häufig dort, für einen Fußmarsch von hier aus ist es etwas zu weit, aber wenn ich da bin, machen mir die Wege keine Angst. Was da im Wald lebt, lebt ganz für sich.“
„Und was lebt da?“
„Keine Menschenfresser jedenfalls.“
Und so spann sich ihr Gespräch fort, Frau Piyol beantwortete seine Fragen nach ihrem Leben hier draußen und er erzählte ihr auf ihre Gegenfragen davon, wie gerne er mitten drin in der Stadt wohnte. Die Getränke waren geleert und sie wurden durch ein Pfeifen wie von Wind und ein Geräusch schwankender Bäume unterbrochen.
„Also doch“, sagte Frau Piyol, „auf den Wetterbericht ist eben Verlass. Es ist ein Sommersturm mit für heute Nacht vorhergesagt, vielleicht kommt mit dem Wind sogar ein Gewitter auf.“
„Dabei sah es heute gar nicht nach Gewitter aus“, bemerkte Adam.
„Ich weiß, aber hier draußen kann es etwas schneller umschlagen als in der Stadt. Sagen Sie, wollen Sie wirklich noch heute Nacht zurückfahren? Ich will Sie natürlich nicht davon abhalten, aber die Route bis zur Schnellstraße kann bei Sturm nicht ganz ungefährlich sein. Gerade die Stelle, von der wir gerade sprachen, da wo die Straße direkte durch den dichten Wald führt, ist leider nur selten weit genug von brüchigem Geäst freigeschnitten und jedenfalls derzeit weiß ich nicht, ob da nicht doch etwas herunterkommt. Da hilft Ihnen dann auch kein Verkehrssystem etwas.“
Die Vorstellung, bei Sturm durch den nachtschwarzen Wald zu fahren, nahm sich im Vergleich zu der Möglichkeit, hier im Hotel zu übernachten und morgen früh die Gelegenheit zu haben, Frau Piyol noch einmal wiederzutreffen und vielleicht ein weiteres Mal mit ihr zu plaudern besonders wenig einladend aus.
„Sie wären natürlich mein Gast, nicht mein Hotelgast. Der Sturm ist keine Akquisemethode von mir, um spätnachts noch einen Übernachtungskunden zu ergattern.“
„Das ist wirklich sehr freundlich.“ Adam sah sich um, als könnte er in ihrem Büro etwas entdecken, was ihm aus seiner Unschlüssigkeit helfen könnte. Aber hatte er sich denn für den Rest des Abends etwas anderes vorgenommen, als so schnell wie möglich nach Hause zurückzufahren und sich noch eine Weile wegen des abrupten abgebrochenen Rendezvous mit Stella zu bedauern? Dann konnte er eben so gut warten, bis es wieder hell war, und dann in aller Ruhe in die Stadt zurückfahren.
„Wenn Sie es sagen, dass eine Rückfahrt jetzt nicht ratsam wäre, dann wäre es wohl unklug, mich nicht auf Ihre Ortskenntnis zu verlassen. Ich nehme Ihr freundliches Angebot natürlich sehr gerne an.“
„Abgemacht.“ Frau Piyol erhob sich, schaltete mit einer lässigen Handbewegung ihren Computer aus. „Ich bringe Sie zu einem der Hotelzimmer, Sie finden dort alles, was Sie zum Übernachten brauchen, von der Zahnpasta bis zum Schlafanzug. Wenn Sie morgen noch ein Fitnessprogramm mitmachen möchten...?“ Sie lächelte ihn liebevoll spottend an.
„Oh danke, nein, morgen muss ich dann wirklich los.“
„Ja, natürlich. Vielleicht müssen Sie noch jemandem in der Stadt Bescheid geben, dass Sie heute Nacht hier bleiben?“
Verdammt, das war natürlich ein Punkt. Er hatte nicht einmal Stella angerufen, als er angekommen war, und nun war er schon über eine Stunde hier. Vielleicht machte Stella sich schon Sorgen, sie dachte doch immer in allem mit.
„Ja, hm“, antwortete er, „das stimmt, das sollte ich wirklich gleich noch tun.“
„Machen Sie nur, ich gehe eben zur Rezeption vor und suche ein nettes Zimmer raus und fahre für die Nacht alles runter. Die Pflichten einer Hotelière, die sich nicht dazu überwinden kann, sich auf andere zu verlassen.“
Damit ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich. Es half ja nichts, er musste sich jetzt bei Stella melden, sonst brauchte er es nie wieder zu tun und sie würde, völlig zu Recht, bis in alle Ewigkeit sauer auf ihn sein. Er nahm sein Handy raus, wählte ihre Nummer, nur zwei Freizeichen, dann war sie schon dran.
„Hallo Adam.“ Sie klang müde, vielleicht auch resigniert.
„Hallo. Habe ich dich geweckt?“
„Nein. Aber ich gehe gleich schlafen. Bist du schon wieder bei Dir?“
„Nein, noch im Hotel. Es stürmt hier draußen ziemlich.“
„Ja. Hab ich gesehen. Im Wetternetz.“ Sie dachte wirklich immer in allem mit. wahrscheinlich hatte sie, nachdem sie mehr als zehn Minuten auf seinen Anruf gewartet hatte, alle möglichen Infosparten über die Gegend des Lupinentals im Netz überprüft. „Das wird wohl auch noch heftiger, sagen die vom Wetterdienst. Du solltest entweder sofort losfahren oder dort bleiben.“
„Der Hotelmanager meinte, es wäre besser, wenn ich hier bliebe, ich könnte hier für heute Nacht gut unterkommen.“
„Wer? Ach so, Frau Piyol.“ Natürlich wusste Stella, dass das Hotel von einer Frau geleitete wurde und Adam wunderte sich über seinen dämlichen Ansatz, Stella etwas vorzuschwindeln.
„Ja, Frau Piyol. Ich werde also besser hier bleiben.“
„Gut.“
„Ich ruf morgen an, sobald ich wieder in der Stadt bin.“
„Mach das. Gute Nacht.“
„Gute Nacht“ antwortete Adam, aber Stella da hatte schon aufgelegt.
Adam seufzte. Jetzt hatte es ja doch keinen Sinn, sich noch mehr zu bemitleiden, wenn man kein Glück hat, kommt gerne noch Pech dazu. Das mit dem Sturm hatte er sich ja nun wirklich nicht so ausgesucht, und wenn er einfach nur den Token genommen und auf dem Absatz kehrt gemacht hätte, wer weiß, ob er es vor dem Aufziehen des Sturmes bis in die Stadt zurück geschafft hätte. Obwohl er die leise Ahnung hatte, dass er sich da nur schon einmal vorsichtshalber auf eine neue Ausrede für Stella vorbereitete. Seufzend steckte er das Handy ein und ging zur Rezeption vor.
Frau Piyol sortierte dort Papiere in Ablagefächer ein, auf dem Tresen hatte sie einen Zimmerschlüssel bereit gelegt. Sie drehte sich lächelnd zu ihm um.
„Entschuldigung“, sagte er „es hat etwas gedauert.“
„Ganz und gar nicht, immerhin mussten Sie ja erklären, warum Sie heute in der Wildnis übernachten, nicht wahr? Beim Zimmer haben Sie die große Auswahl, es ist nicht sehr viel los, wie immer bei gutem Wetter, da finden die Leute genug Ausflugsziele in der Stadt. Ich empfehle Ihnen ein Zimmer im ersten Obergeschoss, es hat einen schönen Blick nach Osten. Meine Wohnung ist auf derselben Etage in derselben Richtung gelegen und ich freue mich immer wieder über den herrlichen Sonnenaufgang.“
„Vielen Dank, das ist sehr liebenswürdig.“
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch Ihr Zimmer.“
Er folgte ihr durch das von der Eingangshalle abgehende große Treppenhaus, hinauf in die erste Etage und durch einen Korridor, der heimeliger wirkte, als Adam es in einem Hotel vermutet hätte.
„So, da ist es. Hier ist das Zimmer und da am Ende des Ganges wohne ich.“ Sie öffnete die Zimmertür, die Abendbeleuchtung einer Nachttischlampe und einer Leseleuchte gingen an. „Hier finden Sie wie gesagt alles, was Sie brauchen. Gute Nacht also.“
Wie sie dastand, neben dem säuberlich abgedeckten Hotelbett, den Zimmerschlüssel in der Hand, sah es eher aus, als verabschiede sie ihn aus ihrem Zimmer. Adam wusste, dass nicht nur das täuschte. Sie musste ihm noch keine gute Nacht sagen, sie würden in dieser Nacht, später, viel später, nebeneinander einschlafen. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie atmete tief ein, straffte sich, schien ihm stehend entgegenzustreben. Sie hob die rechte Hand mit dem Schlüssel darin. Ließ den Schlüssel fallen, im tiefen Teppichboden klirrte er nur leise, setzte die Bewegung in einem Zug fort und ergriff ihn am Oberarm zog Adam, zu sich heran. Noch näher kam er, bis sie in mühelos mit der Linken umschlingen konnte, ihn hinabziehen auf das Bett, auf das sie sanft hinglitt, noch in der Bewegung hinab fanden ihre Münder sich, begannen einen endlosen Kuss in raumloser Zärtlichkeit. Nebeneinander lagen sie, sich immer aufs Neue und anders umarmend, zwei Herzschläge lang, dann zwei weitere, aus Augenblicken wurden Momente und Minuten, eine zeitlose Ewigkeit verstrich in einem einzigen Kuss. Ihren Liebkosungen konnte der Erfolg nicht verborgen bleiben. Sie hielt inne. „Wie heißt Du?“ flüsterte sie.
„Adam.“
„Adam.“ Sie seufzte in Freude, küsste ihn wieder.
„Adam. Ich bin Carla.“ Als nun er sie wieder küssen wollte, entzog sie sich geschickt, legte ihm den Finger auf die Lippen. „Adam. Lass uns in meine Wohnung gehen. Zerwühlte Hotelbetten sind noch mehr für Klatsch unter den Zimmermädchen gut, als unerwarteter Herrenbesuch bei der Herrenbesuch.“
An ihrer Hand folgte er ihr aus dem Zimmer, ohne ihr Kleid wieder zurecht zu zupfen zog sie ihn über den Korridor, in ihre Wohnung. Leuchtende Stoffe strahlten von Kissen, Sesseln und Polstern durch das Halbdunkel gedämpften Lichts. In ihrem Schlafzimmer war es bis auf eine winziges Licht auf ihrem Nachttisch unerleuchtet. Sie ließ ihn los, öffnete ihr Kleid und legte es in einer Bewegung ab, mit nur einem Schritt zum Bett und mit einer Handbewegung. „Komm.“
Er umarmte sie wieder, mit fiebrig zitternden Händen tastete er über Spitze und Seide, beim Öffnen half sie ihm mit einem lautlosen Lachen. Wieder sagte sie: „Komm.“ Ebenso schnell hatte sie auch ihn entkleidet, sie schlüpften in ihr Bett. Nach dem nächsten Kuss spürte er sein sanftes Zögern.
„Denk einfach nicht nach“ redete sie ihm tröstend und ermunternd zu. „Denk einfach nicht nach, das ist das ganze Geheimnis.“
Als er später unter den Laken auf dem Rücken lag, ihr fester fraulicher Körper sich über ihm aufbäumte, um den Augenblick höchsten Genusses herum, bis kurz davor und danach sofort wieder, da musste er an die Weidenbäume denken, die in jenem Tal am Flüsschen standen. Dort, wo die Straße, die zum Hotel führte, aus dem Wald mit einer abrupten Linkskurve ins Freie trat, fiel der Blick sofort hinab ins Tal und auf diese Weidenbäume. Keine leichtsinnigen, jungen Gewächse, die mit sprießender Lebenskraft prahlten, sondern volle Bäume, an den saftigen Grund gewöhnt, dem sie entsprangen und der sie nährte. Darüber weitete sich der Blick ins hell erleuchtete Tal und die Berge und Hügel dahinter. Einer, der durch den Wald hindurch war, wusste von seiner Schwärze, sie stand einem im Rücken, beunruhigend in nicht zu leugnender Weise, aber unverwandt ging der Blick nach vorne, in das Tal. Welche Überraschung, so unvermittelt ins Freie, in das Licht zu gelangen, wo sich der Horizont öffnete und kein Gedanke mehr sein konnte daran, dass der Blick angstvoll beschränkt zwischen struppigen Gewächsen hindurch hätte huschen müssen. Da stand einer, erfüllt von der Freude an einem unverdienten Genuss des Glücks. Es ließ sich nicht darüber nachdenken, es ließ sich nur spüren.
Sie schliefen nebeneinander ein, ihre Gesichter zugewandt, sich die Händen haltend. Als er später für einen Augenblick wieder erwachte, wusste er gleich und voller zufriedener Gewissheit, dass sie nur kurz eingeschlafen war und nun wach neben ihm lag, seinen Arm und seine Brust gedankenvergessen streichelte. Leiser als zuvor, aber immer noch beständig heulte der Wind ums Haus, Regentropfen klopften in kurzen Trommelwirbeln an das Fenster. Er küsste ihr Haar, wie er es wenige köstliche Augenblicke zuvor gefühlt und geatmet hatte, und seufzte. Behütet schlief er ein.