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Die Stadt bei den Flüssen, 8. Kapitel
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An einem gewittrig schwülen Freitagvormittag fuhr Adam mit Carlo auf der Schnellstraße hinaus aus der Stadt, um das verabredete verlängerte Wochenende im Lupinental zu verbringen. Über sechs Wochen waren vergangen seit der Squit-Partie, bei der die beiden den Plan für ihren Ausflug aufs Land geschmiedet hatten. Oder besser gesagt seitdem Adam die Gelegenheit ergriffen hatte, Carlos Vorhaben listig zugunsten seines eigenen, geheim gehaltenen Plans zu benutzen, sich noch einmal auf die Suche nach den Lebewesen im Wald zu machen. Voller Ungeduld hatte Adam zunächst versucht, Carlo so schnell wie möglich zur Umsetzung ihres vermeintlich gemeinsamen Plans zu drängen. Dabei musste er darauf bedacht sein, sein Drängen so gut zu kaschieren, dass Carlo gar nicht auf die Idee käme, Adam gehe es in Wahrheit um ganz etwas anderes als ein konzentriertes Fitnessprogramm in einem Sporthotel.
Es hatte Adam rasend gemacht, hilflos erleben zu müssen, wie Carlo die Idee eines gemeinsamen Wochenendes im Lupinental immer mit den markigsten Worten lobte, wenn Adam wieder und wieder die Sprache darauf brachte „da werden wir mal zeigen können, ob wir Pudding in den Muskeln haben, oder echte Kerle sind“, tönte Carlo, und: „ohne Weiber und ohne Saufen, fantastisch! Wir sind jetzt ja auch wirklich alt genug, um uns mal ernsthaft unserer Leidenschaft für den Sport zu widmen.“ Leidenschaft für den Sport, ach du große Güte! Carlos Ausbildung zum Ökonomischen Rat ging offenbar nicht spurlos an ihm vorüber, immer wieder verfiel er in den Ton werbender Anpreisung für vermeintlich neue Ideen. Und freilich immer, ohne den Worten entsprechende Taten folgen zu lassen.
Adam hatte sich gleich nach dem Nachmittag auf dem Squit-Feld bereit erklärt, das Hotel zu buchen und sich um alles zu kümmern, auch Carlos Anteil könne er ohne Probleme vorstrecken, und dann könnte man es ja gleich angehen. Da hatte Carlo gebremst und gezögert. So einfach könne er das nicht in seinem Studienplan nicht einrichten, der ja eben knüppelvoll sei. Und dann auch noch diese Forschungsarbeit, die käme ja oben drauf, und ohne ihn würde die nichts, Adam wisse ja „der Feinman muss das machen“, so sei das halt, wenn man sich engagiert. Adams stille Wut wuchs. Was bildete sich dieser Kerl nur ein? Wieso gelangte er so spielend zu der Annahme, sein Tun und Lassen sei der Nabel der Welt, und alles müsste sich darum drehen? Was wusste dieses aufgeblasene Knäblein schon? Da draußen im Wald waren Lebewesen, jede Menge von ihnen, die scherten sich einen Dreck um Carlos ach so heiligen Studienplan und seine dusselige Forschungsarbeit. Was war das denn überhaupt für ein Ziel, Ökonomischer Rat zu werden, wenn es doch galt, sich für das Zusammentreffen mit den Schraten zu rüsten? Das wollte er doch mal sehen, was von Carlos Großspurigkeit übrig bliebe, wenn er erst einmal einer Gruppe von Schraten gegenüberstand, ihren Krallen ausgeliefert und weit weg von seinen tollen Profs und Studienkollegen in der Stadt.
Aber schnell war diese Wut auch wieder verflogen. Adam hatte sich darauf besonnen, dass Carlo ja gar nicht ahnen konnte, warum es ihn so sehr drängte, endlich wieder hinauszufahren in die Wälder. Er selber war es schließlich, der Carlo etwas vorschwindelte. Wie konnte er sich dann erlauben, Carlos Unentschlossenheit und Großtuerei zu verurteilen? Mit dem Schwinden seiner Wut legte sich auch Adams Ungeduld. Sein Leben war schon vor der Begegnung mit den Lebewesen ein anderes geworden, ernsthafter und mit gewichtigeren Inhalten als je zuvor. Die freiwillige Dienstzeit im Regierungsamt erschien ihm nicht länger als bloßer Zeitvertreib, mit dem er nützlicher Weise zugleich alle bohrenden Fragen nach seinen Karriereplänen parieren konnte. Indem er echtes Interesse investierte, konnte er Bestätigung und Motivation aus seiner Tätigkeit ziehen. Sich mit Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung zu befassen war ihm nicht länger eine wichtigtuerische Beschäftigungstherapie für verhinderte Unternehmenslenker. Er begann, Zusammenhänge zu erfassen, die er künftig viel genauer und intensiver studieren wollte. Selbst ein Ökonomie-Studium konnte er sich plötzlich vorstellen. Sein Vater würde Luftsprünge machen, wenn Adam endlich das tat, was er schon immer von ihm erwartet hatte. Aber er würde es dann nicht deswegen und nicht für seinen Vater machen, sondern weil es ihm ein Anliegen wäre.
Und Stella. Viel wichtiger noch war, dass Stella jetzt in seinem Leben war. Das war nicht eine lose Liebelei um des Verliebtseins willen. Eine frühe Phase des verliebten Blicks, getrübt von namen- und ziellosen Gefühlswallungen hatten sie gar nicht durchlebt. Adam bedauerte das nicht, wohl eben so wenig wie Stella. Seine Empfindungen waren noch genau so wach wie damals, als das Aufeinandertreffen mit Sandra – Stella hatte er da einfach nicht recht wahrgenommen – sein Innerstes geweckt hatte. Aber die Empfindungen hatten sich gewandelt, waren von nebulöser Schwärmerei zu einer festen Spur erstarrt, der er folgen wollte, hin zu Stella, beide aufeinander zu schreitend. Sie hatten seit seiner Rückkehr aus den Wäldern an jedem Tag Zeit miteinander verbracht, eine ruhige, aneinander genießende Zeit. Jetzt gehörte Stella zu seinem Leben und er hoffte, dass er zu ihrem gehörte. Hätte sie diese Empfindung nicht erwidert, wäre sie innerlich bereit gewesen, jeden Augenblick aufzustehen und zu gehen, er hätte ihr keinen Vorwurf daraus gemacht. So lange sie da war, war sie Teil seines Lebens, eines neuen Lebens, das ihm kostbar war.
Was wollte er also da draußen im Wald von den Schraten eigentlich? Die lebten fröhlich, verborgen unter dem Dickicht der Bäume, vor sich hin. Oder seinethalben auch unfröhlich und elend, was ging ihn das an? Vielleicht machte es ihnen Freude, immer einmal wieder arglose Touristen zu erschrecken, na schön. Wenn sie tatsächlich für Menschen gefährlich wären, dann müsste eben jemand etwas dagegen unternehmen, der etwas von der Beseitigung von Gefahren verstand. Das war doch Sache des Hotelverbandes, wenn er seine Wege sicher halten wollte. Genauso, wie die Straßen durch die Wildnis in Schuss gehalten werden mussten, musste auch marodierendes Gesindel von den nichtsahnenden Besuchern ferngehalten werden. Zur Not mussten die Tourismus-Unternehmer halt Geld in die Hand nehmen und einen Sicherheitskonzern auf die Sache ansetzen. Marktführer Secuforce würde sich über einen dicken Auftrag bestimmt freuen.
Ja, es hatte Momente gegeben, in denen der Gedanke an die Schrate Adam aus einem kurzen, nur ganz kurzen Zustand der tiefen Zufriedenheit gerissen hatte, und dann war ein anderer Zorn in ihm erwacht, Zorn über diese Kreaturen. Die sollten ihn doch in Ruhe lassen. ‚Komm wieder, komm wieder‘, von wegen: Wenn er diese Wesen tatsächlich gesehen hatte, dann waren das bestimmt keine Gesten gewesen, die sie gemacht hatten. Unbeholfenes Rumgefuchtel mit den Armen, mehr konnte das nicht gewesen sein. Und damit hatte sich Adam auch schnell wieder besänftigen können: Sie würden ihn in Ruhe lassen, würden draußen in den Wäldern bleiben. Niemand hatte je davon gehört, dass solche Lebewesen in die Stadt eingedrungen waren. Die da draußen, Adam und Stella und alle friedliebenden Menschen da drinnen, basta! wer musste sich schon die Zeit auf dem Land um die Ohren schlagen?
So hatte ein kleines Glück an einer Zeit mit Stella in der Stadt scheinbar das Verlangen nahezu verdrängt, Klarheit über die Existenz der Schrate zu gewinnen. Doch dieses neugierige Verlangen schlummerte nur knapp unter der Oberfläche seines Fühlens und schon bald erwachte es wieder. Ihm war, ganz bewusst, die Lächerlichkeit seines Daseins klargeworden, aus der er nicht würde entrinnen könnte, wenn er sein Erlebnis draußen im Wald weiter vor sich und den anderen weiterhin leugnete. Was für eine alle Aspekte seines Lebens umfassende Lüge, wenn er weiterhin so täte, als gäbe es für ihn keinen Anlass, sich endlich Gewissheit über Dasein und Wesen der Wesen aus dem Wald zu verschaffen! Gab es für ihn einen guten Grund, an die Existenz dieser Schrate zu glauben, dann musste er sich auf die Suche nach ihnen machen. Und würde er sie wiedergefunden haben, dann durfte er das vor seinen Mitmenschen nicht geheim halten. Sie mussten doch erfahren, dass und warum sie nicht mehr so leben konnte, als gäbe es unter der Kuppel nur die Städte, während das Land drum herum als bloße Dekoration in grün und naturhaft diente.
Wie aber Carlo dazu überreden, jetzt endlich loszufahren? Wäre es nicht doch viel einfacher, ehrlich zu ihm zu sein und ihn einzuweihen?
Solcher neuerlicher Grübeleien war er zum Glück enthoben worden, als Carlo ihn unvermittelt mit einem Anruf überrascht hatte. „Na, du fauler Hund“, hatte Carlo lachend am Telefon gefragt, „du meinst wohl, ich hätte vergessen, dass bei uns ein Fitness-Folter-Camp fällig wird? Denkste, jetzt wird’s ernst für die müden Sesselfurzer-Knochen. Übermorgen kann es von mir aus losgehen, ich hab schon gebucht. Wir fahren doch mit deinem Auto, oder?“
„Schon gebucht?“ hatte Adam entgeistert zurückgefragt. „Ich muss dann doch für den Freitag frei nehmen.“
„Ist das bei dir neuerdings ein Problem?“ Nein, das war es freilich nicht, so weit ging es mit der neuen Bedeutung von Adams freiwilliger Dienstzeit dann doch auf keinen Fall. „Oder meinst du, deine kleine macht Stress? Hey, wenn du willst, kann ich meine Verlobte auf sie ansetzen, dann können die beiden ein Mädels-Wochenende machen und sich tierisch was drauf einbilden, dass sie die geheimsten Geheimnisse über uns beim Preseccochen austauschen.“
„Nee, lass mal, wird schon gehen.“ Und tatsächlich hatte Stella, von der er Carlo immer noch nicht berichtet hatte, keine Einwände dagegen erhoben, dass er mit Carlo ins Hotel fuhr. Sie hatte ihn sogar dafür gelobt, endlich einmal wieder etwas mit seinem besten Freund zu unternehmen und ihn gemahnt, das nicht zu vernachlässigen. Adam hatte sich geschämt, vor Stella und vor Carlo, dass er noch nicht den Mumm gehabt hatte, Carlo die Wahrheit über seine Beziehung mit Stella zu sagen.
Und im Handumdrehen war der Abfahrtstag gekommen. Carlo gähnte herzhaft und streckte sich in Adams Auto so gut es ging.
„Is’ ja echt ne Hammerkarre. Für Teenager und solche, die es noch werden wollen“ maulte er in gespielter Unzufriedenheit. Lästereien über Adams Auto waren für Carlo immer ein zuverlässiger Aufhänger für ein bisschen harmlose Konversation.
„Und für die, die das mit dem Teenagersein schon hinter sich haben, gibt es ganz bestimmt viel mehr Platz zum Recken und Strecken, wenn sie zu Fuß ins Hotel spazieren“, giftete er zurück, indem er auf Carlos Spielchen einstieg.
„Adam Bocca, das würdest du doch nicht tun!“ rief Carlo mit theatralischer Empörung. „Du würdest doch deinen al-ler-bes-ten Freund nicht in dieser schrecklichen Wildnis aussetzen.“
Nein, das würde er ganz sicher nicht, auch wenn Carlo das mit der schrecklichen Wildnis nur spaßhaft gemeint hatte. Aber tatsächlich hatten sie schon vor einer kleinen Weile das Ende der Ausbaustrecke passiert und den Wald erreicht. Bis zum Baumtunnel war es gar nicht mehr weit. Der Aufbruch aufs Land war so plötzlich gekommen, dass Adam sich keinen Plan hatte überlegen können, wie er es mit der Suche nach den Schraten am besten anstellen sollte. Der Weg ins Hotel führte an der Stelle vorbei, wo er sie getroffen hatte, oder wenigstes getroffen zu haben glaubte. Einmal vorausgesetzt, das Aufeinandertreffen hatte überhaupt stattgefunden – und von dieser Hypothese musste er ausgehen, wenn die Suche nach den Schraten einen Sinn haben sollte – dann lag es nahe, dass sie dort im dichten Wald, durch den die Straße führte, lebten. Oder dass sie sich dort wenigstens gelegentlich aufhielten. Das wiederum bedeutete eine gewisse Chance, sie an derselben Stelle wiederzusehen. Vielleicht hatten sie ja doch durch Gesten mit ihm kommuniziert? Setzte Kommunikation nicht ein planvolles Handeln voraus, und war planvolles Handeln nicht von der Fähigkeit abhängig, bereits Geschehenes zu bewerten? Also über ein Gedächtnis nicht nur zu verfügen, sondern das Erinnerte auch zweckmäßig einzusetzen?
Ein tollkühner Schluss jagte in Adams Gedanken die nächste Überlegung. Wenn er es schaffen könnte, sich von dem Eindruck zu lösen, den ihr Äußeres vermittelte, dann sprach doch einiges gegen die Annahme, dass diese Schrate nur ein Art wilder Tiere mit aufrechtem Gang und einer dem Menschen nur äußerlich ähnlichen Gestalt waren. Und dann war es nicht nur möglich, sondern bei Lichte betrachtet sogar zwingend, dass sie sich an Adams Besuch erinnerten und seinen nächsten Besuch erwarteten. Wo sollten sie waren, wenn nicht dort, wo sie ihm das erste Mal begegnet waren? Ganz in der Nähe des Laubtunnels, wenn er aus Richtung der Stadt gefahren kam also kurz vor dem Anfang des Tunnels?
Gleich musste die Stelle kommen. Ja, richtig, das war die langgestreckte Kurve aus der heraus ihm damals das Auto mit der Familie entgegengekommen war. Dahinter lag die Gerade, auf der die Gruppe der Schrate gestanden hatte. Da, jetzt konnte er die Strecke überblicken. Adam spürte in sich plötzlich den dringenden Wunsch, die Schrate wiederzusehen. Er war in die Vorstellung eingetaucht, dass es vernünftige und zum sozialen Miteinander fähige Wesen waren, die ihn höflich um eine Kontaktaufnahme baten. Die Vorstellung, sie könnten in dieser Sekunde mit einem großen Satz auf die Straße springen und vor dem Auto Aufstellung einnehmen, das war doch eigentlich nichts, was ihm Angst machen müsste. Zur Begrüßung würde er die Geste der Beschwichtigung machen, dann ergäbe sich in einer Art Gebärdensprache der weitere Austausch.
Da durchfuhr ihn mit eiskalter Angst ein neuer Gedanke. Hastig warf er einen Blick auf den in den Beifahrersitz gefläzten Carlo. Wie würde der auf die Wesen reagieren? Und welche Reaktion würde er bei ihnen auslösen? Auch unter der Voraussetzung, dass die Schrate intelligent waren – konnte er denn davon ausgehen, dass sie Carlo dulden würden? Sie hatten sich bislang offenbar nur ihm offenbart. Wie, wenn das genau ihrer Absicht entsprach und ihnen daran gelegen war, sich vor anderen Menschen zu verstecken? So wie der letzte auf der Straße verbliebene Schrat sich schleunigst vor dem Auto mit der Familie versteckt hatte? Würden sie es als Bedrohung oder wenigstens als Grenzüberschreitung auffassen, wenn Carlo, der sich in seinem Schrecken womöglich ungeschickt verhielte, plötzlich auftauchte? Das waren auf jeden Fall Kreaturen, die im Wald überleben konnten und über gefährliche Körperkräfte verfügten. Selbst wenn sie nur einem Missverständnis unterlägen, könnte das plötzliche Erscheinen eines anderen Menschen an Adams Seite sie zur Aggression reizen. Das begriff er jetzt und bedauerte seinen Entschluss, eigenmächtig Carlo mit hineingezogen zu haben. Was sollte nur passieren, wenn sie jetzt aus dem Wald sprangen, eine ganze Horde, und bei Carlos Anblick über das Auto herfielen? Auch zu zweit hätten sie gegen die vermutlich immensen Kräfte und ganz gewiss langen scharfen Krallen der Schrate keine Chance.
Da, da bewegte sich doch etwas am Waldesrand! Da wurden doch Äste auseinandergebogen! Gleich, gleich sind sie da – nein, es war doch nur eine Windböe, die vom herannahenden Gewittersturm zeugte und die Bäume raufte. Da war nichts. Jetzt um die Kurve und hinein in den Laubtunnel. Hatten sie wieder eine. Späher aufgestellt, um ihn abzupassen. Würde der Carlo schon im fahrenden Auto erkennen und seine Artgenossen warnen können?
„Boah,“ brummte Carlo „finster wie im Bärenarsch hier. Ist das…, sag mal ist das...“
„Was denn?!?“ fuhr Adam ihn nervös an.
„Nichts, ich wollte nur fragen, ob das hier so angelegt ist? Oder wächst so ein Wald von selber in so einer verrückten Form?“
„Weiß ich doch nicht“ zischte Adam. Und dann versöhnlicher: „Müssen wir mal im Hotel fragen, habe ich mir das letzte Mal auch schon überlegt. Ich glaube die im Hotel kennen sich ganz gut in der Gegend aus.“
Damit war Carlo zufriedengestellt. Er richtete sich im Sitz auf, beugte sich zur Mittelkonsole und fing dort an, am Unterhaltungssystem herumzufummeln.
„Nicht!“ presste Adam hervor.
„Was? Wieso denn nicht?“
Adam starrte in den Tunnel hinaus. Unruhig wanderte sein Blick immer wieder die Straßenränder entlang. Wo war nur der verdammte Späher? Rauskommen sollten sie und sich zeigen, verdammt. Was sollte denn dieses Spielchen?
„Was ist denn los?“ fragte Carlo mit dem Ton echter Besorgnis in der Stimme.
„Nix, schon gut.“ Adam schluckte. „Ich krieg nur Kopfweh von diesem Scheißwetter.“ Das mit dem Kopfweh stimmte jetzt immerhin.
„Geht’s dir nicht gut? Sollen wir lieber umkehren?“
„Nein! Nein, nein, nicht nötig, geht schon wieder vorbei, wir können ja mit dem Sport draußen anfangen und ein bisschen spazieren gehen. Was meinst du?“
„Spazieren? Jetzt? Hast wohl Lust auf ’ne original Landluft-Naturdusche? Hast du gesehen, wie wir da in die Gewitterwolken reinfahren? Das geht bestimmt gleich los. Vorsicht! Da vorn!“
Adam fuhr der Schreck durch die Glieder. Jetzt waren sie da!
„Vorsicht!“ wiederholte Carlo in aller Ruhe „Da kommt ’ne megamäßige Kurve und ich weiß nicht, ob dieses Kinderspielzeug von Verkehrssystem deine Karre da sauber rumkriegt. Mach mal lieber langsamer. Oder noch besser: Kauf dir ein anständiges Auto.“
Sie erreichten die Kurve, Carlos Sticheleien waren wieder einmal völlig haltlos. Das Verkehrssystem bremste sie sicher ab und führte sie ohne auch nur das leiseste Schlingern aus dem Tunnel heraus. Nach rechts hin öffnete sich das Tal, die Weidenbäume ließen ihr bereits regennasses Laub hängen.
„Gar nicht so übel“ urteilte Carlo, „man könnte fast sagen: hübsch, hübsch. Wenn man auf so’n Landromantik-Gedöns steht, heißt das.“
Carlos gelangweiltes Interesse an der Umgebung reizte Adam in seiner Nervosität. Wenn der Kerl gewusst hätte! Das hatte hier nichts mir Landromantik-Gedöns zu tun, und es war bestimmt nicht der Ort, um die lässige Überlegenheit des abgeklärten Bürgers einer so großen Stadt wie Kys zu demonstrieren. Das war nicht etwa eine einfach besonders groß dimensionierte Spielart eines gepflegten Parks, eingerichtet und unterhalten zum Freizeitvergnügen der Menschen, die sich ihre Umgebung ganz in ihrem Sinne nutzbar zu machen verstanden. Hier draußen, ja, schon hier draußen stieß die vermeintlich überall gültige zivilisatorische Kultur an ihre Grenzen. Adam umklammerte das Lenkrad, er spürte wieder die Wut gegen Carlos Ignoranz in sich aufsteigen, die ihn vielleicht endlich dazu treiben würde, Carlo die Wahrheit zu sagen. Nein, noch nicht. Jetzt erst recht nicht mehr, wo sie doch durch den Wald hindurch waren, ohne auf die Schrate zu treffen. Welchen Grund sollte Carlo haben, an Wesen zu glauben, die angeblich diesen Wald bevölkerten, und in dem sie doch nicht zu finden waren? Und welches Recht konnte er beanspruchen, Carlo der Ignoranz zu zeihen, wenn er ihm doch gar keine Chance gab, sich mit dem auseinander zu setzen, was er selber erlebt hatte – oder wenigstens erlebt zu haben glaubte, fest glaubte? Er musste seine Entscheidung durchhalten, Carlo zunächst nicht einzuweihen und ihn in Unkenntnis von der Gefahr derselben auszusetzen. Dann durfte er ihm gerechter Weise auch keinen Vorwurf aus seiner Unbedarftheit machen, die Adam kraft seines überlegenen Wissens für Naivität ansehen musste.
„Tja, ‚hübsch, hübsch‘ trifft es wohl“, meinte er deshalb versöhnlich, „aber keine Angst, das Hotel ist echt in Ordnung und ist gar nicht piefig. Es ist genau so modern eingerichtet wie unser Sportzentrum, und hat man viel mehr Platz und es ist längst nicht so überlaufen.“
„Eins A“ gähnte Carlo und streckte und rechte sich wieder.
Während des Wochenendes verwandte Adam dann keinen Gedanken darauf, wann und auf welche Weise er Carlo einweihen sollte. Sie waren von Carla Piyol herzlich empfangen worden, die sich freilich nichts anmerken ließ.
„Schön, Sie so bald wiederzusehen“ hatte sie die beiden verbindlich angelächelt, „und immer in charmanter Begleitung. Obwohl sie ihre letzte Begleitung charmanter gefunden haben dürften.“
„Hö hö, Stammgast, wie?“ hatte Carlo den älteren Bruder gespielt. Dann hatten sie ihre Zimmer bezogen und sich sofort in die Sportklamotten geworfen für eine erste Runde Magno-Sqash. Mit einem ehrgeizigen Programm aus Sport und Massagen, angestrengt gutem Essen und Fachsimpeleien über das Squitten verbrachten sie die Zeit bis Montagmorgen. Es fiel Adam in Carlos Gesellschaft nicht schwer, alles auszublenden, womit er sich in den vergangenen Wochenenden beschäftigt hatte. Die Schrate beschäftigten ihn ebenso wenig wie ein Gedanke an Stella. Abends telefonierte er kurz mit ihr, sagte ihr etwas Nettes und erzählte dann gähnend ein wenig von dem Sportprogramm hier draußen. Stella fragte nicht nach, blieb selber unverbindlich. Um sie musste er sich keine Gedanken machen.
Und die Schrate, die Kreaturen da draußen im Wald? Im Hotel wirkte der Gedanke an sie genau so abwegig wie in der Stadt. Das hier war von seiner gewohnten Umgebung in Kys so wenig verschieden, dass er sich in keiner Hinsicht fremd fühlen musste. Eine ansprechende, seinen Bedürfnissen entsprechende Lebensumwelt, in der einem Wunsch dessen Erfüllung folgte. Er war den Schraten hier nicht näher als er es daheim in Kys wäre. Nur einmal, in der Nacht von Samstag und Sonntag, er war vom hellen Mondschein in seinem Zimmer wach geworden, war er an das Fenster seines Zimmers getreten. Anstatt den schweren Vorhang vorzuziehen, hatte er hinaus gestarrt. Da war jenseits des umgebenden Hotelparks nichts zu sehen. Dunkel zeichnete sich die Silhouette eines niedrigen, mit struppigen Büschen und Bäumen bestandenen Hügelzugs im Mondlicht ab. Lagen in dieser Richtung die Straße zur Stadt und der dichte Wald mit dem Laubtunnel? Wenn die Schrate dort draußen waren, wie nahe würden sie an das Hotel herankommen? Wussten sie, dass er hier war? Würden sie zu ihm kommen, oder warteten sie auf ihn? Dann hatte er den Vorhang geschlossen und sich wieder schlafen gelegt.
Am Montag saßen sie beim gemeinsamen Frühstück, das gewittrige Wetter der vergangenen Tage war endlich wieder einer hochsommerlichen Morgenstimmung gewichen. Sie saßen auf der Terrasse, lobten nun schon zum dritten Mal den Café Crème des Oberkellners in den höchsten Tönen und fanden ihre Befürchtung, der Oberkellner konnte sich auf den Arm genommen fühlen, nicht bestätigt. Stattdessen versorgte er sie noch einmal mit köstlichen Croissants und verschwand dann wieder in seiner Bar.
„Hier kann man es echt aushalten“ lobte Carlo. „Besonders mit der Herzensdame, oder wie Frau Pinyol so schön sagte, mit einer immer charmanten Begleitung. Stimmt’s Partner?“
„Piyol.“
„Bitte?“
„Piyol, sie heißt Piyol und nicht Pinyol.“
„Ja ja, schon gut, lenk nur ruhig ab. Jetzt hast du aber bestimmt Sehnsucht nach der Angebeteten und würdest am liebsten sofort losfahren, wie ich dich kenne.“
„So gut kennst du mich als Verehrer charmanter Begleitungen ja nun auch nicht. Aber ich geh jetzt mal einfach davon aus, dass du dir das so zusammenreimst.“
„Stimmt es denn etwa nicht?“ fragte Carlo naseweis nach.
„Na ja, so halb. Klar finde ich’s gut, wenn wir heute wieder zurückkommen“, antwortete Adam. Er fand es je länger je unbegreiflicher, dass Carlo nicht eins und eins zusammenzählen konnte. Er hatte ihm doch davon erzählt, dass er Stella einmal in einem Sporthotel abgeholt hatte. Wieso kam Carlo nicht darauf, dass das hier im Lupinental gewesen war? Wieso glaubte er, er müsse mit Sandra hier gewesen sein? Aber egal, irgendwann würde er schon alles erzählen, und wenn Carlo dann sauer wäre, weil er es so spät erfuhr, würde ihn das wenigstens von unangenehmen Fragen zur Beziehung von Adam und Stella abhalten.
„Also was jetzt“, bohrte Carlo doch noch weiter, „willst du nun zurück in die Stadt oder nicht?“
„Doch, doch, klar. Aber das war ja schließlich ein tolles Sportwochenende. Und von mir aus muss es auch noch nicht ganz zu Ende sein.“
„Okay, aber bitte kein Magno-Squashen mehr, ich habe einen Mörder-Muselkater in den Waden“, gab Carlo zu bedenken.
„Na gut, dann können wir uns ja etwas anderes ausdenken.“ Selbstverständlich hatte er sich in diesem Augenblick bereits etwas anderes ausgedacht. Die Aussicht auf die Rückfahrt in die Stadt, die Erwartung, dass heute die letzte Gelegenheit zu einem Treffen mit den Schraten bestand und dass ihr Weg sie ohnehin durch „ihren“ Wald führen würde, hatte in ihm einen Entschluss geweckt, den er nun ohne weiteres Nachdenken fasste: Nein, er würde Carlo auch jetzt nicht einweihen, aber er würde es nun darauf anlegen, dass die Schrate sich zeigten. Für diese Lebewesen aus dem Wald musste ein fahrendes Auto recht bedrohlich erscheinen und es zwang sie jedenfalls, einen Plan zu ersinnen, wie sie mit den Insassen eines fahrenden Autos in Kontakt treten könnten. Wenn es ihm also darauf ankam, ein Zusammentreffen zu erleichtern, dann lag wirklich nichts näher als der Versuch, ihnen ohne Auto, einfach von Angesicht zu Angesicht näher zu kommen. Er musste – er und Carlo mussten – einfach in den Wald hineingehen. Einfach hineinspazieren, so wie er es Carlo schon auf der Hinfahrt vorgeschlagen hatte. Wenn sie zu Fuß durch den Walt wanderten, dann würden die Schrate keine Hemmungen haben müssen, sich zu zeigen.
Einfach hineinspazieren – Adam war nicht so unbedarft, dass ihm nicht ohne weiteres die Konsequenz klar gewesen wäre: Ohne Auto mitten im Wald waren sie völlig schutzlos. Klar, wenn sich so eine Gruppe von einem guten Dutzend Schrate auf den Wagen stürzte, sähe es auch alles andere als gut aus. Aber dann gäbe es wenigstens eine kleine Chance, doch noch Gas zu geben und irgendwie davon zu kommen, mit etwas Glück. Aber ohne das Auto? Durch nichts gehindert könnten die Schrate dann ihre körperliche Überlegenheit nach Belieben ausspielen. Adam war bereit, es trotzdem zu riskieren. Und Carlo? Carlo würde schon irgendwie klarkommen, er war der Mutigere.
„Wie wäre es denn, wenn wir noch eine kleine Runde auf dem Laufsimulator machen, dann losfahren und unterwegs für eine Wanderung anhalten, mit der wir das Training dann ganz gemächlich ausklingen lassen?“ fragte Adam möglichst harmlos.
„Nochmal auf den Laufsimulator?“ maulte Carlo. „Wir waren doch heute schon vor dem Frühstück mindestens eine Stunde lang drauf.“
„Es war nicht ganz eine Dreiviertelstunde. Wer wollte denn ‚die müden Knochen in Schwung bringen‘, wenn ich mal zitieren darf? Aber na gut, wenn du das nicht mehr packst, können wir das weglassen und machen dafür die Wanderung ein bisschen länger.“
„Wie kommst du überhaupt auf die Idee mit der Wanderung?“
„Wie meinst du?“ Adam ging mit seiner Gegenfrage innerlich in Deckung. Hatte Carlo doch irgendeinen Verdacht geschöpft?
„Na ja, das ist ja echt wie auf ’nem Schülerausflug. Ist das hier denn überhaupt eine Wandergegend?“
„Ach, wir fragen einfach Madam Piyol und dann wird sich bestimmt was Gutes finden lassen.“
„Meinst du?“
„Klar, die hat sicher eine gute Idee.“
Sie hatte. Sie schlug zunächst ein paar Rundwege vom Hotel aus vor, und als Adam unauffällig auf den Wald in Richtung der Stadt zu sprechen kam, erklärte sie ihnen, dass sie dort eine kleine, von der Hauptstraße abzweigende und im Verkehrssystem bestimmt nicht einprogrammierte Waldstraße nehmen und an deren Ende den Wagen stehen lassen könnten. Zwei Waldwege würden von dort aus abgehen, die aber die zwei Enden eines Rundweges seien, den sie auch als ungeübte Wanderer leicht in zweieinhalb bis drei Stunden bewältigen würden.
„Hört sich doch gut an“ meinte Carlo. Adam pflichtete ihm ohne Anwandlung eines schlechten Gewissens bei.
Eine hohe Bewölkung war wieder aufgezogen, als sie an der ihnen beschriebenen Stelle aus dem Auto stiegen. Die Wolken verdichteten sich mehr und mehr zu einem bleiernen, niedrigen Himmel.
„Wenn es jetzt noch regnet, dann geht’s aber richtig los“ mutmaßte Carlo. „Und dann heißt es vielleicht ein gutes Stündchen oder mehr durch den Regen zurückmarschieren.“
Adam zögerte. Der Wald stand hier nicht so dicht wie im Laubtunnel, aber dicht genug, um keine fünfzig Meter weit zwischen die Bäumen hindurch sehen zu können. Es war womöglich doch einfach eine Riesenidiotie hier den Schraten entgegen spazieren zu wollen. „Sollen wir es lieber lassen?“ fragte er. „Nicht, dass wir noch pitschnass werden, so warm ist es hier draußen nun auch nicht.“
„Ach was,“ versetzte Carlo, „wir haben ja unsere Multifunktionsklamotten. Ist bei dir nicht auch so ’ne Kapuze dran? Ja? Siehste, dann kann ja gar nichts schief gehen.“ Unternehmungslustig rieb er sich die Hände. „Und auf geht’s. War wirklich eine tolle Idee, ich hab das schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht.“
Carlo marschierte los, ohne sich noch einmal umzublicken. Mit einem stillen Seufzer schloss Adam das Auto ab und ging ihm hinterher.
Gar nicht sanft war in dieser drückenden Wärme der Duft des Waldes. Der beständig wiederkehrende Regen der vergangenen Tage zusammen mit der schwülen Wärme, die vor dem immer nächsten Gewitter in Wellen über das Land lief, erweckten die Myriaden kleiner und großer Leben unter den Bäumen und darauf und daran zu wucherndem, pulsierendem Wachstum. Schleichend und lautlos, mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar, breitete sich jeder noch so geringe Organismus aus, so weit und so schnell er konnte, und soweit es die um Luft, Licht und Wärme konkurrierenden Kohabitanten es eben zuließen. Der Stärkere überwucherte den Schwächeren, schnitt ihn von den Quellen seines Wachstums und Daseins ab und ernährte sich, hatte er den unterlegenen Wettbewerber besiegt, von seiner noch von letzten Zuckungen durchlaufenen Substanz. Die Stimmen dieser an unendlich vielen Fronten geschlagenen Schlacht, das triumphierende Kriegsgeschrei ebenso wie das Wehklagen der Sterbenden, alles das blieb stumm, war nicht dem Gehör zugänglich – wohl aber dem Geruch. Es waren Stimmen, die in Düften und Gerüchen und auch in so manchem Gestank durch die Luft des Waldes vibrierten und sie ebenso unablässig durchzogen wie die unvermittelt ihr Netz auswerfenden kühlen Schleier frischer und unverbrauchter Luft, kalte Schauer voll neuer Lebenskraft.
Unsere beiden Wanderfreunde nahmen die vom gnadenlosen Überlebenskampf kündenden Gerüche nur physisch wahr, ordneten sie, wenn sie in ihrem Geiste überhaupt ein Urteil darüber fällten, als Waldluft ab, exotisch, aber ohne jede Botschaft. Sie waren blind für alle Erscheinungen hinter der äußersten Schicht der Wahrnehmbarkeit. Adam, weil er mit einem Unbehagen, das aus dem hinteren Winkel seines Denkens summte wie eine unwuchtig laufende Maschine, die Begegnung mit den Schraten erwartete, sie halb herbei sehnte und halb fürchtete. Carlo hingegen durchwanderte den Wald mit der frohen Ignoranz des bewusst Unkundigen, neugierig auf alles, was er entdecken mochte, doch ohne jeden Ehrgeiz, es wirklich entdecken und verstehen zu wollen. Ihr Gespräch war schon eine Weile verstummt. Sie schritten den Weg entlang, der gut sichtbar, wenngleich zu schmal für ein Fahrzeug, durch den Wald führte. Große Farne deckten hier den Waldboden zwischen den in diesem Teil vereinzelter stehenden Bäumen. Dicht ineinander wachsendes Blattwerk war das. Hell schimmerndes Grün der vollen Blattwedel beleuchtete die Sicht von unten, so dass jeder abweichende Farbton, ein rötlich schimmernder Strauch, das tiefe Braun einer Borke, in unnatürlich starkem Kontrast sich scharf abzeichneten. Die Ränder des Weges waren von den Farnen eingefasst, die Blätter reichten hin und wieder bis in den Weg hinein. Mancher übersprießende Blattwedel überspannte den Weg gar. Der freie Pfad schlängelte sich durch das helle Grün hindurch. Die Blätter versperrten den Blick, so dass nur das jeweils nächste Dutzend Schritte vorhersehbar war.
„Wir gehen wohl rund um eine ziemlich große Senke herum“ hatte Adam bald nach dem Aufbruch vom Auto bemerkt.
„Aha?“ hatte Carlo sich erkundigt mit nur schwach vorgespieltem Interesse in der Stimme.
„Ja klar, schau doch mal, nach links fällt es recht steil ab, nach rechts ist es eben oder geht es sogar bergauf.“
Tatsächlich war der Weg bald nach der ersten Biegung und noch ein ganzes Stück vor den weiten Farnfeldern zur seitlichen Begrenzung dieses Bruchs im Geländelauf geworden: links vom Weg fiel das Gelände ab, nicht unbedingt als steile Böschung, aber doch in einem sehr gut sichtbaren Winkel. Rechts vom Weg ging es leicht aber ständig bergan. Wie weit hinauf, das verbarg sich hinter bald näher, bald entfernter vom Weg stehenden Nadelbaumreihen mit ihrem tief ansetzenden, beinahe bis zum Boden reichenden Geäst und den dicht stehenden dunkelgrünen Nadeln. Die Kurve, die der Weg rechts herum beschrieb, verlief in ihrer gemittelten Richtung zu sacht und war außerdem in zu unregelmäßigen Intervallen von Gegenkurven nach links durchbrochen, als dass Adam oder Carlo hätten erkennen können, wie sie im Uhrzeigersinn in einem großen Kreis liefen. Und deshalb merkten sie auch nicht, dass sie nicht an einer Senke zu ihrer Linken entlang liefen, sondern um die Kuppe eines Hügels, die rechts von ihnen lag. Genau dort, wo der Weg entlang führte, flachte die Steigung des Hügels abrupt ab und ging von einer sichtbar ansteigenden Flanke in eine linsensartig sanfte Abrundung über. An der Stelle, an der sie das Auto hatten stehen lassen, lief der Hügel zu einer Seite hin in einen Sattel aus, der in Richtung der Straße die Senke zwischen dem den Straßendamm bildenden Höhenzug und dem Ansatz des Hügels durchspannte. Der Rundweg war von diesem Punkt aus schlicht um den Hügel herum gelegt worden, wobei der Knick im Geländelauf, der zugleich einen Wechsel in der Vegetation bildet, die natürliche Spur durch den Wald bildete. Eine solche Geländeformation war Adam und Carlo ebenso unergründlich wie gleichgültig. Ihre Erfahrung mit unbekanntem Gelände beschränkte sich auf die Topographien der seit unvordenklichen Zeiten kultivierten und gestalteten Stadtlandschaften.
Carlo wurde es nunmehr, da sie beinahe eine Dreiviertelstunde marschiert waren, sogar ein wenig langweilig. Er benetzte seine Lippen und fing an, in schiefen Tönen eine von ihm völlig falsch erinnerte Melodie zu pfeifen.
„Nicht pfeifen!“ fuhr Adam ihn an, aus unbestimmten schweren Gedanken aufschreckend.
„Warum das denn nicht?“
„Das stört sie... stört vielleicht die Tiere auf.“
„Jetzt mach aber mal halblang. Hier pfeift und zwitschert es aus jedem Baum und Strauch, das werden die armen Tierseelchen wohl noch verkraften, wenn ich ein wenig mittue.“
„Ja, ja, schon gut, hab mich nur irgendwie erschrocken.“
„Kein Thema, ich bin ja bei dir. So ein fröhliches Liedchen ist doch die perfekte Untermalung für einen strammen Marsch durch die freie Natur, was meinst du.“ Und wieder pfiff Carlo los, tüü-tüü-tüt-tüt-tüüü, schief und falsch und ohne jeden Rhythmus. Eine Melodie wäre in dieser losen Folge schnorchelnder und raspelnder Geräusche auch bei äußerst wohlwollender Betrachtung nicht auszumachen gewesen.
„Ach, Carlo“ seufzte Adam.
„Okay, schon gut. Hast du vielleicht eine bessere Idee, wie wir uns die Zeit auf unserer Marschiererei ein bisschen vertreiben können? Irgendeine Hammergeschichte mit monstermäßiger Pointe“
Von Monstern hätte Adam gut anfangen können. „Weiß nicht. Irgendwie ist mir nicht so nach Quatschen zumute“, sagte er stattdessen nur. „Was meinst du, sollen wir nicht doch lieber umkehren?“
„Nix da, jetzt wird nicht mehr geschwächelt, wo bleibt denn dein Sportsgeist?“
Da Carlo ja wohl kaum ernsthaft eine Antwort auf so eine Frage erwartete, schwieg Adam weiter, bereit, sich in neuen Gedankensträngen zu verlieren. Aber Carlo hatte zu großen Gefallen an der Vorstellung einer munteren Plauderei beim Wandern gefunden, als dass er ein weiterhin stummes Dahinstapfen geduldet hätte.
„Hör mal“, fing er wieder an, „da fällt mir gerade ein, so von wegen unbekannte Wesen und so...“
„Wieso unbekannte Wesen?“ unterbrach Adam ihn sofort.
„Ja, weil du doch meintest, da könnten durch mein Gepfeife irgendwelche Viecher aufgestört werden. Ich meine, hey, ich hab hier noch kein Exemplar irgendwelcher Tiere gesehen. Das sind für uns doch alles echt unbekannte Wesen, die hier im Wald so gehalten werden.“
„Ach so.“
„Ja, also von wegen unbekannte Wesen, da fällt mir gerade eine Story ein, die ich dir echt mal erzählen muss. Du erinnerst dich doch noch an Tamitzo?“
„Tamitzo? Nein, sollte ich?“
„Hey, so lange ist das ja noch nicht her, dass du deine Perle klar gemacht hast, du erinnerst dich doch noch an den Nachmittag damals am Fluss? Ja? Na, da war doch dieser eine Bekannte von mir dabei, dieser Junge aus der Vallinigra. Klingelt’s da bei dir? Nein? Immer noch nicht? Der Kichermann, so hat ihn doch diese freche Göre gemeint, die mit deiner Perle am Fluss gesessen hatte, und dann zu uns rübergekommen war.“
„Ach so, ja der. Das ist ja vielleicht ein Penner.“
„Na, na, na, so weit würde ich ja jetzt nicht gleich gehen“, begann Carlo. „Der Junge ist echt superschlau. Du weißt, wie ungern ich es zugebe, wenn jemand wirklich schlauer ist als ich, aber bei Tamitzo ist das halt mal so. Er hat nicht nur ein Gedächtnis wie eine Festplatte, sondern kapiert auch sofort alle möglichen Zusammenhänge. Das ist vielleicht auch schon sein Problem. Zu schlau, um mit Menschen klarzukommen. Das muss für ihn im Umgang mit uns anderen so sein wie eine Partie Magno-Squash, bei der man einfach viel zu schnell ist für den Gegner und man sich schließlich fragt, ob man nicht selber alles falsch macht, bloß weil man das Rumgestolpere des anderen einfach nicht kapiert. Egal, also Tamitzo ist eigentlich echt ein superschlaues Köpfchen. Aber trotzdem oder gerade deshalb ist er auch echt seltsam in seinen Ansichten. Das hat auch nichts damit zu tun, dass er aus der Vallinigra ist. So weit ist das nämlich gar nicht her mit den berühmten kulturellen Unterschieden zwischen den Kuppeln. Ich war ja jetzt auch schon ein paar Mal drüben, und irgendwie glaube ich, dass dieses Gequatsche von den kulturellen Gräben eher so eine Art Werbeslogan ist. In jeder Kuppel wird behauptet, man sei so ganz anders als die Menschen in den anderen Kuppeln. Klar, wenn das so wäre, wäre man selber ja auch was Besonderes. Und wenn sich die Leute in der eigenen Kuppel wohl fühlen und es in der anderen Kuppel ganz anders sein soll, dann muss es da drüben ja wohl irgendwie schlimm und gar nicht schön zu leben sein. Aber ich kann dir sagen, also so viel habe ich schon mitbekommen: Die leben da in der Vallinigra eigentlich ganz genau so wie wir. Sie arbeiten in eigentlich genau denselben Berufen, das Essen schmeckt zwar ein bisschen anderes, besteht aber aus denselben Zutaten, und sogar die Freizeitvergnügungen sind dieselben, auch wenn sie etwas anders heißen.“
„Da gibt’s ’ne Squit-Liga in Vallinigra?” unterbrach Adam ihn endlich, bevor Carlo sich zu noch ausführlicheren Reflexionen über das Leben in Vallinigra ausließe.
„Nee, okay, also mit Squitten haben sie es da nicht so, es gibt nur ein paar Amateurclubs, aber dafür so eine andere Sportart mit Rumgleiten und Schlagstäben, hab vergessen, wie das heißt. Aber ich wollte ja eigentlich auch was anderes erzählen.“ Wenigstens gab Carlo zu, sich vergaloppiert und den Faden verloren zu haben.
„Der Kichermann“, half ihm Adam mit einem Stichwort.
„Ja genau, Tamitzo: Also, es kann dir passieren, dass du dich ganz vernünftig mit ihm unterhältst, und wenn man nicht wüsste, dass er nicht aus der Paneupinia ist, würde es einem wirklich nicht auffallen. Aber dann bringt er auf einmal so ganz komische Dinger. Dieses Rumgekichere wie damals am Fluss zum Beispiel. Und dann auch mal gerne total abgefahrene Geschichten. Und davon ist mir jetzt gerade eingefallen, pass auf: Neulich war ich mit ihm abends unterwegs, er ist ja auf zwei Jahre hier bei uns als Austauschstudent, und ich kümmere mich immer mal wieder um ihn. Wir also los in die Innenstadt, eigentlich hatte ich ja in diese neue Lounge bei der Zentraluni gehen wollen. Aber Tamitzo hat rumgequengelt, das wären ihm zu viele Leute da, und zu wenig Luft zum Atmen und so’n Scheiß. Okay, denke ich mir, hilf dem armen Jungen, geh mit ihm irgendwo hin, wo schön wenig los ist und die Musik nicht so laut, und dann soll er sich einfach mal auskotzen. Dann sind wir in so ’ner totalen Spießerkneipe gelandet, mit so fiesen Mädels als Bedienungen mit hochtoupierten Haaren und billigen Miniröcken, da ist natürlich auch dann tote Hose, wenn’s im Rest der Stadt brummt. Wir haben uns da in ein stilles Eckchen gehockt, Tamitzo hat an seiner Biotonic genuckelt und ich mir erst mal ein großes Reisbier mit Schuss bestellt, so nach dem Motto liebe betäubt als tot gequatscht. Ey, und dann hat der Typ losgelegt, ich hab mich fast verschluckt, kann ich dir sagen. Am Anfang war das noch halbwegs harmlos, da ging es um irgendeine Verschwörungsgeschichte von wegen überwachte Computernetze, und dass irgendwelche Typen von der Secufoce oder anderen Sicherheitskonzernen uns in den Kopf gucken, um unsere geheimsten Geheimnisse auszuspionieren und dann an Kaufhauskonzerne weiterzugeben, verstehst du, damit wir zu gläsernen Kunden werden und die uns alles andrehen können, was wir eigentlich gar nicht brauchen, aber psychologisch total ausgefuchst auf unsere unterbewussten Wünsche passt. Scheiße, denke ich mir, der Typ hat ja echt ’ne Vollmeise. Aber dann ging es erst richtig los. Auf einmal fängt Tamitzo nämlich zu kichern an, echt genau so wie damals, nur klang es irgendwie ängstlicher, er kichert also vor sich hin und murmelt zwischendurch ein paar Mal so was wie ‚die Vögel, die Vögel.‘ Was denn für Vögel, frage ich ihn ganz geduldig als wäre ich sein Psychodoc, und er fängt allen Ernstes und absolut klapsmühlenreif an davon zu erzählen, dass die Vögel in die Kuppel hinein wollen, und dass wir sie auf gar keinen Fall hereinlassen dürfen, weil sie uns sonst umbringen würden. Riesenhafte Vögel seien das, und sie fressen kleine Menschenkinder wie Amseln im Park Regenwürmer picken. Ich schau mich so um, ob da nicht gleich einer mit der Zwangsjacke hinter uns steht, und will mir auch nichts vergeben, falls uns wer zuhört, dann will ich ja nicht, dass der glaubt, ich wäre auch so einer von der Sorte. Also frage ich noch mal ganz geduldig, was für Vögel genau das denn sein sollen, und woher er denn von denen wissen will. Tamitzo schaut mich mit großen runden Augen an und antwortet mit fester Überzeugung, nicht zu schnell und nicht zu zögerlich, dass die Vögel uns auf der Außenseite der Kuppel auflauern und beobachten, und er sei einer der wenigen Menschen die sie von innen nach außen sehend erkennen könnten. Und deshalb würden sie ihn als Allerersten töten, wenn sie einmal in die Kuppel eingedrungen wären. Da hatte ich echt Mitleid mit dem armen Spinner. Wie er sich so in die Sache reinredete, bekam er es selber immer mehr mit der Angst zu tun. Musst du dir mal vorstellen, ein großer Junge, der sich selber Schauermärchen erzählt, und dann selber am meisten Angst vor dem hat, was er sich da zusammenspinnt. Eigentlich ist das ja wirklich einfach zu köstlich, aber du hättest ihn sehen müssen. Der hatte richtig Schiss, richtig, richtig die Hose voll. Da war mir ehrlich nicht danach, ihn auszulachen. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenken, ich meine: Große Vögel, die uns von außerhalb der Kuppel beobachten und uns auflauern, um reinzukommen und uns zu töten, das ist doch mal super abgedreht, oder?“
„Tja, vielleicht...“ setzte Adam zögerlich an. So, so, Tamitzo also, der Kichermann. Der glaubte an unwirkliche Wesen in Gestalt großer Vögel. Ob Adam selber auch zum Spinner wurde in seinem Glauben an die Schrate? Diesen Gedanken wischte er schnell beiseite, so dass eine andere Idee ihn um so deutlicher durchfuhr: War das nicht die Gelegenheit, Carlo einzuweihen, ihm endlich alles zu erzählen? Ihm klar zu machen, dass es nicht allein eine Sache von Spinnern und Außenseitern war, auf Wesen zu treffen, deren Existenz an sich bereits unglaublich war? „Was wäre denn, wenn es, also wenn vielleicht wirklich...“
„Wenn Tamitzo wirklich Hilfe braucht? Glaub mir, das habe ich mir auch lange überlegt, lange und gründlich. Klar, braucht der Junge Hilfe. Der stolpert ja von einer Angststarre in die nächste, so kann der einfach kein selbständiges und erfolgreiches Leben führen. Aber weißt du, da muss man ehrlich zu sich sein und nicht den strahlenden Retter spielen wollen. So ein Fall, da bin ich mir ziemlich sicher, macht professionelle Hilfe erforderlich. Und da bin ich mir eben nicht sicher, ob ich als Bekannter, ich bin ja nicht einmal ein echter Freund von Tamitzo, ob ich als Bekannter also in der Position bin, so etwas anzuleiern. Das müsste ja doch wohl seine Familie machen, oder sein Ausbildungstutor oder die zuständige Behörde. Die haben schließlich...“
„Nein, Carlo, nein, das meine ich nicht“ unterbrach Adam ihn. „Ich meine, wenn es anders ist, als du gesagt hast.“
„Wie denn anders?“
„Na, wenn Tamitzo, du sagst ja selber, dass er superschlau ist, also, wenn er vielleicht Recht hat.“
„Inwiefern denn Recht haben?“
„Dass diese Vögel, also dass er, oder, egal, ich meine, dass er diese Vögel tatsächlich gesehen hat.“
„Gesehen. Aha.“
„Es kann doch sein, dass er, und eben nur er allein etwas gesehen hat, was sich anderen nicht zeigt.“
„Jetzt mach aber mal halblang“ empörte Carlo sich.
„Ich meine das doch gar nicht als Vorwurf. Du kannst ihm doch nicht in den Kopf reinschauen, vielleicht hat er wirklich etwas gesehen, wegen dem er völlig zu Recht Angst hat. Dann hat es ihn sicherlich eine furchtbare Überwindung gekostet, endlich einmal mit jemandem darüber zu reden.“
Carlo blieb stehen, sah Adam entsetzt an, der sich zu ihm umdrehte. Dann breitete sich von Carlos Mundwinkeln ausgehend ein Grinsen über sein Gesicht aus, immer breiter, bis er offen loslachte.
„Was gesehen, Mann, du bist ja ’ne Nummer. Nee, ist klar, das arme Tamitzolein, hat als einziger Augen wie ein Adler um andere Vögel sehen zu können. Hey, Adleraugen, das ist gut, was? Und dann muss der arme Piepmatz erst mal elendiglich rumquäken, bis ihn jemand hört. Oh, oh, es gibt ja so furchtbare Schicksale auf dieser schlimmen Welt, hihi, Vögel, die uns umbringen wollen, und keiner hört auf den armen verrückten Tamitzo, weil er für alle nur der Kichermann ist, klar.“
Dieses Mal durfte Adam miterleben, wie unvorstellbar lautlos sich die Schrate bewegen konnten. Vier von ihnen waren ohne ein Geräusch in einem einzigen großen Satz aus dem dicken Farnlaub hervorgesprungen und ebenso lautlos dicht hinter Carlo auf dem Weg gelandet. Adams Augen weiteten sich in namenlosem Entsetzen. Carlo, der ihm direkt ins Gesicht sah, konnte es gar nicht übersehen.
„Was ist denn los mit dir, Adam? Hey, ich wollte dich nicht beleidigen.“
„Hinter dir“ flüsterte Adam in einem krächzenden Ton, er konnte sich selber kaum verstehen.
„Was ist los?“ frage Carlo, unwillkürlich näher an ihn herankommend, um ihn besser verstehen zu können. „Was meinst du?“
„Er steht direkt hinter dir.“ Vielleicht hatte Carlo den Ausdruck des Entsetzens in Adams Blick jetzt richtig verstanden, vielleicht hatte er auch intuitiv erfasst, dass sie jetzt nicht mehr allein und unbehelligt im Wald waren. Langsam, ganz langsam wandte Carlo sich um. „Hab keine Angst“ flüsterte Adam ihm zu, um den schlimmsten Schock dessen zu mildern, was er jetzt gleich sehen würde. Aber dafür war es schon zu spät.
Der Anführer der vier Schrate war ein besonders großes Exemplar, sein dunkles, fast schwarzes Fell war über den gesamten Torso zu klumpigen Filzstücken verklebt. Aus moorschwarzen runden Augen blickte er die beiden jungen Männer an. Seine Krallen waren so lang wie seine Finger, von seiner rechten Hand tropfte eine schwärzliche Flüssigkeit zu Boden. Eben diese Hand erhob er in Richtung Carlo, der sich immer weiter umwandte. Als Carlo, wohl noch aus dem Augenwinkel, die Schrate erblickte, sprang er einen Schritt weit zurück, in Richtung Adam, und keuchte schwer auf.
„Was...“ Der Ton dieses einen Wortes verwandelte sich von einer Frage zu einem entsetzten Aufstöhnen. Bei diesem Geräusch, dieser Äußerung von Carlos gejagter Seele, schreckten auch die Schrate zurück. Der Anführer stieß ein nicht lautes aber um so grausigeres gurrendes Fauchen aus. Jetzt sah Adam sein nervös wirkendes Blinzeln, feucht schimmernde Augenlider schlossen sich von links und rechts kommend, zweimal, dreimal blinzelte der Schrat, duckte sich, als wolle er sich zu einem weiteren Sprung bereit machen. Zu einem Sprung, mit dem er sie beide überwältigen und dann gemeinsam mit seinem Gefolge vernichten würde. Auch die anderen Schrate fingen an, sich zu ducken. Als spräche er zu einem Dritten in klaren und dringenden Ratschlägen sagte Adam sich in diesem Moment, dass er unbedingt, unbedingt, wenn er überleben wollte, mit den Schraten kommunizieren musste. Sein Leben und das von Carlo hingen davon ab, sich den Schraten als denkende, bewusst handelnde Wesen erkennen zu geben.
Dann hielt er selber sich an, das einzige Stückchen Kommunikation anzuwenden, das er gegenüber den Schraten beherrschte. Langsam hob er seine Hände an ausgestreckten Armen, die Handflächen nach oben weisend, dann wandte er die Hände, senkte sie mittig vor seinem Körper mit der Handfläche in Richtung Boden, wedelte schließlich langsam in dieser Haltung mit den Händen auf und ab.
„Was tust du da? Was tust du da nur?“ krächzte Carlo in einsamer Verzweiflung.
Schon folgte der Anführer der Schrate Adams Beispiel, holte ebenfalls weit mit nach oben geöffneten Handflächen aus, die er dann in die Mitte seines Körpers führend zu Boden wandte, um die Geste des Beruhigens und Beschwichtigens zu machen. Die anderen Schrate nahmen diese Bewegung auf, die Adam seinerseits immerzu wiederholte. Die Schrate sahen nun Adam unverwandt an, schienen sich völlig auf ihn als Partner ihrer Kommunikation zu konzentrieren. Das mag der Grund gewesen sein, warum das, was Carlo nun tat, nicht zur Katastrophe führte. In hektisch zuckenden Bewegungen durchsuchte Carlo nämlich die Taschen seines Sweatshirts und seiner Hose, hatte endlich sein Handy gefunden und herausgezogen. Mit bebenden Händen, die eine Eingabe auf der kleinen Tastatur ohnehin nicht erlaubt hätten, hielt er das Telefon in die Hand, hob es hoch, so dass es sich wie eine Waffe ausnahm, die er gegen die Schrate erhob. Zum Glück schienen sie ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen. Aber Adam sah es, fürchtete, Carlo könne die Schrate doch noch zu einen raschen Gewaltausbruch provozieren.
„Nein! Steck das weg!“ flüsterte er zischend in Richtung Carlo. „Steck das Telefon weg!“ Carlo fuchtelte unkontrolliert mit der linken Hand, in der er das kleine Gerät hielt. „Langsam“ flehte Adam fast winselnd „beweg dich langsam! Erschrick sie nicht!“
„Ich habe kein Netz!“ wimmerte Carlo tonlos. „Jetzt sind wir dran! Wir haben kein Scheißnetz in diesem Scheißwald! Oh Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Er fing tatsächlich an zu schluchzen.
„Beruhige dich Carlo“, unternahm Adam einen neuen Versuch, zu ihm durchzudringen, obwohl er wenig Hoffnung hatte. „Beruhige dich. Sie werden uns nichts tun. Steck das Telefon weg, beweg dich ganz langsam. Mach die Bewegung, die ich mache, sie werden uns gehen lassen, du brauchst das Telefon nicht, steck es weg, ganz langsam.“
Entgegen jeder Erwartung, auf die Adam zu hoffen gewagt hatte, hörte Carlo auf ihn. Mit eisernem Willen, dem Willen, dem Grauen und der Lebensgefahr zu trotzen, bezwang Carlo das flatternde Zittern seiner Hände und Arme. In einem großen, langsam durchlaufenen Bogen, führte er das Handy wieder zurück in die Tasche seines Sweatshirts. Und dann begann auch er mit dem beschwichtigenden Winken mit beiden Händen. Auch wenn er nicht die einleitende Bewegung im großen Bogen machte, übernahm er doch die beruhigende, beschwichtigende Geste der sich auf und ab bewegenden Handflächen. Die Schrate sahen es, ruckten ihre Köpfe in einer überrascht wirkenden Bewegung in Richtung Carlo und stellten ihre Bewegung sofort ein. Carlo und Adam erschraken, hielten ebenfalls mitten in der Bewegung inne.
„Was? Was ist jetzt? Was wollen die?“ flüsterte Carlo.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es doch nicht.“
Aber ihm war klar, ohne dass er einen Grund dafür hätte angeben können, dass die größte Gefahr vorüber war. Die Schrate hatten sich wieder aufgerichtet, standen in entspannter Haltung vor ihnen, das Gewicht vom Spiel- aufs Standbein abwechselnd. Für eine ganz lange Weile standen sie da, ganz ruhig, die langen Arme hingen an ihren Seiten hinunter. Dann atmete der Anführer sichtbar durch zum Zeichen, dass er nun mit Adam und Carlo kommunizieren wollte. Langsam hob er den rechten Arm, einen Finger ausgestreckt, auf Carlo deutend. Vor und zurück bewegte er die Hand mit dem ausgestreckten Finger, jetzt eindeutig auf Carlo zeigend. Dann beugte der den Arm, ballte die Hand zur nach oben gestreckten Faust und bewegte den Ellbogen in Richtung Erde, wiederholte das zweimal. Dann begann er die Sequenz von neuem, zeigte auf Carlo, beugte den Arm und ballte die Faust, bewegte den Ellbogen dreimal in Richtung Erde. Fünfmal wiederholte er diese Abfolge. Dann ließ er den Arm wieder sinken und an seiner Seite hängen.
„Es ist alles in Ordnung“ redete Adam beschwörend auf Carlo ein. „Sie lassen uns gehen. Aber du darfst nicht alleine wiederkommen. Du darfst nicht alleine in ihren Wald kommen.“
„Keine Sorge, das geht von mir aus völlig klar.“ Carlo konnte sich den Ansatz eines heiseren Lachers abringen.
Jetzt begann der Anführer der Schrate wieder in seiner Gestik. Zunächst hob er wieder nur den rechten Arm mit ausgestrecktem Finger, dieses Mal deutete er mit kräftigem Stochern auf Adam. Dann bewegte er beide Arme zugleich und als er beide Arme in simultaner Bewegung in weitem Bogen von sich weg führte, wusste Adam bereits, was jetzt kommen würde: Weit schwenkte der Schrat die Hände von sich und vollendete den Bogen dann, indem er die Hände wieder an seinen Körper führte. Auch diese Sequenz aus dem Deuten und dem kreisenden Heranführen beider Hände zugleich wiederholte er fünfmal.
„Ich... ich soll wieder kommen.“
„Was?“
„Sie lassen uns gehen, aber ich soll wieder zu ihnen kommen. Ich muss wieder zu ihnen kommen.“
„Lass uns jetzt abhauen, ja? Komm lass uns gehen, Adam, schnell!“
„Warte!“ herrschte Adam ihn an. „Warte! Rühr dich nicht vom Fleck. Sie gehen zuerst. Dann können wir gehen. Aber beweg dich jetzt bloß nicht.“ Er war nun gar nicht mehr erstaunt, dass Carlo ohne Widerspruch gehorchte.
Eine letzte Gestik führte der Anführer der Schrate jetzt aus. Beide Hände hielte er geöffnet vor sich, um sie dann ruckartige nach vorne und auseinander zu bewegen, als wolle er etwas von sich wegschubsen. Ohne zu zögern oder sich zu bedenken, wiederholte Adam die Geste, die dann auch die drei weiteren Schrate übernahmen.
„Was ist denn jetzt?“ fragte Carlo, ohne den Blick von den Schraten zu lösen.
„Sie verabschieden sich. Gleich gehen sie, dann können wir auch gehen.“
„Schnell, mach schnell, verabschiede sie, und dann lass uns abhauen.“
„Ich kann sie nicht drängen. Beruhige dich, sie sind gleich weg.“
Es war auch gar nicht nötig, die Schrate zu drängen. Sie brachen die Verabschiedungsgeste so abrupt ab, wie sie sie aufgenommen hatten, dann verschwanden sie mit großen Sätzen im Blattwerk der Farne. Wie dicht die Farne hier doch standen! Undurchdringlich Blattwedel in Blattwedel verschränkend und übermannshoch. Es war Adam nur deshalb nicht aufgefallen, weil er so sehr mit Carlo ins Gespräch vertieft gewesen war. Zuerst sprangen die drei weiter hinten stehenden Schrate in die Farne und waren verschwunden, schließlich wandte sich ihr Anführer um und machte aus dem Stand einen großen Satz. Sie waren wieder alleine.
„Lass uns jetzt gehen“ sagte Adam ganz ruhig. „Es ist vielleicht sogar kürzer, wenn wir von hier aus den Weg weitergehen, aber wenn wir umkehren, kennen wir den Weg wenigstens. Ich finde, dafür können wir eine kleine Verlängerung riskieren. Einverstanden?“
„Ja. Ja, ja, lass uns abhauen.“
Sie gingen den Weg zurück, Carlo wollte loslaufen.
„Nein!“ herrschte Adam ihn schon wieder an. „Nein! Nicht laufen. Geh zügig, aber laufe nicht. Und dreh dich nicht um. Sie sind noch ganz nah und können uns sehen. Aber sie werden sich nicht wieder zeigen und uns auch ganz bestimmt nichts tun. Beruhige dich.“
Wieder gab Carlo nicht das kleinste Widerwort. Verbissen schweigend marschierten sie so schnell es der gehende Schritt erlaubte zum Auto zurück. Durch die Farnfelder, die sie schließlich hinter sich ließen, und durch den dann wieder dichter werdenden Wald. Da! War dieses Gurren nicht ein Geräusch, wie es der Anführer der Schrate gemacht hatte? Adam zwang sich, nur auf den Weg zu blicken. Eine letzte Biegung, da stand das Auto. Carlo hielt es nicht länger, er stürzte zum Auto, rief „Mach auf! Mach auf!“ Adam holte den Funkschlüssel hervor und schloss den Wagen auf. Aber Carlo stieg doch nicht ein, vor dem Auto ging er in die Knie, klammerte sich an der Oberkante der Motorhaube fest und übergab sich mit heftigem Würgen. Adam ging einfach an ihm vorbei und setzte sich auf den Fahrersitz, blickte nach unten. Sie hatten ihm gesagt, dass er wiederkommen musste. Und hatten sich verabschiedet wie von einem, den sie bald wiedersehen würde.
Carlo rappelte sich vor dem Auto wieder auf, taumelte zur Beifahrertür, krabbelte ins Auto. „Fahr los“ stöhnte er und keuchte wie ein sterbendes Tier. Adam wendete und fuhr zur Straße und in die Stadt zurück.