Читать книгу Adam Bocca im Wald der Rätsel - Tilmann A. Büttner - Страница 7
Die Stadt bei den Flüssen, 3. Kapitel
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Auf ein lebensfroh sonniges Wochenende folgen noch zwei oder drei weitere herrliche Sommertage, dann verliert der Sommer spürbar an Schwung. Und auch wenn die Menschen sich in heimlicher Verzweiflung an die Wärme und das Licht klammern, beide schwinden doch zusehends. Noch reden sich viele für eine kleine Weile ein, es komme ja gar nicht aufs Wetter an, Hauptsache es ist Sommer, und da fühle man sich doch immer glücklich und aufbruchslustig. Aber die Tage werden grauer, trüber, nasser, in einem immerzu bleiernen Himmel schwindet die Erinnerung an die Empfindung der Unbeschwertheit, mit der es sich schon morgens ohne jeden Gedanken an die passende Kleidung oder gar die richtige Kopfbedeckung aus dem Haus treten ließ. Vorbei die Tage, an denen die Straße einladend leuchtet und der Weg zum Auto oder zum Expressschweber oder womöglich zu Fuß zur Arbeitsstelle eine erste Freude ist, die manche Alltagssorge des bevorstehenden Tages verstummen lässt. Wie anders jetzt, wenn die regenfeuchte Straße geradezu entgegen ruft, es sei besser, daheim zu bleiben, jedenfalls aber mühselig, die wenigen Schritte draußen zu tun; und jedenfalls sei es mehr als angebracht, sich kritische Sorgen zu machen, ob es nicht doch zu kalt sei für die leichte Sommerhose oder die flotten, aber nur dünn besohlten Schuhe. So hastet es verärgert durch die Straßen, hinab in die Schächte der Expressschweberstationen, schnell, nur schnell hinein in die Bürogebäude, die in den niedrigen Wolken verschwindenden, nur schnell, auf dass wenigstens der lästige Weg dorthin beendet sei. Und selbst das Surren der Autos, an einem sonnigen Morgen eine harmonische Begleitung zum Vogelgezwitscher, ist an so einem Regenmorgen ein abweisendes Fauchen.
Tatsächlich muss sich der Fußgänger an solchen Tagen in Acht nehmen vor den Autos, ihre hochkonzentriert gespeicherte elektrische Energie will dann nicht nur den zuverlässigen Antrieb gewährleisten, sie ist förmlich eine stille Aggression, die jeden Moment ausbrechen kann. Denn die Geduld der Autofahrer hängt nach wenigen Minuten der stoßweisen Fahrt durch die Stadt an einem dünnen Nervenfaden. Die fröhliche Radiosendung ist zu aufdringlich, die alternativ bereitgehaltene Lieblingsmusik weckt Fluchtgedanken, anstatt aufzuheitern. Und jetzt geht es schon wieder nicht voran, weil dieser Trottel da vorne – in einem dicken Mercur, na klar, soll er sich doch ’ne Karre anschaffen, mit der er klarkommt, der Depp – scheinbar schläft, anstatt auf die Anweisungen seines Verkehrssystems zu hören. Was ist das nun schon wieder für eine bescheuerte Baustelle, muss das mitten im Morgenverkehr gemacht werden, ja gut, letzte Woche, da war die auch schon da, und es war sehr interessant, aus dem lässig heruntergelassenen Autofenster den Arbeitern zuzusehen, wie sie in der wärmenden Morgensonne die Baugrube beackerten, aber heute ist es viel zu nieselig, um das Fenster auch nur einen Spalt weit zu öffnen, dabei ist es im Auto muffig vor Regenfeuchte, verdammt, erst Mittwoch und schon eine Viertelstunde zu spät dran. Im Radio schmachtet eine dünnstimmige Mieze etwas von „heißem Verlangen, heißen Küssen, heißen Nächten“ vor sich hin, die doofe Kuh, ja, ja, jetzt brabbelt der aufreizend gut gelaunte Showman vom Morgenfunk dummes Zeug über Supergrillparties mit den tollen Leuten am Wochenende, hey, Mädels – der Kerl sagt tatsächlich „hey, Mädels“ – vergesst euer Berrybräu-Reisbier nicht, ihr wisst schon, euer fruchtig-cooler Start in ein Su-u-u-u-u-per-Wochende. Arschloch, das sind immer noch drei Tage bis dahin, erst mal rechtzeitig zum Meeting im Büro sein, Mann, jetzt fahr doch zu, was ist denn jetzt das, Mist, ist wohl ein Unfall, oh nein, jetzt kommen auch noch zwei Motorradtypen von der Secuforce, schnell Platz machen, da, jetzt haben sie dem armen Idioten da hinten die Seitenscheibe eingeschlagen, tja, die können ziemlich derbe drauf sein, wenn einer ihnen nicht schnell genug Platz machen. Jetzt sind sie zum Glück vorbei, ach, da vorne ist es ja schon passiert, nichts wie dran vorbei und dann weg hier.
Die beiden Secuforce-Protektoren steigen von ihren chromblitzenden Magnetorädern. Die Helme nehmen sie nicht ab und dazu machen sie ein so grimmiges Gesicht, als ob sie sich selbst bei den ängstlich beiseite springenden Passanten noch mehr Respekt verschaffen müssten. Der Streifenführer geht vor, der andere bellt „Secuforce, Platz da, aber schnell“, obwohl die ältere Dame weder im Weg steht noch irgendwie weiter ausweichen könnte. Sie presst sich schon zitternd an die Hauswand. Die Streife stiefelt im Übrigen achtlos an ihr vorbei, hin zu dem Zeitungsverkäufer. Dessen fettig zerzausten Haare sind im Nieselregen nass geworden, er ringt verzweifelt seine wurstigen Hände, wenn er sie nicht wieder einmal zu Fäusten ballt und dem jungen Mann droht, der verwirrt um das verschrammte Auto herumstapft, das in den Resten des aus Zeltstangen und Planen zusammengeschusterten Zeitungsstandes zum Stehen gekommen ist. Oha, ganz ganz dumm gelaufen, da hat der junge Kerl ja wirklich, Treffer versenkt!, genau ins Schwarze getroffen, hundert Punkte. Frische Bremsspuren zeigen an, dass er von da drüben aus der schräg von links einmünden Straße gekommen sein muss, da hat er wohl zu viel Tempo drauf gehabt auf dem schlüpfrigen Schallschutzbeton, oder er hat irgendwie gepennt. Jedenfalls hat er die Kurve nicht gekriegt, der deutlich zu große Abbiegeradius hat ihn auf den Bürgersteig und schön in die rechte Seite des Zeitungsstandes geführt, dann hat das Auto wohl die Zeltstangen zerknickt und die ganze Konstruktion ist zusammengekracht. Jetzt liegen die Zeitungen im Regen, der in unangenehmen Böen immer wieder einsetzende Wind hat feuchte Papierfetzen über den Bürgersteig getrieben, wo sie von den Passanten zertreten werden. Der Zeitungsverkäufer könnte einem eigentlich leid tun, das ist ja auch sonst kein gutes Geschäft mit den Papierzeitungen, wo doch so gut wie jeder sein Digitalpapier hat, auf dem er alle Bücher, Zeitschriften und Zeitungen abrufen kann, und nur dann eine Zeitung kauft, wenn sie billiger als der Download ist. Da bleibt bei den Händlern nicht viel hängen.
Und jetzt muss auch noch so ein junger Schnösel den Stand zu Schrott fahren. Klar, das ist ärgerlich, mehr als ärgerlich, aber die Sympathie der wenigen Schaulustigen, die sich von der Secuforce-Streife nicht abschrecken lassen, gehört trotzdem nicht dem Zeitungsverkäufer, sondern eher dem jungen Mann aus dem Unfallauto. Die Aufregung des schmierigen Zeitungsverkäufers ist zu aufgesetzt. Besonders seit dem Eintreffen der Streife haben sich seine Beschimpfungen dermaßen gesteigert, damit die Secuforce-Protektoren auch ja nicht übersehen können wer hier der Schuldige ist. „Du Missgeburt, den Hals sollte man dir Umdrehen, du unnützes Stück Scheiße, dich sollten sie gleich erschießen“, schimpft der Zeitungsverkäufer, schwingt drohend die Fäuste, lässt seinen Zeigefinger immer wieder anklagend in Richtung des jungen Kerls sausen, Mitleid muss man da bekommen mit dem armen Kerl. Es ist Adam.
So ganz geht die allzu offensichtliche Taktik des Zeitungsverkäufers trotzdem nicht auf, „du hättest hier alle umbringen können, du dummes Häufchen Dreck“, zetert er jetzt weiter. Aber die Streife scheint noch nicht erkannt zu haben oder erkennen zu wollen, wer hier der Bösewicht ist, und wer das arme Opfer. Der Streifenführer wirft sich in die Brust und stemmt die Hände in die Seiten. Während sein Kollege den Handcomputer zückt, schnauzt er den Zeitungsverkäufer an:
„Was ist denn hier los?“
Keine sehr geistreiche Frage, gewiss, der Zeitungsstand wird ja wohl kaum rückwärts in das Auto reingefahren sein, das dann nicht mehr ausweichen konnte. Aber das wagt natürlich keiner einem Secuforce-Protektor entgegen zu setzen.
„Zum Glück sind Sie da, Herr Protektor“ dient sich der Zeitungsverkäufer devot an, „dieser..., dieser Verbrecher ist viel zu schnell um die Kurve gerast, mit deut-lich un-an-ge-pass-ter Geschwindigkeit, wir hätten alle tot sein können, er hat mein ganzes Geschäft kaputt gefahren.“ Und nur für den Fall, dass der Streifenführer den Ernst der Lage nicht ganz begreifen sollte, deutet der Zeitungsverkäufer auf die zerfetzten Reste seines kümmerlichen Standes, will heißen: seines Geschäfts, mit einer Bewegung, die wohl grenzenlosen Schmerz ausdrücken soll. „Tot hätten wir alle sein können, und ruiniert hat er mich vor allem der Verbrecher, Sie müssen gleich...“. Nein, so nicht, Secuforce-Protektoren müssen gar nichts.
„Ruhe!“ schnauzt der Streifenführer erwartungsgemäß, „Secuforce-Protektoren müssen gar nichts!“ Sein Kamerad macht einen Ruck, als wollte er die Hacken zusammenknallen.
„Nein, nein, natürlich nicht, Herr Protektor“ fistelt der Zeitungsverkäufer in verzweifelter Beschwichtigung, „ich wollte nur sagen..., ich habe alles gesehen, dieser Verbrecher ist viel zu schnell...“
„Ruhe!“ Jetzt brüllt der Streifenführer den Zeitungsverkäufer förmlich an. „Halt den Mund! Identitätskarte! Flott flott!“
„Jawohl, natürlich“, mit zitternden Händen dreht sich der Zeitungsverkäufer um und wühlt in den Trümmern auf der Suche nach seinen Papieren. Währenddessen tritt der Streifenführer an das Auto heran und packt Adam bei der Schulter.
„Wie ist das passiert?“
„Ich weiß nicht so recht, bin wohl so rausgerutscht.“ Adam wirkt nicht im Geringsten eingeschüchtert, dafür um so zerstreuter. „Was ist denn passiert?“ gibt er die Frage ungeniert zurück. Eine derart offene Naivität müsste eigentlich auch hartgesottene Secuforce-Protektoren entwaffnen, aber dieser Streifenführer ist ein alter Hase und lässt sich nicht beirren. Bevor er sich ins Nachdenken verheddert, greift er zu bewährten Instrumenten der Sachverhaltsaufklärung.
„Identitätskarte, Führerschein, Fahrzeuglizenz, flott flott“, bellt er Adam an. Immerhin zeigt er sich keineswegs ungeduldig, während Adam umständlich seine Tasche und das Handschuhfach nach den geforderten Dokumenten durchkramt. Es dauert eine halbe Ewigkeit. Denn in Gedanken ist Adam gar nicht hier am zu Schrott gefahrenen Zeitungsstand, im kühlen Nieselregen eines unansehnlichen Mittwochmorgens, nein, er hängt noch ganz dem vorigen Tag nach, an dem so viel passiert ist.
Dieser Dienstag vor dem Unfall war auch kein sonniger Tag mehr gewesen, aber immerhin war dem morgendlichen Regen ein Vormittag mit einigen halbwegs sonnigen Momenten gefolgt. War da etwas besonders an diesem Dienstagvormittag gewesen, den Adam bei monotoner Beschäftigung im Regierungsamt verbrachte? Wohl kaum, wieder einmal sortierte er „Eingaben interessierter Mitbürger“ in verschiedene Aktenordner ein. Das System, nach dem er sortieren musste, war ziemlich willkürlich. Zum Teil ging es um die Adressen der Absender, dann auch darum, was genau sie wollten (wenn sie denn ein Anliegen ausdrücklich formulierten), schließlich auch danach, ob sie einen Betrieb mit einer bestimmten Anzahl von Arbeitsplätze repräsentierten. Genauso gut hätte man die Zuschriften nach der Eingangsuhrzeit in Kombination mit der Lieblingsfarbe der Absender sortieren können, schon allein deswegen, weil nur ganz wenige Zuschriften irgendeine Beachtung fanden. Diejenigen, die in die Ordner sortiert wurden, gehörten allesamt zur überwältigend großen ignorierten Mehrheit. Aber das interessierte Adam nicht wirklich, seit mehr als einem Jahr erledigte er im Regierungsamt derlei Aufgaben, bei denen weder Methode noch Ziel einer näheren gedanklichen Überprüfung standgehalten hätten. Wenn man denn darüber nachgedacht hätte, Adam tat es jedenfalls nicht. Genau so wenig, wie er sich über seine freiwillige Dienstzeit an sich Gedanken machte. War es wirklich schon über ein Jahr her, seitdem er den Schulabschluss gemacht und die freiwillige Dienstzeit begonnen hatte? Es hätten genau so gut zehn Wochen oder zehn Jahre sein können. Die im Regierungsamt verbrachte und vertane Zeit versickerte spurlos wie Wasser in einem Schwamm.
Selbst das für ihn ungeheuer wichtige, ja einschneidende Erlebnis eineinhalb Wochen zuvor, an jenem Samstagnachmittag am Ufer der Kirna hatte ihn zwar wachgerüttelt, aber doch keine Reflexionen über den Sinn seiner freiwilligen Dienstzeit ausgelöst. Nur in seinem Inneren Geweckt worden war er durch die Begegnung mit Sandra und… diesem andere Mädchen… – ja richtig, Stella hieß sie wohl – allein innerlich war, das, aber immerhin. Da waren auf einmal viel mehr wertvolle und wunderbare Empfindungen in ihm, als nur die reichlich knabenhafte Freude über eine gewonnene Partie Squitten oder einen fröhlichen Abend mit den Jungs aus seiner Clique. An jenem Samstagabend hatte er, alleine am Flussufer stehend, liebende Empfindungen in vielen Farben und Tönen gespürt – nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Empfindungen münden nicht von selbst in einen Entschluss zum Handeln, besonders nicht bei einem jungen Mann, dessen Schritte ins Leben zwar immer größer werden, aber noch so unsicher sind, dass er immer wieder über seine eigenen Füße stolpert. An der Eintönigkeit seiner freiwilligen Dienstzeit und seiner völligen Gleichgültigkeit der Dienstzeit und ihrer Eintönigkeit gegenüber hatte sich schlechthin gar nichts geändert. Und so hatte auch dieser Dienstag, der Tag, bevor er am Mittwochmorgen in den Zeitungsstand rauschte, wie jeder andere Wochentag so gewöhnlich und ereignisarm begonnen, wie Adam sich es nur hätte wünschen können.
Die Veränderungen in seinem Leben seit dem – sehr kurzen – Aufeinandertreffen mit Sandra hatten sich auf seine Freizeit beschränkt. Schon am Sonntag danach hatte er am Computer versucht, Sandra zu identifizieren und ihre Nummer herauszubekommen. Zunächst hatte er mithilfe des Tokens, den er als Behördenangehöriger eines Regierungsamtes immerhin hatte, auf die zentralen Meldedatei zugegriffen und eine Inverssuche zu der Nummer durchgeführt, die Stella ihm gegeben hatte. Das hatte erwartungsgemäß funktioniert, zu dieser Nummer hatte der Rechner eine Stella Parker als berechtigte Person ausgeworfen, weitere Daten wie Wohnort, Tätigkeit, Geburtsdaten und dergleichen seien bei dem „der Regierung von kooperativ verbundenen Sicherheitskonzern“ – das war natürlich die Secuforce – hinterlegt und könnten dort von Berechtigten abgefragt werden. So weit ging Adams Berechtigung als freiwillig Dienstleistender natürlich nicht, und so musste er mit Stellas Namen weitersuchen. Er hatte keinen Erfolg. Der erste Ansatz war natürlich das Freundenetz gewesen, die zentrale Plattform für Online-Kontakte zwischen Freunden und denen, die es werden wollen. Überraschender Weise war unter Stellas Klarnamen dort kein Eintrag zu finden, obwohl Leute in ihrem und Adams Alter sich meistens kaum die Mühe machten, sich dort unter einem Alias zu registrieren. Danach hatte er es noch mit den Fansites einiger Musikvideosender versucht und den Kundenforen der drei größten Modehausketten. Nirgends gab es eine Stella Parker. Einen Treffer hatte er dann schließlich doch, als er ohne großes Nachdenken ein Mitgliederforum des „Freundeskreises der Sicherheitskräfte in Paneupinia“ überprüft hatte. Da, tatsächlich hatte da die Suche nach Stella Parker Erfolg gehabt. Stella Parker war, das hatte Adam doch sehr gewundert, vielfach anerkannte und sogar ausgezeichnete Freundin der Sicherheitskräfte. Der nächste Klick hatte den Irrtum aufgeklärt: die im Freundeskreis der Sicherheitskräfte registrierte Stella hatte im Jahr zuvor ihre fünfundzwanzigjährige Mitgliedschaft gefeiert und dafür die Ehrenbrosche entgegengenommen. Eine dermaßen achtbar um die Sicherheitskräfte bemühte, vermutlich schon reichlich ältere Dame konnte kaum mit dem Früchtchen identisch sein, das fremden Jungs das Reisbier wegtrank und dabei die Flaschen mit ihrem Ring öffnete.
Mit diesem Ergebnis waren Adams Bemühungen, über die Suche nach Stella Sandra aufzuspüren, fürs Erste gescheitert. Eine „Sandra“ im Netz zu suchen, nähere Beschreibung: blond, um die zwanzig Jahre alt, sitzt im Sommer gerne mit ihre Freunden an der Kirna, das war von vornherein aussichtslos. Oder wie Adams wunderbar verschrobener Biologie-Lehrer einmal zur Freunde der gesamten Abschlussklasse gepredigt hatte: „Meine Herren, Sie müssen ja das Objekt Ihrer Begierde nicht siezen, wenn Sie von der Liebe auf den ersten Blick getroffen werden. Aber nach ihrem Nachnamen sollten Sie schon fragen. Oder haben Sie es schon einmal geschafft, eine..., na sagen wir: eine Cindy im Telefonbuch von Kys zu finden?“ Nun benutzte zwar so gut wie niemand mehr Telefonbücher, aber Recht hatte er doch gehabt, der verschmitzte alte Knacker. Alleine anhand ihres Vornamens konnte Adam Sandra nicht finden und schon gar nicht ihre Nummer herausbekommen. Das war auch Stella klar gewesen, die auch gewusst haben musste, dass Adam auch sie selber nicht über ihre Nummer würde identifizieren können. Er war also in eine Sackgasse geraten.
Sein letzter Strohhalm war der Plan gewesen, am darauffolgenden Samstag noch einmal an die Kirna zu gehen in der Hoffnung, Sandra würde dort wieder auftauchen und er bekäme womöglich sogar die Chance mit ihr alleine, ohne ihren Freddy in der Nähe, zu reden. Aber das nächste Wochenende war schon kühl und regnerisch, und so gab es genau genommen überhaupt keine Menschen, die am Flussufer den Tag verbrachten. Nur ein paar hysterische Powerwalker hasteten vorüber. Adam war trotzdem hingegangen, hatte eine gute halbe Stunde lang im Regen gestanden und war dann niedergeschlagen nach Hause getrottet. Warum musste er sich auch in ein Mädchen verlieben, bei dem er überhaupt keine Chance hatte, sie zu finden und wiederzusehen?
Gar keine Chance? Na ja, das stimmte natürlich nicht. Immerhin hatte er Stellas Nummer, er hätte sie anrufen und sich mit ihr verabreden können, vielleicht hätte er dann mit etwas Geschick das Gespräch auf Sandra lenken und so viel über sie herausbekommen können, um sie doch noch im Netz aufzuspüren. Aber das war für Adam kaum mehr als eine rein theoretische Möglichkeit. Stella hatte er kennen gelernt... als ein Mädchen, mit dem er lieber nicht mehr als unbedingt nötig zu tun haben wollte. Er hatte sie an jenem Nachmittag am Fluss nicht unsympathisch gefunden, hatte auch nicht übersehen, wie hübsch sie war, und doch – oder vielleicht auch deshalb – hatte er, ja, da gab es nichts zu leugnen, hatte er Angst vor ihr gehabt. Nur so ein bisschen, genug jedenfalls, um ein Telefonat oder gar ein Treffen mit ihr vorsichtshalber erst gar nicht in Betracht zu ziehen. Richtiggehend verhört hatte sie ihn schließlich, und Carlo hatte die Sache nicht unbedingt besser gemacht mit seinen Versuchen, Adam besser dastehen zu lassen. Und dann die Nummer mit dem Bierflaschenetikett! Hätte er nicht ein bisschen Angst vor Stella gehabt – und so wenig war es gar nicht, eine ganz undefinierbare Angst hatte er davor gehabt, ihren Unwillen auf sich zu ziehen – hätte er also keine Angst vor Stella gehabt, er hätte das Etikett unbesehen in den Fluss geschmissen. Das hatte er zum Glück nicht getan, so dass ihm eine winzig kleine Hoffnung geblieben war, mithilfe der Nummer von Stella auch Sandra wiederfinden zu können. Diese Hoffnung hatte sich zwar nun zerschlagen, aber immerhin. Und doch hatte sich Adams Verzweiflung noch nicht hoch genug aufgetürmt, um die theoretische Restmöglichkeit doch noch zu ergreifen und Stella anzurufen. Lieber hatte er sich eine Woche nach dem Aufeinandertreffen mit Sandra an derselben Stelle am Flussufer nasse Füße geholt und verwunderte Blicke der Powerwalker eingehandelt. Dann, zu Hause hatte er sich in ein heißes Bad gelegt und sich unbestimmten, süßen Träumereien an Sandra hingegeben, die vor seinem geistigen Auge – selbstverständlich – immer schöner und begehrenswerter wurde.
Sein Vater war an diesem Wochenende wieder einmal nicht daheim sondern auf unaufschiebbarer Geschäftsreise in einer der benachbarten Kuppeln unterwegs, so dass Adam die Wohnung für sich gehabt hatte, alle Türen hatte offen stehen lassen und eine schwermütige, scheinbar uralte Popmelodie bis in das große, hell erleuchtete Bad hinein hatte fließen lassen können. Der Sinn des Textes war Adam nicht mit dem Verstand, sondern nur in vagen Ahnungen zugänglich. Von einem Lied, dessen Tentakel sich aus einer Tür hinaus erstreckten, war da die Rede, von einer Welt in Zeitlupe und davon, wie zwei, die zusammengehören, den Tag verschlafen.
Adam hatte nicht verstehen müssen, was sich diese Musikgruppe mit dem rätselhaften Namen „Elbow“ da vor unvorstellbar langer Zeit bei diesem Lied mit dem rätselhaften Titel „Bones of you“ gedacht hatte. Nur mitfühlen, bis in die letzte Faser spüren wollte er es. Das war ihm an einem so trüben Samstagnachmittag ohne jede Aussicht, Sandra in nächster Zeit wiederzufinden, ganz ausgezeichnet gelungen. Sandra, ach, Sandra. Sanft war Adam eingedöst.
Mit penetranter Gutgelauntheit hatte ihn der Klingelton seines Handys aus Dösen und Träumereien gerissen. Das wilde Gestampfe der quäkenden elektronischen Musik aus dem silbergrau changierenden und ultraflachen Mobiltelefon hatte überdeutlich zur schwärmerischen Schwere der klassischen „Elbow“-Songs kontrastiert, und das hatte geholfen, Adam um so gründlicher zu wecken. Als ob er bei etwas Verbotenem, oder wenigstens bei etwas Ungehörigem erwischt worden wäre, war er aus der Badewanne gesprungen, hatte sich sein Handy und den Haustechnik-Controller geschnappt und zeitgleich die Musikanlage ausgeschaltet und den Anruf angenommen.
„Hallo?“ hatte er ins Telefon gerufen, „Adam Bocca?“ Er hatte schon immer eine unverwechselbare Art gehabt, seine Anrufer dadurch zu verwirren, dass er sich zwar mit seinem Namen meldete, ihn aber als Frage intonierte. So mancher Anrufer hatte da schon überrascht aufgelegt. Aber Stella natürlich nicht.
„Das will ich hoffen“ war ihre Stimme sanft aber entschlossen aus seinem Handy getönt, „oder ich werfe meine Kommunikationssoftware auf den Müll.“
Adam hatte geschwiegen. Dann hatte er geschnauft vor Überraschung. Nur sagen hatte er nichts können.
„Ja, ja“, setzte Stella das Gespräch fort, „schon gut, du kannst dir deine überschwänglichen Freudensbekundungen sparen, ich freue mich auch total, wieder von dir zu hören.“
Immer noch keine Reaktion von Adam.
„Aber gehört hast du von einer Erfindung namens Telefongespräch doch schon mal?“ hatte sie weiter gebohrte. „Und vielleicht hast du ja auch schon mal so ganz am Rande mitbekommen, dass die zentrale Spielregel dabei verlangt, dass beide Gesprächsteilnehmer etwas sagen?“
„Ja, hallo...“ Zäh wie Klebstoff waren Adam die Worte aus dem Mund getropfte, „hallo, ich...“
„Oh, prima, klar können wir von mir aus gerne bei den Basics anfangen. Alsdann: Hallo Adam Bocca, ich wünsche einen guten Tag und bitte um Nachsicht um die Störung zu dieser unpassenden Zeit, ich bin’s nur, Stella Parker, Telekommunikationsgenie und auf der Suche nach einem jungen Mann, der nicht gleich jedes dahergelaufene Hühnchen zurückrufen muss, das ihm seine Nummer gibt. Darf man vielleicht fragen warum?“
„Wie hast du meine Nummer herausgefunden?“
„Huiuiui, ich hoffe, dein Sicherheitsbeauftragter scheißt sich nicht gleich die Hosen voll, wo doch schon eine unbekannte Verrückte dich ohne weiteres kommunikativ aufspüren kann. Aber keine Angst, ich will dich weder erpressen noch stalken.“ Stellas Ton war ziemlich gereizt geworden.
Adam hatte sich entweder nicht davon beeindrucken lassen oder er es einfach überhört. „Ja, aber wie hast du es denn dann geschafft?“
„Ist dir das wirklich so wichtig, oder kommt es dir nur darauf an, mich so gründlich wie’s nur geht, abblitzen zu lassen?“ Stella hatte ihn beinahe angeschrien. Etwas ruhiger war sie fortgefahren: „Mensch, so ein grüner Junge kannst du ja doch wohl nicht sein, wenn sie dich beim Regierungsamt immerhin für eine freiwillige Dienstzeit genommen haben. Dann kannst du es dir ja eigentlich selber zusammenreimen, dass ich keine geniale Spürnase sein musste, um dich zu identifizieren und deine Nummer herauszukriegen.“
„Ach?“
„Ey, komm, das spielst du mir jetzt vor, oder? Wie viele Adams gibt es wohl, die im Regierungsamt für Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung im Moment eine freiwillige Dienstzeit absolvieren, und zwar genau genommen seit den Schulabschlussklassen im letzten Jahr? Hm? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, kläre ich dich gerne auf: es gibt genau einen, nämlich dich, Goldbärchen. Und jetzt bitte, bitte, bitte keine Stammelfragen dazu, wieso ich etwas über das Personal des Regierungsamtes weiß, denn die neuen Richtlinien über die Transparenz in Regierungsaktivitäten wirst du ja wohl wenigstens schon mal von weitem wahrgenommen habe, stimmt’s? Steht alles auf eurer Homepage, und mit der hübschen Suchfunktion habe ich dich im Handumdrehen serviert bekommen. Abgefahrener Nachname übrigens.“
„Was?“
„Dein Nach-na-me. Zweiter von zwei Namen, den wo du haben tust, verstanden? Bocca, klingt ziemlich abgefahren und jedenfalls eindeutig exotisch.“
„Hm.“
„Hör mal, wenn du so was wie eine Telefonier-Allergie hast, will ich dich ja auch nicht länger quälen. Wie wär’s dann mit einem Kaltgetränk in einer Innenstadtkneipe deiner Wahl heute Abend? Ich nehme mal schwer an, dass heute nicht das Wetter dafür ist, um mit deinen Jungs am Fluss abzuhängen.“
„Tja, also nein, geht natürlich heute nicht, am Fluss.“ Es war Adam überdeutlich anzuhören gewsen, dass er in geradezu panischer Eile nachdachte, während er Stella zögerlich antwortete.
„Also“, hatte sie nachgehakt, „was ist dann mit heute Abend?“
„Ich..., eigentlich wollte ich ja, also ich kann nicht.“
„Adam...“ Stellas Stimme war wieder ins Bedrohliche geschwollen.
„Na ja, also nicht wegen der Jungs, ich wollte aber...“
„Mich eben doch wieder abblitzen lassen. Okay, doof von mir. Wenn du’s halt nicht nötig hast.“
„Aber ich wollte doch nur...“
„Ach, leck mich!“ Stella hatte aufgelegt.
Eigentlich hätte Adam erleichtert sein müssen, das Gespräch mit Stella überstanden zu haben, aber das war er nicht. Natürlich war ihm das Telefonat unangenehm gewesen, aber vor allem deshalb, weil er wirklich vollkommen überrascht davon war. Er hatte bestimmt nichts gegen Stella. Sie war ein wirklich lustiges Mädchen, noch dazu mit einer tollen, samtenen Telefonstimme begabt. Es gab überhaupt keinen Grund, ihr dermaßen die kalte Schulter zu zeigen, und das sah Adam auch völlig ein. Eigentlich, dachte sich Adam, wäre gar nichts dagegen einzuwenden, wenn er sich tatsächlich mit Stella träfe, einfach so, und unabhängig davon, dass sie Sandras beste Freundin war. Eine Verabredung mit Stella würde wenigstens bestimmt nicht langweilig werden, ganz im Gegenteil. Nachdenklich war Adam eine Weile im Badezimmer dagestanden, das Handtuch immer noch ungeschickt um die Hüfte gewickelt, bis ihn schließlich gefroren hatte. Um sich abzutrocknen und anzuziehen, hatte er das Handy beiseitegelegte, und damit auch den Entschluss, Stella zurückzurufen, sich bei ihr zu entschuldigen und sich mit ihr für den Abend zu verabreden. Er hatte es einfach vergessen.
Auch am Sonntag, dem Tag danach, hatte er sich noch nicht an seine Idee erinnert, von sich aus auf Stella zuzugehen, ebenso wenig am Montag. Und so wäre es bei einer netten Idee geblieben, hätte nicht am späten Dienstagvormittag, am Tag vor dem Unfall, sein Handy mit dem neuen, noch penetranter gutgelaunten Klingelton losgeplärrt. Adam sah, dass es Stella war, und in diesem Augenblick war ihm klar, dass er seine bisherigen Patzer alle wieder gutmachen wollte. Ganz euphorisch nahm er das Gespräch an und redete sofort drauflos:
„Hallo Stella, Mensch, das ist ja prima, ich wollte dich gerade anrufen, das ist wie gesagt echt schön. Ich bin ja hier jetzt noch bei der Arbeit, aber nein, nein, ich habe gerade nicht so viel zu tun, kann gut ein bisschen quatschen, also auch länger. Wie geht’s dir denn so? Ist ja echt schade, dass das Wetter nicht besser wird, aber man kann ja auch so noch was unternehmen. Ich hätte richtig Lust darauf, heute Abend mit dir was trinken zu gehen, was meinst du, wir können uns eigentlich am besten sogar im ‚Brauhaus’ treffen, da kann man jetzt auch super lecker essen, hab ich gehört, ich lad dich natürlich ein, geht das so um halb acht bei dir, fände ich echt toll.“
Jetzt war es Stella, die nicht sofort antwortete. „Wow“, sagte sie dann, „was haben sie dir denn für Pillen gegeben?“
„Ääh, wie? Ich wollte nur fragen, ob wir uns heute Abend vielleicht so um halb acht treffen wollen, ich könnte auch schon früher, wenn du magst. Wir müssen auch nicht ins ‚Brauhaus’, wir können auch woanders was essen, oder auch gar nichts essen und nur was trinken gehen, oder vielleicht einen 3D-Film schauen, ganz wie du willst.“
„Ja, ja, ist ja schon gut, Hauptsache das Zeug wirkt bei dir. Vielen Dank jedenfalls für die Einladung, aber als großes Mädchen kann ich mich schon selber durchschlagen. Halb acht ist gut, wir sehen uns dann im Brauhaus.“
„Ja toll, prima, freu mich drauf, bis dann.“
„Hm, bis dann.“
Überpünktlich um kurz vor halb acht kam Stella ins Brauhaus, ein für ihren Geschmack etwas zu großes und etwas zu trendiges Restaurant mitten in der Innenstadt von Kys, in dem den überwiegend jungen und möglichst flotten Gästen eine Mischung aus gestandener Gemütlichkeit und innovativer Kreativität vorgetäuscht wird. Die in dem hallenartig großen Innenraum zum Teil sichtbaren Braugerätschaften sind allesamt Attrappen. Das ausgeschenkte Reisbier wird natürlich in einer großen Fabrik vor der Stadt hergestellt und lediglich zur Schau aus Zapfhähnen entnommen, die aus einem dekorativen Bierfass herausragen, in Wirklichkeit aber mit einem Schlauch verbunden sind, der durch das ansonsten völlig leer Fass hindurchführt. Und die Bedienungen sind auch keine wachechten Kyser, sondern gut geschultes auswärtiges Personal, das auf einen effizienten und vor allem schnellen Umsatz mit Speisen und Getränken genauso gut geschult ist, wie auf einen halbwegs authentischen kumpelhaften Ton, mit dem sich ein wenig ortstypisches Flair synthetisieren lässt. Aber dem zahlungskräftigen und im Durchschnitt recht jungen Publikum gefällt es. Das Brauhaus ist an jedem Abend, auch unter der Woche, gut gefüllt, es herrscht ein trubeliges Kommen und Gehen.
Vielleicht nicht der glücklichste Ort für eine erste Verabredung, aber Stella hatte nicht schon wieder meckern wollen. Sie hatte sich zu sehr darüber gefreut, dass Adam zum ersten Mal mehr als nur ein, zwei knappe Sätze am Stück herausgepresst und sogar von sich aus eine Verabredung vorgeschlagen hatte. Jetzt suchte sie mit sicherem Blick einen kleinen Tisch aus, bei dem niemand auf die Idee kommen würde, sich dazu zu setzen, der etwas abseits von der Menge stand aber doch mit unverstellbar gutem Blickfeld auf die Tür. Dass Adam nicht schon vor ihr da sein würde, hatte sie erwartet und sich dessen durch einen schnellen Rundblick noch einmal vergewissert.
Sie setzt sich hin und wartete. Was erwartete sie von dieser ersten Verabredung? Sie hätte es selber nicht sagen können. Es hatte sie gefreut, dass Adam nach dem reichlich verunglückten Telefonat am Samstag so überraschend doch noch die Initiative ergriffen hatte, aber sie hatte keine konkreten Erwartungen an den Abend. Näher kennen lernen wollte sie ihn, diesen außergewöhnlichen Typ Jungen, der zum Glück gar keinen Wert darauf legte, sie als tollen Kerl zu beeindrucken, und dessen Schüchternheit ihr als Hinweis auf ein kluges und einfühlsames Wesen erschien. Vielleicht endlich einmal jemand aus ihrer Generation, der nicht immer nur in allem mitmachen und es im ständigen Wettbewerb zu den angeblichen Freunden und „Kumpels“ überall besser machen wollte; sondern einer, der bereit war, selber nachzudenken. „Ein außergewöhnlicher Typ jedenfalls“, dachte sie. Es war schon bald viertel vor acht, von Adam keine Spur. Hoffentlich hatte er nicht vor lauter Nachdenklichkeit die Verabredung vergessen, dachte sie mit einem inneren Seufzer und holte ihr Digitalpapier heraus, das sie, sicher ist sicher, in ihre Handtasche gerollt hatte.
Sie rief aus dem Netz die „Paneupinischen Tagesnachrichten“ auf, bei denen sie ein günstiges Studentenabo hatte. Den üblichen Aufmachern vorangestellt war ein ausführlicher Artikel unter einer Schlagzeile in leuchtend roten und noch dazu animierten, blinkenden Lettern: „Schwerer Anschlag auf Zentrales Regierungsamt verhindert. Secuforce: Wir haben Hunderten das Leben gerettet.“ So eine Nachricht war nicht alltäglich, aber im Leben der Kyser auch noch keine riesenhafte Sensation. Meldungen von gerade noch abgewendeten terroristischen Anschlägen, die viele Opfer gekostet hätten, gab es mehrere in jedem Jahr, und sie beherrschten dann jeweils für einige Tage die Medien. In der Berichterstattung schienen die Journalisten dabei größte Mühe auf die höchst drastische Schilderung dessen zu legen, was bei dem verhinderten Anschlag alles hätte passieren können, wäre er denn nicht verhindert worden. Das bewegte sich zwar allenthalben im Bereich freier Spekulation, um nicht zu sagen blutrünstiger Fantasie, aber das störte die Leser, Zuschauer und Online-Nutzer offenbar wenig. Solche Berichte fanden große Verbreitung und ein garantiert vielfach höheres Interesse als alle noch so klugen Analysen über die Arbeit der Regierung oder des Parlaments. Freilich brachten die Menschen in Kys, in der ganzen Paneupinia und wohl auch in allen anderen Kuppeln allen Belangen der Regierung ohnehin niemals mehr als ein der Höflichkeit gebotenes Mindestmaß an förmlichem Interesse entgegen. Die Lust an der schauerlichen Sensation, die ein verhinderter Anschlag verbreiten konnte, kontrastierte mit dieser allgegenwärtigen politischen Indifferenz um so greller. Als ob die Menschen nicht selber imstande gewesen wären, sich Schauergeschichten auszumalen, wurde in den Medien dann also genüsslich durchdekliniert: In unmittelbarer Nähe, etwa zwei Straßenkreuzungen entfernt vom potentiellen Anschlagsort, befinde sich bekanntlich eine der größten Kinderschulen der Stadt. Und wenn jetzt, wie das um diese Jahreszeit ja durchaus üblich sei, die frisch eingeschulte Anfängerklasse einen Ausflug in den benachbarten Park gemacht hätte, dann hätte, ja, das wäre sehr gut möglich gewesen, der Fußweg der süßen kleinen ABC-Schützen an dem Gebäude vorbeiführen können, an dem die skrupellosen Terroristen den hochpotenten Hydrid-Sprengsatz hatten deponieren wollen. Und wenn die Schüler gerade im Augenblick der Detonation dort entlang gegangen wären, ja dann hätte es keine Überlebenschance für keines der goldigen Kinder gegeben, von denen die niedlichsten übrigens auf der Folgeseite zur besseren Information der Leser mit Foto und wichtigsten Eckdaten vorgestellt werden. Diese jungen unschuldigen Leben hätten die in namenloser Brutalität handelnden (oder wenigstens planenden) Verbrecher ausgelöscht (oder wenigstens auslöschen können). Wenn denn alles so gekommen wäre, wie es hätte kommen können.
Im Vergleich zur Schilderung möglicher Anschlagsfolgen – neben toten Kindern auch verstümmelte Krankenhauspatienten, in eingestürzten Hörsälen lebendig begrabenen Studenten oder schlicht durch herumfliegende Splitter in Stücke gerissene Kunden eines Einkaufszentrums – geriet die Berichterstattung über die Personen der verhinderten Attentäter stets sehr knapp, war beschränkt auf wenig informative Stereotype. Verbrecher waren es eben, kaltblütig planende Terroristen, die ihre fanatischen Ideen mit dem Anschlag hätten verfolgen wollen. Woher sie kamen, wer genau sie waren, und worin eigentlich die fanatische Idee bestand, um deretwillen sie zu vielfachen Mördern hatten werden wollen, das wurde nie ganz klar. Dass es verzweifelte Existenzen seien, gut, das gab eigentlich kaum einen Anhaltspunkt. Es bedurfte schließlich keiner geheimdienstlichen Kenntnisse um zu verstehen, dass nur eine eher verzweifelte Person bereit war, unzählige unbeteiligte Personen für eine bloße Idee in den Tod zu reißen. Zur Herkunft der Attentäter hieß es stets nur, sie stammten aus dieser oder jener Kuppel, selten war es die Paneupinia selber. War ein besonders schlimmer Anschlag verhindert worden, dann konnte auch einmal der mysteriöse Hinweis in den Medien auftauchen, die Attentäter hätten einer Gruppe von unzivilisierten Bewohnern der ländlichen Umgebung der Stadtgemeinde Kys oder anderer Städte angehört. In einer solchen Konstellation wurde dann regelmäßig auch noch eine Verbindung zu einem nicht näher bezeichneten Anführer einer aus eben dieser ländlichen Umgebung stammenden verbrecherischen Bande hergestellt, der zwar schon vor langer Zeit in strenge Haft genommen worden sei, dem seine verblendeten Anhänger aber weiterhin die Treue hielten und ihn zu befreien und zu rächen suchten.
Zu dieser Art der Berichterstattung gab es dann nur noch eine weitere Steigerung des Grauens, wenn nämlich tatsächlich einmal ein Anschlag passiert war, bei dem tatsächlich Menschen starben, und zwar nicht zu hunderte, aber doch um ein Dutzend Opfer zu beklagen waren. Das passierte weitaus seltener, etwa fünf bis zehn Jahre lagen zwischen solchen tatsächlich verübten Anschlägen. Die Medien waren dann natürlich auf Wochen voll davon. Und bei jedem verhinderten Anschlag wurde auf einige der vergangenen ausgeführten und verhinderten Anschläge verwiesen und nochmals das schreckliche oder gerade noch verhinderte schreckliche Geschehen von damals journalistisch übersichtlich aufbereitet. Zur Mahnung, dass sich so etwas Furchtbares nicht wiederholen dürfe, und dass die entschlossen handelnden Wächter der inneren Sicherheit die volle Unterstützung aller Bürger bedürften.
Mit diesen Wächtern waren freilich keine staatlichen Organe gemeint. Wirklich polizeilich oder geheimdienstlich operierende staatliche Stellen gab es nicht. Auch das war vielmehr Aufgabe des wichtigsten Kooperationspartners der paneupinischen Regierung in allen Belangen der Sicherheit und Ordnung – also des Sicherheitskonzerns Secuforce. Nicht selten wurden mediale Berichte über verhinderte oder Rückblenden auf früher verübte Anschläge in Form von Augenzeugenerzählungen der an den Ermittlungen beteiligten Secuforce-Mitarbeiter aufgemacht. Vom einfachen Protektor auf Streife bis zum hochrangigen Sicherheitsexperten berichteten dann die langjährig erfahrenen Mitarbeiter von Secuforce über das harte aber ehrenvolle Geschäft mit der allgegenwärtigen Bedrohung. Die es abzuwenden gelte. Für deren Abwehr es einen verlässlichen Partner gebe: Secuforce.
Stella las den Hauptartikel über den geplanten Anschlag ebenso vollständig wie die vier vertiefenden ergänzenden Berichte und stellte fest, dass sie dem üblichen Schema der Berichterstattung folgten. Dieses Mal wäre um ein Haar die viel frequentierte Expressschweberstation im Bankenviertel getroffen worden. Und wo doch demnächst die große Bewerbermesse für Nachwuchs-Banker hätte stattfinden sollen, hätte es gut sein können, dass viele hoffnungsvolle und gutausgebildete Wirtschaftsexperten einen grausamen Tod hätten finden können, hier stellen wir einige der Spitzenabsolventen des letzten Jahrgangs vor, ihr junges Leben hätte vorbei sein können, und so weiter. Stella schaltete das Digitalpapier ab und sah auf die Uhr: fünf nach Acht. Jetzt hatte Adam sie also doch noch versetzt.
Sie schalt sich selber, wie sie so dämlich hatte sein können, sich auf Adam diesmal zu verlassen. Es musste ja nicht unbedingt böser Wille bei ihm sein, sie wie eine lästige kleine Schwester zu behandeln, der er entweder ausweichen oder sie ins Bockshorn jagen wollte. Vielleicht war er einfach nur ein noch ziemlich grüner Junge, der nur sich selbst und sein kleines lächerliches Leben kannte, das er ohne die geringste Rücksicht auf seine Zeit- und Altersgenossen lebte. Dann half es wohl nichts, als sich doch an ältere Jungs zu halten, solche, die schon reif genug waren und es verinnerlicht hatten, dass es nie schaden konnte, gegenüber einem hübschen jungen Mädchen vorsichtshalber immer höflich und zuvorkommend zu sein. Wie auch immer, der Abend war jetzt wohl gelaufen, und sie war bereit, ihn als schmerzliches Lehrgeld im Umgang mit scheinbar interessanten Menschen abzubuchen.
Gerade hatte sie ihren Barkodierer aus der Tasche geholt, um ihr schon vor einer halben Stunde bestelltes und längst ausgetrunkenes Reisbier elektronisch zu bezahlen, und dann zu gehen – als schließlich Adam doch noch ins Brauhaus stolperte. Unruhig suchte sein Blick die nun schon zahlreich besetzen Tische ab. Obwohl er keine zehn Schritte von ihr entfernt stand, schien er sie nicht entdecken zu können. Mit bitterer Bösartigkeit überlegte sie für einen Augenblick, ob sie ruhig sitzen bleiben und dann unbemerkt verschwinden sollte, während er nach ihr in einem anderen Teil des Brauhauses suchte. Verdient hätte der Trottel es eigentlich, und auf einen Abend mit ihm hatte sie jetzt ohnehin nur noch wenig Lust. Aber noch als sie diese Idee zu Ende dachte, ging ihr auf, dass damit für sie auch nichts gewonnen wäre. Adam war ein Trottel, klar, und er wusste einfach nicht – noch nicht – wie er sich gegenüber einem Mädchen mit einem offensichtlichen Interesse an ihm zu verhalten hatte. Doch hatte er beim Telefonat an diesem Morgen gezeigt, dass er nicht mehr nur einsilbig antworten und ihr ausweichen wollte. Immerhin hatte er dieses Treffen vorgeschlagen, zu dem er schließlich auch, mit reichlicher Verspätung zwar, aber immerhin, erschienen war. Wenn sie ihm jetzt heimlich entwischte, hätte sie zwar eine kleine Rache an ihm, aber er würde sich bestimmt wieder melden und eine neue Verabredung vorschlagen. Und sie konnte sich eigentlich nicht vorstellen, ihm das auszuschlagen. Da war es praktischer, ihren Ärger runterzuschlucken und zu versuchen das Beste aus dem Abend zu machen.
Adam schaute immer noch unruhig im Brauhaus umher, ohne Stella zu bemerken. Das wird nie was, dachte sie sich, und als er auch noch Anstalten machte, zur Treppe ins obere Geschoss zu gehen, stand sie vom Tisch auf, ging ihm hinterher und hielt ihn an der Schulter fest.
„Na, wieder mal nichts passendes im Kleiderschrank gefunden vor so einem wichtigen Date?“ fragte sie ihn, als er sich erschrocken zusammenfahrend umdrehte. So viel Spott musste dann doch sein.
„Ach, Stella, es tut mir leid, ich hab mich total verspätet, tut mir so leid, ich bin los, um mit dem Auto von meinem Vater zu kommen, aber dann habe ich erst im Parkhaus gemerkt, dass ich nicht die richtige Fahrzeugidentität dabei hatte, und dann bin ich schnell zum Expressschweber, aber das hat ewig gedauert, wegen der Sicherheitskontrollen mit dem Anschlag, tut mir echt leid.“
„Und dein Handy hast du wahrscheinlich ins Klo fallen lassen, du Komiker.“
„Mein Handy? Ach so, Mist, daran hab ich gar nicht gedacht, ich meine, ich dachte, ich schaff’s doch noch rechtzeitig.“
„Hat ja fast hingehauen. Wegen ’ner schäbigen kleinen halben Stunde muss man ja auch nicht gleich zum Telefon greifen, wenn man sich sicher ist, dass das Herzchen sowieso wartet.“
„Tut mir leid.“ Adam stand da wie ein ausgeschimpfter Schuljunge. Stella wusste nicht, dass nach der Bekanntgabe des verhinderten Anschlags die Secuforce tatsächlich zahlreiche Telefonnetze zeitweilig zur Sicherheit lahmgelegt hatte – eine Standardmaßnahme nach solchen Nachrichten, angeblich um Absprachen zwischen potentiellen weiteren Mitgliedern der jeweils entdeckten Gruppe zu verhindern. Auch Adams Telefon war davon in der letzten halben Stunde betroffen gewesen und funktionierte nun erst seit einigen Minuten wieder. Sie tat ihm also Unrecht, ohne es zu wissen, aber wie er so vor ihr stand, wollte sie ihn sowieso nicht länger anmotzen.
„Na ja, es is’ ja wie’s is’, hast Glück gehabt, ich wollte gerade gehen. Da drüben ist unser Tisch, na los, ich hab echt Hunger jetzt.“
Artig setzte Adam sich hin. Bevor er es sich bequem machte, sprang er sogar noch einmal in verlegener Eile auf, um Stella den Stuhl heran zu rücken.
„Zu freundlich, danke“ bemerkte sie mit halbem Spott.
„Du hast wohl schon ziemlich lange gewartet?“
„Ziemlich, danke der Nachfrage. Hat aber auch sein Gutes. Jetzt habe ich wenigstens anständigen Appetit, und ich weiß auch schon, was ich nehme, denn die Karte konnte ich ja in der Zwischenzeit auswendig lernen.“
„Ja, stimmt, tut mir leid, dass du noch nichts gegessen hast.“
„Einen knurrenden Magen muss man riskieren, wenn man pünktlich kommt und mit dem Futtern wartet, bis die Verabredung endlich da ist. Hast du schon eine Idee, was du willst?“
Adam hatte sich in seiner Verlegenheit nicht anders zu helfen gewusst, als schnell eine der auf dem Tisch liegenden Speisekarten zu studieren. Mit rotem Kopf versuchte er, so schnell wie möglich irgendetwas herauszusuchen, aber die Buchstaben tanzten vor seinen Augen und er nahm gar nicht wahr, was er da las.
„Das scheint mir übrigens die Kinderkarte zu sein“, hörte er Stella da sagen. „Eine echte Empfehlung des Hauses für unsere lieben Kleinen ist wohl ‚Silly und Philly’, zwei Bockwürstchen mit mildem Senf und Kartoffelbrei. Wäre das was für dich, hm?“
Adam senkte die Karte zum Zeichen, dass er sich geschlagen gab. „Wohl kaum. Ich nehme einfach, was du nimmst.“
„Alles klar“. Mit erfolgsgewöhnter Geste winkte sie einen Kellner heran, bei dem sie zwei Holzfällersteaks mit extra viel Pommes und zwei große Reisbier bestellte. Das Bier kam nach wenigen Augenblicken, die beiden prosteten sich zu und es entspann sich so etwas wie eine Unterhaltung. Stella musste zwar das Konversationsthema vorgeben – zum Glück interessierte sie sich wirklich für die Squit-Liga – aber immerhin wurde Adam wieder zusehends selbstsicherer. In der Schilderung seiner eigenen Leidenschaft fürs Squitten wagte er sogar einen kleinen Scherz auf seine eigenen Kosten, über den Stella tatsächlich ein wenig lachen konnte. Das Essen kam, zwei gewaltig große Teller mit je einem in rotbrauner Soße dampfenden Steak und einem Berg knuspriger Pommes. Stellas Stimmung machte Sprünge nach oben. Auch Adam freute sich sichtlich, er rieb sich die Hände wie ein Kind vor der Bescherung, lobte Stellas Menüwahl „das sieht ja wirklich nach einem richtig leckeren Jungs-Essen aus“ und griff betont schwungvoll nach Messer und Gabel, um seinen großen Appetit zum Ausdruck zu bringen. „Guten Appetit!“ wünschte er noch, und da passierte es auch schon. In dem Schwung, mit dem er das Besteck in weitem Bogen zu seinem Teller führen wollte, blieb er irgendwie – wie genau wird für immer sein Künstlergeheimnis bleiben – an seinem zu drei Vierteln vollen Bierhumpen hängen. Der schwere Glaskrug folgte gehorsam der Schwerkraft, kippte nach vorne, also in Stellas Richtung, und ergoss seinen Inhalt in gerechten Teilen über den Tisch, Stellas Hosen und auf Stellas Pommes. Da half ihr auch kein noch so fester Wille zur guten Laune mehr.
„Verdammte Scheiße, pass doch auf, du Idiot“ entfuhr es ihr, als sie vom Tisch aufsprang. Das und der laut polternde Aufprall ihres umkippenden Stuhls garantierten die Aufmerksamkeit der umsitzenden Restaurantgäste. Für eine Sekunde war Adam der festen Überzeugung, in einem Albtraum gelandet zu sein. Auch das noch! Stellas Hose, die sogar er als zwar nicht protziges aber auch bestimmt nicht billiges Stück Markenware erkannte, troff vor klebrigem Reisbier. Der Tisch sah aus wie ein Schlachtfeld nach einem Kindergeburtstag. Die Pommes auf Stellas Teller waren ebenfalls mit Reisbier getränkt und hatten sich aus einem knusprigen Genuss in eine pappige, an den Rändern in Auflösung übergehende Masse verwandelt. Der herbeieilende Kellner wischte die Lache vom Tisch, nicht ohne ein paar gezielte Spritzer in Richtung Adam zu lenken, brachte die Karten in Sicherheit und erkundigte sich in unüberhörbar gespielter Anteilnahme, ob es denn ginge.
„Ja, es geht“ zischte Stella mit dem denkbar schärfsten aller S-Laute. Es wollte fast den Anschein haben, als würde sie auf der Stelle gehen. Dann hob sie aber doch mit ein paar unverständlich gemurmelten Flüchen ihren Stuhl auf, was wohl nicht in den Zuständigkeitsbereich des wieder verschwundenen Kellners fiel, setzte sich hin und säbelte mit grimmiger Entschlossenheit auf ihr Steak ein. Adam versuchte es noch mit einer schüchternen, in fiepsiger Stimme vorgetragenen Frage, ob sie vielleicht von seinen Pommes...? Das beantwortete sie nur mit einem tiefen Brummen und säbelte weiter, ohne Adam eines Blickes zu würdigen.
Schweigend aßen die beiden. Stella verzehrte in beängstigender Geschwindigkeit ihr Steak, ohne die Pommes-Trümmer auch nur anzurühren. Adam stocherte schüchtern auf seinem Teller herum, das Steak war wirklich lecker und die Pommes, obwohl jetzt schon ein wenig kalt geworden, ausgesprochen sagenhaft. Leider, denn das musste er jetzt ja wohl tunlichst für sich behalten. Als Stella das Steak aufgegessen hatte und den Teller von sich schob, legte auch er das Besteck beiseite. Er sah sie an in der Hoffnung, die ganze Katastrophe doch noch gutmachen zu können. Sie starrte mit finster zusammengezogenen Augenbrauen auf einen unbestimmten Punkt hinter ihm. Schließlich holte sie tief Luft und wandte ihm den Blick zu.
„Und sonst?“ fragte sie fauchend.
„Wie... sonst?“
„Hat’s dir jetzt neben dem Appetit auch mal wieder die Sprache verschlagen.“
„Ich..., ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll.“
„Egal, sag irgendwas, kann ja nur noch aufwärts gehen. Isst du das noch?“ Sie deutete auf seine noch zu einem erklecklichen Anteil auf dem Teller liegenden Pommes. Er schüttelte mit resigniertem Gesicht den Kopf.
„Leider schon kalt“, konstatierte sie verbittert, nachdem sie sich zwei, drei Pommes geangelt hatte. „Also, ich höre?“
„Hm?“
„Konversation bitte, Mister Bombenstimmung.“
Es war ein kleines Wunder, dass es Adam wirklich gelang, dieser Aufforderung mit einigem Erfolg nachzukommen. Mit gutem Gespür begann er mit einer halb sachlichen, halb amüsanten Schilderung des Auto-Ticks seines Vaters, der sich alle zwei Jahre einen neuen Wagen zulegte und dabei immer ängstlich darauf bedacht war, sich ein möglichst fortschrittliches Modell an Land zu ziehen und gleichzeitig ein gutes Geschäft beim Kauf des neuen und Verkauf des alten Autos zu machen. Leider nicht selten mit dem Erfolg, dass er viel Zeit in Werkstätten verbrachte, um den neuen Wagen wieder fahrtüchtig zu machen, während er sich über den völlig überzogenen Preis ärgerte. Dann brachte Adam das Gespräch in gar nicht langweiliger oder altkluger Weise auf die Meldung des Tages, den verhinderten Anschlag, und er schaffte es an diesem Punkt sogar, Stella einige kurze Antworten und Stellungnahmen abzuringen. Schließlich landeten sie bei einem Thema, das sie beide wirklich sehr interessierte, nämlich dem Freundeskreis des jeweils anderen. Adam stellte die Jungs vor, die Stella damals am Flussufer angetroffen hatte, allen voran Carlo Feinman als seinen ältesten und besten Freund. Mit ihm hatte er die Schule von der ersten Klasse an besucht, aber während Carlo nach dem Schulabschluss zielstrebig studierte und den allseits sehr begehrten Titel eines Ökonomischen Rats anstrebte, dümpelte Adam selber in einer ziel- und endlosen freiwilligen Dienstzeit beim Regierungsamt vor sich hin. Adam räumte von selber ein, dass Carlo ihm nicht nur ein guter Freund, sondern auch ein Vorbild war, vielleicht das einzige, jedenfalls in Fragen der verantwortungsvollen Lebensführung. Auch die anderen Jungs der Clique stellte er vor, Gregor und Sammy, Pablo und Tom, Robert und Paul, auch den eher schrecklichen Frank Fahrenheit und noch ein paar andere.
Über mich verlor er wohl auch ein paar Worte: „Tja, und Oskar, Oskar Cramer, den kenne ich eigentlich gar nicht so gut. Er studiert zusammen mit Carlo, ist aber noch nicht für den Abschluss zum Ökonomischen Rat eingeschrieben. Der ist längst nicht so... so zielgerichtet wie Carlo, dabei bestimmt nicht doof. Aber solange er nicht genau weiß, was er will, wird er sich auch nicht die Mühe machen, alles zu wollen, was er kann. Eine ziemlich unsinnige Charakterisierung für jemanden, den man eigentlich mag, oder?“
„Gar nicht“, antwortete Stella, „und vielleicht magst du ihn, weil er euch darin ähnelt?“
„Wer weiß, vielleicht ist das so.“
Das Gespräch floss angenehm weiter und wandte sich jetzt Stellas Freundinnen und Bekannten zu. Mit zunehmender Erleichterung darüber, Stella noch einmal besänftig zu haben, konnte sich Adam wieder ein wenig entspannen und deshalb, und weil die beiden nun am Ende des zweiten Humpens Reisbier angekommen waren, nahm er ihre Schilderungen nur bruchstückhaft auf. Plötzlich war er wieder hellwach und aufmerksam, als Stella anfing, etwas über Sandra zu erzählen.
„Ich weiß, dein Kumpel Oscar hält nicht besonders viel von ihr, aber sie ist ein besonderes Mädchen, das ist nicht nur so dahergesagt. Ich kenne niemanden, der sich so sehr gegen alle Zweifel ihrer Umgebung durchsetzen muss. Sie hat das Pech, sich immer mit solchen Menschen einzulassen, die sie für nicht sonderlich begabt und eigentlich ein bisschen beschränkt halten. Das war schon bei ihren Eltern so und das hat sich bis hin zu Freddy fortgesetzt. Der hat ihr, ich weiß nicht wie lange, eingeredet, sie könne froh sein, einen Job als Verkäuferin bekommen zu haben, aber dann hat sie sich zum Glück doch noch zur Fotografenausbildung aufraffen können. Okay, ein bisschen nachgeholfen habe ich dabei auch, aber die größte Aufgabe war es, auch Freddy davon zu überzeugen, und das hat sie wirklich ganz alleine geschafft.“
Außerdem erfuhr Adam, dass Sandra früher alles andere als zickig gewesen war, sich das aber angewöhnt hatte als Methode, die Menschen in ihrer Umgebung mit ihren ständigen Bedenken und Einwendungen gegen ihre eigenen Pläne auf Abstand zu halten. Dass sie, wenn man sie nur ließ und ihr mit der nötigen Aufmerksamkeit begegnete, so verlässlich und loyal war, wie man es sich von einer guten Freundin nur wünschen konnte. Dass sie zwar mit Freddy nicht gerade den traumhaftesten aller Männer ausgewählt hatte, jetzt aber schon seit langer Zeit zu ihm hielt, auch wenn er, wie leider nicht gerade selten, schwierig war. Und schließlich, dass Sandra bei weitem nicht so oberflächlich war, wie sie wirkte, auch das sei nur eine Masche, um sich das Interesse Anderer an ihrer Person und damit deren Einmischung in ihr Leben vom Leib zu halten.
Er hatte sich das mit wachsendem Interesse angehört und Stella allein durch rhetorische Zwischenfragen dazu ermutigt, weiter zu erzählen. Dann merkte Stella an, die Szene am Flussufer sei eigentlich recht typisch für Sandra gewesen: erst habe sie Freddy so lange angezickt, bis er sie und Stella für ein paar Momente allein und in Ruhe gelassen hätte, dann aber, nachdem Freddy gegenüber den beiden plötzlich aufgetauchten Jungs rabiat zu werden drohte – „Superauftritt übrigens, ich weiß bis jetzt nicht, ob ich dich eher dämlich oder eher sehr mutig finden sollte“ –, dann habe Sandra wieder einmal beschwichtigend eingegriffen und Freddy vor üblen Scherereien, womöglich sogar vor Ärger mit den Secuforce-Aufsehern am Standbad bewahrt. Bei dieser Bemerkung vergaß Adam, gebannt von der geschilderten Persönlichkeit Sandras, die immer noch gebotene diplomatische Vorsicht Stella gegenüber.
„Hat sie... hat sie denn nochmal nach mir gefragt?“ erkundigte er sich.
„Wie bitte?“
„An dem Tag oder später, ich meine, du bist ja dann noch zu uns rübergekommen und hast mit mir gesprochen, vielleicht habt ihr darüber gesprochen und sie hat dich nach mir gefragt.“
Oh, Adam, ich will dir zugute halten, dass der Abend schon aufregend genug und das Reisbier ein wenig zu schnell konsumiert war.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst“. Stella starrte ihn an, dann einen unbestimmten Punkt hinter ihm, schließlich wieder ihn. „Adam, ich weiß nicht wofür du dich hältst, oder was du meinst, was ich hier tue. Zugehört hast du mir ja wohl, jedenfalls sobald es um Sandra ging, und die ist wie gesagt ein gar nicht blödes und völlig selbständiges Mädchen. Sie hat es bestimmt nicht nötig, mich auf dich anzusetzen, um dich anzulocken – und ich würde mich bestimmt nicht dazu hergeben. Schon gar nicht bei so einem... Trottel wie dir. Entschuldige, ich kann es nicht anders sagen. Oder, nein, entschuldige meinetwegen nicht. Kapierst du nicht, dass es mich nicht wenig Überwindung gekostet hat, überhaupt noch mit dir sitzen zu bleiben, und dass es vielleicht mit mir selber zu tun haben könnte, wenn ich es trotzdem getan habe? Kannst du dir das vorstellen? Nein? Ach, es ist mir auch egal, ob du es überhaupt für nötig hältst, dir über was anderes als über deinen eigenen Kram Gedanken zu machen, es ist mir echt egal. Und du bist es mir auch.“
Sie stand auf. Sie nahm ihre Jacke und ging zum Tresen am Ausgang. Sie zahlte und verschwand. Adam blieb sitzen.
Es hatte ihm, sobald sie weg war, viel mehr wehgetan, als er es vorher hatte ahnen können. Betäubt war er nach Hause getrottet, hatte kaum geschlafen und über Stella nachgedacht. Und über Sandra. Ob er wirklich nicht willens oder nicht in der Lage war, anderer Menschen Anliegen ernst zu nehmen. Nach wenigem und unruhigem Schlaf war er am nächsten Morgen zu spät aus dem Bett gekommen, aus der Wohnung ins Parkhaus und zu seinem Auto gelaufen und losgefahren, immer noch, oder besser gesagt schon wieder in einem tiefen, grübelnden Gedankengeflecht verwoben. Dass es regnete und er ein wenig zu flott unterwegs war, merkte er erst, als der Wagen ins Schleudern geriet und unaufhaltsam auf den Zeitungsstand zu schlitterte. Dann hatte es gekracht.
Der Streifenführer der Secuforce hat die Inspektion von Adams Papieren endlich abgeschlossen, scheint aber immer noch nicht schlüssig, gegen wen der beiden Beteiligten sich sein quasi-amtlicher Zorn richten sollte. Die Entscheidungsphase überbrückt er mit ein wenig bewährtem Protektoren-Sarkasmus.
„Was passiert ist, wollen der junge Herr wissen? Mit Vollgas haben Sie die Zeitungsbude über den Haufen gemangelt. Der alte Schmierlappen ist am Ende seiner Nerven. Und wenn er Sie drankriegt auch noch finanziell saniert. Das ist passiert.“
Kopfschüttelnd schaut er sich die Kratzer an Adams Auto an.
„Halten nichts aus, diese Billig-Karren. War doch nur so eine Art Penner-Hütte, die Sie da erwischt haben. Der Lackschaden ist bestimmt doppelt so viel wert wie die ganze Bude samt Inventar. Pech muss man haben.“
In diesem Moment entfährt dem anderen Protektor, der die Daten der Unfallbeteiligten mit seinem Handcomputer überprüft, ein triumphierendes „Ha!“. Den Handcomputer wie einen Knüppel schwenkend marschiert er auf den Zeitungsverkäufer zu.
„Hab’ ich es mir doch gedacht. Jetzt bist du dran, Alterchen, das hab ich ja so gern wie’s Zahnweh. Mannomann, das wird ’ne teuere Nummer für dich!“
„Was gibt’s?“ fragt der Streifenführer seinen Kameraden.
„Da hatte ich doch gleich so einen Riecher“, entgegnet der angriffslustig. „Ich hab da drüben schon vor ein paar Tagen einen fliegenden Obsthändler ausgehoben, der hier gar nichts zu suchen hat. Und der Zeitungsfritze hat natürlich auch keine Lizenz, hier seine Bude hinzuzimmern.“
„Wie – was?“ stammelt der Zeitungsverkäufer entgeistert.
Der Streifenführer wirft einen kundigen Blick auf den Handcomputer, dann übernimmt er den Rest des Anschnauzens.
„Tun Sie mal nicht so unschuldig. Ihre Lizenz ist auf die Fußgängerzone beschränkt und auf Bereiche mit alleenhafter Ausführung des Bürgersteigs. An so einer Straße dürfen sie überhaupt nicht stehen, und an so einer wahnsinnig gefährlichen Einmündung schon dreimal nicht. Sie sind ja gemeingefährlich, wenn Sie sich hier hinstellen. Stellen Sie sich nur vor, was passiert wäre, wenn hier ein paar Schulkinder Malhefte gekauft hätten, und dann wäre ein schwerer Laster rausgerutscht, da hätten unschuldige Kinder dran sein können.“
„Ich – ich verkaufe doch gar keine Malhefte...“
„Ihre verdammten, schmierigen Ausreden können Sie von mir aus den Eltern erzählen, deren kleine Kinder Sie hier in Lebensgefahr gebracht haben, Sie rücksichtsloser Pfennigfuchser!“
„Aber es ist doch nichts passiert, zum Glück.“ Der Zeitungsverkäufer ist den Tränen nahe, jetzt aber echten, keinen gespielten Tränen.
„Nichts passiert? Da kann ich Sie beruhigen, jetzt passiert hier aber was, da können Sie einen drauf lassen. Das ist eine Straftat, die Sie hier begangen haben, das kostet Sie die Lizenz. Und wenn wir mit Ihnen fertig sind, kriegen Sie Post von der Versicherung, die holt sich den Schadensersatz von Ihnen wieder.“
Damit macht der Streifenführer kehrt und gibt Adam seine Papiere wieder.
„So, das wär’s, bitteschön. Fahren Sie weiter.“
„Aber was ist denn mit dem alten Mann?“
„Ach so, wollen Sie ihn wegen Beleidigung anzeigen? Das können wir hier natürlich auch gleich aufnehmen.“
„Nein, nein“, beschwichtigt Adam, „es tut mir ja leid, dass ich seinen Stand kaputtgemacht habe.“
„Braucht Ihnen nicht leid zu tun, der Kerl hat hier nichts zu suchen und ist damit Unfallverursacher. Aber keine Sorge, dass er sich hier in strafbarer Weise aufgebaut hat, muss Sie nicht bekümmern. Eine gültige Berufshaftpflichtversicherung hat er natürlich, die wird den Schaden an Ihrem Wagen umgehend begleichen. Der Alte muss dann natürlich bluten, die holen sich schließlich das Geld von ihm wieder, aber bis dahin haben Sie ihren Schadensersatz schon längst ausgezahlt bekommen. Kleiner Tipp: kaufen Sie sich ein anständiges Auto davon.“
„Nein, ich will ja..., kann ich denn nichts für ihn tun?“
Der Streifenführer wird wieder sehr amtlich.
„Sehen Sie zu, dass Sie jetzt mal was flott für mich tun. Räumen Sie umgehend den Unfallort, um-ge-hend, verstanden?“
Adam hat genug wirkliche Katastrophen für den Rest der Woche erlebt. Er steigt ein, setzt zurück und fährt davon.