Читать книгу Adam Bocca im Wald der Rätsel - Tilmann A. Büttner - Страница 8
Die Stadt bei den Flüssen, 4. Kapitel
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Das Schöne am Sommer ist die im Gegensatz zum Herbst immer berechtigte Hoffnung auf besseres und wärmeres Wetter. Auch der hoffnungsloseste graue Tag mitten im Sommer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er früher oder später von Sonnenschein aus dem Gedächtnis vertrieben wird. Und dann ist das Leben wieder ein ganz anderes.
Den restlichen Mittwoch hatte Adam in ständigen Grübeleien verbracht. Der Zeitungsverkäufer tat ihm leid, Stella tat ihm auch leid, und Sandra natürlich. Er hätte sich bei Stella entschuldigen müssen, nein, eigentlich erst beim Zeitungsverkäufer, oder doch zuerst bei Sandra? Nein, richtig, die konnte er ja gar nicht erreichen, genauso wenig wie den Zeitungsverkäufer, der noch niemals zuvor an dieser Stelle gestanden und den er auch sonst noch nie in der Stadt gesehen hatte. Ineinander greifend kreisten die Gedanken in Adams müdem Kopf. Gegen Mittag hatte er kein Dutzend Zuschriften einsortiert, dafür gähnte er um so gründlicher, als sein Vorgesetzter bei ihm reinschaute.
„Jetzt gehen Sie mal schön nach Hause und schlafen Ihren Möchtegern-Studentenrausch aus.“ Adam sah seinen Vorgesetzten aus roten Augen verständnislos an. „Keine Angst, das bleibt unter uns, wenn jemand nach Ihnen fragt, fällt mir schon was ein von einem auswärtigen Auftrag oder so. Hauen Sie schon ab.“
Wenigstens das war bei Adam richtig angekommen, mit unendlicher Mühe hatte er seine Sachen zusammengekramt und war nach einer halben Ewigkeit endlich nach Hause gefahren. Er schlief sofort auf seinem Sofa ein.
Donnerstag und Freitag verliefen erholsam eintönig, für Samstag Nachmittag war er zum Squitten mit der Clique verabredet, danach ging es auf ein Bierchen in ein Vergnügungszentrum. Das ist eine praktische Sache, an einem nasskalten Samstag im Sommer nachmittags mit dem Trinken im Vergnügungszentrum anzufangen, denn da muss man keinen Schritt nach draußen mehr tun, um in unzählige Kneipen, Bars und Bistros zu kommen. Aus dem einen Bierchen wurde eine fleißige Trinkerei, die bis in den späten Abend währte, dann beschlossen die Jungs, in eine Disco zu gehen. Sie riefen mich an, ich sollte gefälligst dazukommen, und obwohl ich keine echte Chance hatte, ihren Pegel aufzuholen, ließ ich mich nicht lange bitten. Der Laden, in dem ich zu den fröhlichen Zechern stieß, hatte nicht den besten Ruf. Da tanzten Mädels auf den Tischen, die das bestimmt nicht nur zu ihrem Vergnügen machten, und eigentlich wusste jeder, dass die Damen verbotener Weise Cyber-Sex-Coupons verkauften und dafür potentielle Kunden in Stimmung bringen wollten. Unsere Gruppe kümmerte sich gar nicht weiter darum, nur Carlo musste einem von den Hühnern natürlich imponieren und kaufte ihr einen Coupon ab, wofür sie artig und auch nur ganz kurz ihr Blüschen lüpfte. Dann ging es mit dem Trinken weiter, keine harten Sachen, so dass wir bis in den Morgen durchhalten konnten.
Der neue Tag begann kalt aber mit einem wolkenlosen Himmel. Als wir aus dem Vergnügungszentrum kamen, blieb Adam stehen und schaute in die aufgehende Sonne. Mir fiel das wegen meines immer noch nicht ausgeglichenen Alkoholrückstandes als einzigem auf. Ob er nicht mitkommen wollte zum Expressschweber fragte ich ihn, wir würden uns eine Sonderkabine nehmen. Er winkte ab, wollte zu Fuß nach Hause gehen, und so benebelt war ich immerhin, dass ich mir keine Gedanken darüber machte, wie lange er dafür wohl brauchen würde.
Es blieb sonnig an diesem Tag, und so wurde es auch wieder viel wärmer. Adam hatte bis zwei Uhr nachmittags ausgeschlafen, dann setzte er sich auf die Dachterrasse zu Frederik, seinem Vater. Die beiden bewohnten die großzügige und nobel eingerichtete Wohnung über zwei Etagen alleine. Eine ziemlich mondäne Männerwohngemeinschaft allerdings, die den Sonntag dementsprechend leger ausklingen ließ. Am Abend bestellten sie sich Pizza und Knoblauch-Wraps. Alles umgab Adam jetzt, da er ausgeschlafen und wieder nüchtern war, mit einer beruhigenden Klarheit. Mit seinem Vater tauschte er kein einziges spitzes Wort, sie unterhielten sich vertraut über Belangloses.
Die neue Woche ging sonnig weiter, das Gefühl gläserner Klarheit umgab ihn immer noch. Adam nahm früh genug ein vernünftiges Frühstück zu sich, allein allerdings, sein Vater war schon wieder auf Geschäftsreise aufgebrochen. Ohne einen Plan dazu gefasst zu haben, griff Adam sich sein Handy und wählte Stellas Nummer, die er schon längst gespeichert hatte. Die Mailbox meldete sich natürlich, das verunsicherte ihn nicht im Geringsten.
„Hallo Stella“, sprach er auf die Mailbox, „ich bin’s, Adam. Ich entschuldige mich aufrichtig bei dir für das, was letzten Dienstag passiert ist. Und nicht nur für das, was passiert ist, sondern dafür, wie dumm und unaufmerksam ich mich verhalten habe. Es hätte eine sehr schöne Verabredung werden können, an dir hat es bestimmt nicht gelegen. Und, glaube mir, obwohl ich mir alle Mühe gegeben habe, den Abend vollständig zu versauen, denke ich gerne daran, dich wiedergesehen zu haben. Es war toll, sich mit dir zu unterhalten. Ich würde es gerne wiedergutmachen. Wenn du mir so etwas Schwieriges zutraust, freue ich mich über eine Nachricht von dir.“ Mehr war eigentlich nicht zu sagen. „Und ansonsten natürlich auch. Aber natürlich bist du zu nichts verpflichtet. Mach’s gut. Tschüss.“
Er hatte sich noch während des Anrufs vorgenommen, von Stella wirklich keine Rückmeldung zu erwarten und sie aufrichtig zu nichts verpflichten zu wollen. Daran hielt er sich tapfer.
Immer sommerlicher ging die neue Woche voran, Stella meldete sich nicht. Adam überraschte seinen Vorgesetzten mit der Initiative, vielleicht doch einmal etwas Bedeutsameres zu tun, als immer nur Eingaben einzusortieren und abzulegen. Der Vorgesetzte hatte ihm umgehend eine neue Aufgabe gegeben und ihn in die Zielsetzung einer demnächst zu erstellenden Analyse von Kleinunternehmen eingewiesen. Seitdem las sich Adam fleißig in statistische Geschäftskennzahlen kleiner Unternehmer ein und versuchte sich darin, den Zahlen analytische Ansätze zu entlocken. An jedem Abend der Woche machte er Sport, Squitten, Magno-Squashen, Laufen, er schaute wirklich nicht auf sein Handy in Erwartung einer Nachricht von ihr. Am Freitagmittag ließ er das Telefon sogar in seinem Büro liegen, als er zum Essen ging. Nach der Pause sah er ihren Anruf auf dem Display, und dass sie ihm auf die Mailbox gesprochen hatte. Schlagartig gesellte sich zu seiner gelassenen Klarheit eine frohe Aufregung. Sie hat sich zurückgemeldet. Endlich! Ihre Nachricht war kurz:
„Adam, hallo, Stella hier. Du, hm, du wolltest etwas wiedergutmachen. Wie praktisch. Ich könnte nämlich deine Hilfe gebrauchen, ja. Ich sitze hier in der Pampa fest, in so einem Sporthotel, oder wie sich das nennt. Die anderen sind einfach abgedampft, und es ist ziemlich teuer, die Monobahn in die Stadt zurückzunehmen. Genau genommen fährt heute auch erst spät abends wieder eine, und ich wäre dann erst nachts da. Sei mal wieder ein netter Kerl und hol mich ab, ja? Ruf mich zurück, ich sag dir dann genau, wo ich bin.“
Da half ihm seine neu gewonnene Klarheit auch nicht viel weiter. Sie abholen? Aus einem Sporthotel irgendwo auf dem Land? Und dann mit ihr zurück in die Stadt fahren? Das war schon eine Menge, konnte aus der Ferne ja fast wie Freund und Freundin aussehen. Und sie würden viel Zeit haben, miteinander zu reden. Nicht zu vergessen die Gelegenheit, sich nicht nur mit schönen Worten, sondern auch durch eine echte Hilfe zu entschuldigen. Was gab es noch zu überlegen? Dass er überlegte, genau das gab ihm zu denken. Er hatte, seitdem er ihr auf die Mailbox gesprochen hatte, nicht mehr an Stella gedacht, wirklich nicht, an Sandra schon. Sandra und ihr Freddy, Sandra, die Zicke wider willen. Nichts zu machen, Junge, schlag sie dir aus dem Kopf. Aber wer wollte das schon befehlen und Gehorsam erwarten? Wenn er Stella jetzt diesen Gefallen tat, dann gab er endgültig zu, bei Sandra nichts gewinnen zu können. Dann würde er sich auf Stella einlassen müssen, sie würde ihn dann kaum mehr entwischen lassen.
Carlo musste helfen, ganz klar. Er rief ihn an, das war die oberste Nummer in seiner Anrufliste. Und selbstverständlich, alles andere wäre eine Überraschung gewesen, meldete sich sofort Carlos Mailbox.
„Carlo Feinmans Mailbox, hallo. Ich komme auf Ihre Nachricht sehr gerne zurück. Danke.“
„Carlo, du Penner, sieh zu, dass du rangehst, ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass diese dämliche Masche mit dem ‚Hey ich bin zu beschäftigt, um erreichbar zu sein‘ einfach nur nervt. Es ist dringend, superdringend, also beweg deinen Arsch. Ich zähle jetzt bis zwanzig, und wenn ich dich bis dahin nicht an der Leitung habe, hast du ein echtes Problem mit mir.“
Schon bei zwölf war Carlo dran.
„Adam, fleißiges Goldstückchen, wie kann ich dir helfen.“
„Klappe halten, zuhören. Stella hat mich gerade angerufen.“
„Respekt.“
„Ich sagte doch, erst mal Klappe halten.“ Adam schilderte ihm seine Lage und fragte, was er tun sollte.
„Mann, sei kein Idiot, fahr hin, aber flink.“
„Du weißt schon, dass ich Stella dann nicht so schnell wieder loswerde.“
„Und du weißt, dass du viel mehr als ein Idiot bist, wenn du sie wieder loswerden willst.“
„Ach, wenn du sie so toll findest, kannst du ja fahren.“
„Wenn ich keine anständige Beschäftigung hätte und so viel Zeit wie einige Herren Dienstleistende im Regierungsamt würde ich es auch sofort tun, Penner.“
„Selber Penner. Vielen Dank auf jeden Fall.“
„Gern geschehen. Grüß schön und hab Spaß.“
Nur eine gute Stunde später fuhr Adam aus der Innenstadt hinaus und den Stadtgrenzen entgegen. Gleich nach dem knappen Gespräch mit Carlo hatte er ebenso knapp mit Stella telefoniert. Sie hatte sich unüberhörbar über seinen Rückruf gefreut, ihm dann aber ganz sachlich beschrieben, wie er mit dem Auto am schnellsten zu dem Hotel käme, in dem sie auf ihn warten würde. Adam war überzeugt gewesen, dass er ohne weiteres seine seit dieser Woche eigentlich sehr ansprechende Arbeit unterbrechen und sofort würde aufbrechen können. Und tatsächlich: als er – mehr der Höflichkeit halber – zu seinem Vorgesetzten ging, um sich für den Freitagnachmittag abzumelden, hatte der ihm kaum Beachtung geschenkt. Der Vorgesetzte war an seinem Schreibtisch sitzend deutlich erschrocken, als Adam an die halboffene Tür geklopft hatte. Eine hastig in die Schreibtischschublade versenkte Schachtel hatte Adam auf den ersten Blick als Verpackung eines interaktiven Cyber-Sex-Zubehörsets identifizieren können. „Ja, ja, gehen Sie nur“, war er denn auch abgewimmelt worden, und „auf geht’s, junger Mann“ hatte der Vorgesetzte ihm noch hinterhergerufen. Adam hatte nicht recht gewusst, an wen genau sich diese Aufforderung richten sollte. Er hatte so schnell wie möglich ein paar Unterlagen zusammengepackt, um am Wochenende noch ein wenig daheim weiter zu arbeiten, und hatte dann schleunigst sein Auto aus dem Parkhaus seines Wohnhauses geholt.
Adam fuhr auf der Schnellstraße stadtauswärts durch den zunehmend dünneren Verkehr. Jetzt machte es ihm doch Freude, dass die Versicherung dieses armen Zeitungsverkäufers so schnell reagiert und das Auto in eine Partnerwerkstatt mitgenommen hatte, wo es so gründlich instand gesetzt wurde, dass es gepflegter als vor dem Unfall an diesem unseligen Regenmorgen aussah. Ein bisschen angeben wollte er mit seinem Auto – auch wenn es ihm von seinem Vater geschenkt worden war – vor Stella natürlich schon. Die Schnellstraße, auf die Adam ganz in der Nähe seiner Wohnung aufgefahren war, durchschnitt Kys der Länge nach und wurde gerne als wichtigster Verkehrsweg der Stadt angepriesen. Als sicher konnte gelten, dass kein Verkehrsweg so viele Autofahrer so viele Nerven kostete, zumal zu Stoßzeiten wie an einem Freitagnachmittag, wenn sich ein zäher Stau auf den zentrumsnahen Streckenabschnitten bildete. Die hatte Adam mit einigem Glück und nicht mehr als einem Mindestmaß an Warterei im Stau hinter sich gelassen, für den Rest der Strecke durfte er jetzt freie Fahrt erwarten. Aus der Stadt hinaus wollten nicht viele mit dem Auto fahren. Der ländliche Erholungsraum, wie alle Gebiete außerhalb der Städte offiziell genannt wurden, diente weder in der Paneupinia noch in den anderen Kuppeln dem Wohnen und Arbeiten. Das Land war alleine der Erholung vorbehalten und der damit verbundenen Tourismusbranche. Hinter den an den Stadträndern angesiedelten Nahrungsmittelfabriken endete der menschliche Siedlungsbereich, das Land war zwar kulturell erschlossen, siedeln durften die Bürger dort nicht, allein schon um der effizienten Flächennutzung unter der Kuppel willen. Ein Verbot freilich, das keiner zwangsweisen Durchsetzung bedurfte. Es erschien unvorstellbar, jemand könnte den Wunsch haben, nicht in der Stadt zu wohnen. Die Stadt bot alles, was es zum glücklichen und vor allem abwechslungsreichen Leben brauchte: lebenswerte Wohnlagen, nahe gelegene Arbeitsplätze, ein vielfältiges Angebot zum Einkaufen und Ausgehen, und für die Naturbeseelten selbstverständlich auch ausreichend schöne und gepflegte Parkanlagen, in denen Mensch, Tier und Pflanze sorgsam gehegt wurden.
Wer sich trotzdem nicht in der Stadt, sondern auf dem Land erholen wollte, konnte aus einem breiten Angebot touristischer Hotels und Herbergen wohnen. Wie alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens waren auch Erholung und Freizeit unter der Kuppel hervorragend organisiert. Das Unterhaltungsbedürfnis machte diesen Lebensbereich zu einem wirtschaftlich äußerst bedeutsamen Faktor. Staatlicher Reglementierung durch die Regierung bedurfte es schon deshalb nicht oder nur als minimaler Rahmenbedingung. Die großen Tourismuskonzerne unternahmen aus eigenem kaufmännischem Interesse ungeheure Anstrengungen, die der Erholung dienende ländliche Struktur aufrecht zu erhalten und hier und da behutsam auszubauen. Das umfasste zunächst Verkehrswege und Versorgung der auf dem Land gelegenen Unterkünfte, dann aber natürlich auch das, was den Reiz des Landes für die Menschen ausmachte, die sich nicht mit der Stadt begnügen wollten: die Pflege der nur scheinbar natürlichen Umgebung, der Wiesen und Wälder, Seen und malerischen Bäche und Flusslandschaften. Es rechnete sich offensichtlich, sonst wäre es nicht gemacht worden, und die Wellness-, Sport-, Event- und anderen unter ein kreatives Konzept gestellten Hotels erfreuten sich stetiger Beliebtheit.
Für Adam war das nichts. Die Stadt, seine Heimat und sein Lebensraum, bot ihm im Leben alles. Er hatte sie in seinem Leben genau dreimal verlassen. Es waren immer Ausflüge gewesen, an denen er hatte teilnehmen müssen, unbequeme Wandertage, in den höheren Klassen verbunden mit sterbenslangweiligen Übernachtungen in künstlich urtümlichen Herbergen. In diesem Sinne konnte die Stadt für Adam nicht einmal Heimat sein: wer kann eine Heimat haben, der eine Fremde nicht kennt, oder wenigstens erfolgreich ignoriert hat? Genau so, wie es zu seiner Daseinsbedingung des Lebendigseins, des frohen vor sich Hinlebens bei guter Gesundheit ohne die Spur materieller Not keine denkbare Alternative gab, war ihm nichts anderes als die Stadt vorstellbar als der physische Ort seiner Existenz. Welchen Reiz das Land, eine bloße Abwesenheit der hilfreichen städtischen Strukturen, haben könnte, erschloss sich ihm nicht. Allerdings interessierte sich kaum jemals einer seiner Altersgenossen für das Land, so dass auch keine Denkanstöße für etwaige Vorteile des Landes von ihnen zu erwarten waren. Was wohl Stella in dieses Sporthotel, auf der Schnellstraße eine gute Autostunde von Kys entfernt, verschlagen haben mochte? Sie hatte nichts weiter erklärt, ihm nur den Navigationscode und die Anschrift durchgegeben. Geleitetet von seinem Verkehrssystem brauste er ihr entgegen.
Lange zog sich die Straße durch die peripheren Gewerbe- und Industriebetriebe. Auf die wenig störenden Logistik- und Handelszentren folgten Kraftwerke und Fabriken, schließlich der äußerste Ring, die zahlreichen Nahrungsmittelproduktionen: Riesige computergemanagte Treibhäuser und Ställe, in denen Pflanzen und Tiere unter optimierten Bedingungen, so artgerecht und so schnell wie möglich heranwuchsen. Nicht so sehr Sonne, Luft und Wasser, sondern vor allem die reichlich aus den Fusionsreaktoren der Kraftwerke strömende elektrische Energie bildete die Basis der hoch entwickelten Nahrungsmittelproduktionen und damit die Lebensgrundlage für die Menschen der Stadt. Auf denkbar kleinstem Raum wuchsen die Pflanzen und Tiere heran, wurden zu weitgehend vollständig zubereiteten Speisen und Getränken weiterverarbeitet und fertig für den Transport bereitgestellt. Weil Waren und Arbeiter auf Monobahnen und Expressschwebern von und zu den Nahrungsmittelproduktionen gebracht wurden, bestand der Verkehr auf der hier nur noch vierspurigen Schnellstraße an dieser Stelle bereits ausschließlich aus den wenigen Fahrzeugen, die zwischen den touristischen Unterkünften und der Stadt verkehrten. Weil es für den Schwung neuer Wochenendausflügler noch zu früh am Freitagnachmittag war, fuhr Adam auf seiner Spur nahezu allein, vor und hinter ihm kein Auto, so schnell wie es das Verkehrssystem unter automatischer Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit eben zuließ – mit kleiner Zulage, jeder Junge mit ein bisschen Ahnung von Computern konnte da was drehen. Dabei blieb ihm viel Zeit, sich die vorbeirauschende Stadtperipherie genau anzuschauen.
Nicht nur, dass er zum ersten Mal freiwillig aufs Land fuhr, nein, zum ersten Mal war er neugierig auf eine Gegend, die außerhalb des Zentrums und der inneren Stadtbezirke von Kys lag, also jenseits seines Lebensraums, den er nur ganz selten verließ, wenn es sich etwa nicht vermeiden ließ, irgendetwas in einem im Gewerbegebiet gelegenen Handelszentrum zu erledigen. Die Nahrungsmittelproduktionen kannte er aus der Schule, hatte auch einmal im Netz darüber nachgelesen, in natura gesehen hatte er sie noch nie. Sie waren viel riesenhafter, als er sie sich anhand der Fotos und Darstellungen im Netz vorgestellt hatte. Hunderte von Metern lange Gebäudekomplexe aus schlichten Betonmauern, schmucklos aber in zurückhaltender Weise fröhlich und ansprechend, mit kräftigen Anstrichen in warmen, von grün und braun bestimmten Farbtönen. Darüber steil aufragende Glasdächer, mit Spezialscheiben zur Speicherung der Sonnenenergie, oder die flachen Kuppen der Stallungen, in denen Schweine, Rinder, Puten, Hühner als Hochleistungslieferanten für Fleisch, Milch und Eier gehalten wurden. Die Größe der Stadt konnte Adam am Ausmaß dieser Versorgungsquelle ihrer Einwohner besser begreifen als aus jeder Statistik. Nun führte die Straße hinab in eine letzte Einhausung vor der Stadtgrenze. Als Adams Wagen wieder an die Oberfläche gelangte, hatte er Kys hinter sich gelassen. Zur rechten noch einige Gebäude, die letzten Ausläufer der Zentralen Rinderzuchtanstalt, wie eine Leuchtschrift verriet, zur linken ging eine struppige, von schwarzen Erdflecken durchsetzte Weide in eine schilfbestandene Fläche über, aus der verloren Krüppelbäumchen ragten. Jetzt hatte auch auf der rechten Seite die Bebauung aufgehört wie abgeschnitten, mittelgroße Birken reihten sich zu einem unregelmäßigen Hain in fünf bis zehn parallel zur Fahrbahn verlaufenden Linien auf.
Ob Adam die in saftgrünem Laub stehenden Bäume mit ihrer leuchtend hellen Rinde als Birken erkannte? Das möchte ich bezweifeln. Doch er sah auch, was er nicht kannte und bestaunte es mit leiser Überraschung. So viele Bäume an einer Stelle, es kam ihm seltsam vor und gleichzeitig merkte er, wie albern so ein Gedanke war für einen Bewohner von Kys, der die schönen Parks der Stadt so gut kannte wie die Informationen aus dem Netz über die Wälder und Haine in der Nachbarschaft der Stadt. Die Birken standen zunehmend dichter. Aus fünf bis zehn Reihen mochten zwanzig oder mehr geworden sein, die andere Seite des lichten Wäldchens war nicht mehr auszumachen. Hell und freundlich stand es da, fremdartig aber einladend, kein erkennbarer Weg führte hindurch. Abrupt endete das Birkenwäldchen, auch auf der linken Seite lag wieder nur flache Weide, die als einzige Abwechslung wenige unregelmäßige Büsche trug.
Adam wählte aus dem Unterhaltungssystem eine beliebige betont rhythmische und fröhliche Platte aus, damit ihm die Fahrt nicht zu langweilig würde. Im Gewummere der Trommeln und Synthesizer wanderten seine Gedanken von der Neugierde über die Landschaft wieder zu Stella und der Überlegung, wie es ihr wohl hatte passieren können, auf dem Land in einem Sporthotel festzusitzen. Bald aber ertönte aus dem Verkehrssystem ein Hinweissignal, Adam blickte auf die kleine, in die mittlere Anzeige projizierte Straßenkarte: aha, er hatte das Ende der ausgebauten Schnellstraßenstrecke erreicht, hier ging die Straße in eine einfache zweispurige Strecke über, die Fahrtrichtungen nur durch Sicherheitshinweisgeber voneinander getrennt. Adam verlangsamte seine Fahrt, die Straße wurde nicht nur schmaler, sie führte jetzt auch in ersten sanften Kurven um Erhebungen, die sich ab hier aus der Ebene erhoben. Links von ihm erstreckte sich nun eine sanft geschwungene Hügelkette, mit dichtem Wald bestanden, der beinahe bis an die Fahrbahn heranragte und nur einen schmalen, mit schütterem Gras bestandenen Streifen zur Straße hin freiließ. Rechts führte ein kleiner Abhang hinunter zu einer Baureihe, hinter der Adam einen kleinen Bachlauf oder einen Fluss erkennen zu können meinte. Wald und Baumreihe wirkten auf ihn viel lebendiger als die Birken am Stadtrand, grüner und dichter stehend, fast mochte er zwischen den Bäumen kleine Tiere und Vögel huschen sehen. Der Wald zur linken ließ ein paar wenige Nadelbäume am Rand erkennen, die so etwas wie einen Vorhang zum Waldrand hin bildeten, unmittelbar dahinter begannen die dickstämmigen Laubbäume mit ihrem festen Geäst und ihrer dichten dunkelgrünen Laubkrone darüber. Aus dem fahrenden Auto konnte er ohnehin kaum einen Blick in den Wald hinein erhaschen, aber er sah doch, dass dort auch bei hellem Sonnenschein eine schimmernde Dunkelheit herrschte. Mit an die Sonne gewöhnten Augen hätte auch ein stehender Betrachter nichts im Wald erkennen können.
„Wie finster es dort ist“, dachte Adam, „nichts und niemand zu erkennen, auch wenn da wer nur ein Dutzend Schritte von der Straße entfernt stünde.“ Aber wer sollte denn da auch stehen? Wieder kamen ihm seine Gedankenflüchte albern, ja kindisch vor. Hier fuhr er in seinem Auto mit optimiertem Innenklima bei lauter Hitparadenmusik dahin, und da draußen war es eben das Land, nicht die Stadt, die ihn umgab. Und wenn schon, keine halbe Stunde Fahrt lag seit der Stadtgrenze hinter ihm, etwa in der Mitte zwischen der Stadt und seinem Ziel befand er sich gerade, also immer noch mitten in der zivilisierten Ordnung von Kys. Und doch, sind da nicht ganz bestimmt Tiere da draußen im Wald? Er hört und sieht sie nur nicht, das Licht ist hier auf der Straße zu hell und die Musik zu laut, um etwas im Wald wahrnehmen zu können, aber es ist bestimmt etwas dort. Vögel eben, die werden jetzt aufgeregt zwitschern, wenn so ein Autoelektromotor vorbeisurrt, kleine Tiere, die irgendwas nagen oder grasen oder so, vielleicht auch ein paar Wildschweine, obwohl die ja sehr scheu sein sollen. Oder sonst noch etwas? Oder jemand?
Die nächste Kurve setzte ein, diesmal rechts herum, mit deutlich engerem Radius als zuvor. Da hat es schon seine Berechtigung, wenn das Verkehrssystem runterbremst, man sieht ja nicht, was hinter der Kurve liegt. Der Wald stand noch dichter und höher, jetzt auch von rechts. Der Abhang zum Bach hinunter war einem weiteren Waldrand neben einem schmalen Standstreifen gewichen, er fuhr nun mitten hindurch. Höher und höher umstanden die Bäume nun die Straße, die vor ihm schmaler zu werden schien, eine Sinnestäuschung natürlich nur, das Verkehrssystem wusste es besser. Aber dunkler wurde es nun auch auf der Straße, automatisch schalteten sich die Autoleuchten und -scheinwerfer auf niedrigster Stufe ein, denn das Sonnenlicht schien zu schwinden. Die hohen Baumkronen schlossen sich tatsächlich zu einem Gewölbe aus Blättern und ineinander greifenden Zweigen über der Straße, die so durch einen lebenden Tunnel führte. Wenige Flecken auf der Fahrbahn zeugten von Lichtstrahlen, die den Weg durch das Laub gefunden hatten. Das Verkehrssystem warnte Adam prompt vor problematischen Lichtverhältnissen und schlug eine weitere Verringerung der Geschwindigkeit vor. Er verspürte sofort Unwillen gegen die Vorstellung, länger als unbedingt nötig durch diesen unsinnigen Waldtunnel zu schleichen, darum müsste man sich doch kümmern, kann man doch alles wegsägen, bestimmt ist das dem Hotelverband einfach nur zu teuer – steht da hinter mir jemand auf der Straße? – nein, natürlich nicht – was ist das, schon wieder eine Geschwindigkeitsbegrenzung, noch eine scharfe kurve, ganz schön eng, jetzt wieder kräftig nach links kurbeln, da wird’s ja auch schon wieder heller.
Adam verließ den tunnelartigen Abschnitt abrupt. Nach rechts hin öffnete sich ein weites Tal mit dem wieder sichtbaren, weidengesäumten und verschlungenen Fluss im Grund. Der Blick reichte jenseits des Tals in weite Ferne. Ein anderes Tal zweigte weiter vorne ab und endete an dunklen Hängen eines schroffen Hanges, der nicht mehr zu einem Hügel, sondern zu einem veritablen Berg gehörte. Die Szenerie war mild ausgeleuchtet, ein undurchsichtiger Dunst machte die Konturen weicher und die von links einfallende Sonne sanfter. Die Schatten der Weidenbäume im Talgrund waren auf nachmittägliche Länge angewachsen, auch die Straße selber lag vollständig im Schatten des zur linken weiter verlaufenden Waldrandes. Das da hinten, das musste, wenn Adam die Navigationsanzeige richtig ausdeutete, der Hügel sein, hinter dem das Sporthotel in einem kleinen Seitental liegen musste. Bald da!
Wirklich fuhr Adam bald die Auffahrt durch den Park des Sporthotels hinauf. Die sorgsam angelegte und gepflegte Anlage wirkte in der Nachmittagssonne so einladend und herrschaftlich wie es für eine Werbefotografie nicht besser am Computer hätte eingestellt werden können. Mit Verlassen des dichten Waldes hatte sich seine Laune schlagartig aufgehellt, jetzt wollte er schnell Stella treffen. Hier ließ sich bestimmt auch ganz schön ein Kaffee zusammen trinken, überlegte er, als er den Wagen ungeniert unterhalb der Terrasse des Restaurants abstellte.
„Hey, Adam“, hörte er sie von der Terrasse herabrufen, als er aus dem Auto stieg. „Das ging ja flott.“ Er blinzelte gegen die Sonne nach oben. Sie stand am Geländer, lächelte ihn an und winkte ihm sogar zu. „So schnell hätte ich dich gar nicht erwartet.“
„Ich hoffe, ich komme nicht zu früh. Will dich ja in deinen Ferien nicht stören.“
„Blödmann, ich hab ja schon angefangen, nach einem Auto aus der Stadt Ausschau zu halten. Ich hätte es schon noch ein, zwei Stündchen hier ausgehalten, aber schön, dass du schon da bist.“
„Gern geschehen. Kann ich dich da oben noch auf einen Kaffee einladen?“
„Klar. Und wenn du mich brav einlädst, darfst du auch noch mein Gepäck ins Auto laden.“
„Hört sich toll an.“
Erst als die Dämmerung mit dem Versinken der Sonne hinter den Hügeln einsetzte brachen die beiden zur Rückfahrt in die Stadt auf. Ferienstimmung hatte tatsächlich geherrscht auf der kaum besuchten Terrasse des Hotelrestaurants. Sie tranken eine völlig überdrehte und eigentlich auch etwas künstlich schmeckende Kaffeemischung, wie es sie nur bei Ausflügen aufs Land geben konnte, machten es sich in den selbst für die Bedürfnisse anspruchsvoller Rentnergruppen gut gepolsterten Gartensesseln bequem und saßen nebeneinander in der warmen, nicht mehr heißen Nachmittagssonne. Behaglich streckten und reckten sie sich, während sie sich ungezwungen über zunächst Belangloses unterhielten und Adam dann zu erzählen begann, wie seine freiwillige Dienstzeit in der zurückliegenden Woche plötzlich interessant geworden war. Stella fragte nach, Adam war stolz, ihr die Zusammenhänge zu erklären, die er selber erst vor wenigen Tagen kennen gelernt hatte und die er nun bei der Erstellung der Unternehmensanalyse anwandte. Adam lobte die schöne Lage des Hotels und den herrlich angelegten Park.
„Ja, ich habe den Hotelnamen ‚Lupinental‘ auch erst für eine süßliche Werbebotschaft gehalten, aber hier gab es früher wohl wirklich einmal einen Ort mit diesem Namen, und immer schon war es hier sonnig genug für die schönsten Pflanzen“, erklärte Stella.
Die Schatten im Park wurden länger und schließlich schlug Adam vor, loszufahren.
„Natürlich nur, wenn ich dein Gepäck tragen darf.“
„Hm... na gut. Ist aber leider nur eine Reisetasche.“
„Da arbeiten wir aber noch dran.“
Der heitere Plauderton setzte sich im Auto fort, Stella lobte den schnuckeligen Flitzer, „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen teuer, stimmt’s?“ und Adam spielte kurz die Rolle des auto-versessenen Machos, der seine Perle in die schicksten Clubs von Kys kutschiert, oder, wenn das Geld am Monatsende knapp wird, notfalls eben auch in ein Ausflugslokal aufs Land. Den laubüberrankte Baumtunnel bemerkte Adam fast gar nicht, als er das Gespräch darauf bringen wollte, waren sie schon längst hindurch, und so ließ er es bleiben. Sie hatten sogar schon die Ausbaustrecke erreicht, als er mit einem kleinen Trick herausbekommen wollte, wie es dazu gekommen war, dass Stella im Hotel gestrandet war.
„Herzliche Grüße von Carlo übrigens.“
„Von wem?“
„Carlo Feinman, meinem Kumpel.“
„Ah, dein bester Freund.“
„Ja, kann man so sagen. Der hat mir mit einer guten Ausrede geholfen, damit ich sofort losfahren konnte.“ Stimmte zwar nicht so ganz, aber was soll’s. „Er lässt also herzlich grüßen, und weil ich ihm natürlich klarmachen musste, warum er mich unbedingt sofort im Regierungsamt loseisen musste, will er jetzt natürlich wissen, ob mal wieder freaky Freddy schuld ist, dass man dich im Hotel hat sitzen lassen.“
„Freaky Freddy? Ach so, nein, der war’s ausnahmsweise mal nicht, obwohl er sogar mit rausgefahren ist. Er und Sandra.“ Sie schaute zu ihm rüber, Adams Ausdruck blieb aber in schneller Reaktion teilnahmslos. „Es war so“, fuhr Stella fort, „ich hab mich von einem Kollegen bequatschen lassen, dass wir doch ein verlängertes Wochenende auf dem Land machen könnten, jetzt, wo doch das Wetter endlich wieder besser geworden ist, so mit Fitnessprogramm, Magno-Squashen und so. Ich hätte auf mein erstes Gefühl hören und gleich ablehnen sollen, aber...“
„Ja?“
„Ach, mir war langweilig. Und dann hab ich auch schön nach Mädchenart vorgeschlagen, Sandra und Freddy könnten mitkommen, damit wir als kleine Reisegruppe fahren können. Wir sind dann am Mittwochabend rausgefahren, am ersten Abend war es ganz nett, das Sportprogramm am Tag danach war schon eine ziemlich anstrengende Macho-Show. Kevin, also mein Kollege, wollte der Platzhirsch sein, da hätte er es natürlich leichter gehabt, wenn Freddy nicht dabei gewesen wäre, aber so haben die beiden Herren einander beweisen müssen, wer der größte ist.“
„Der größte Bronko.“
„Genau. Mir hat’s jedenfalls keinen wirklichen Spaß mehr gemacht und zum gemeinsamen gemütlichen Abendessen musste ich mich richtig zwingen. Zur Krönung hat sich Kevin dann ordentlich einen eingetütet und einen blöderen anzüglichen Witz nach dem anderen erzählt. Eine etwas ungewöhnliche Art, seine Zuneigung zu zeigen. Ich hab mich dann noch vor dem Gang zur Bar losgeeist und bin auf mein Zimmer gegangen. Und jetzt rat mal, wer mich eine Stunde später aus dem Bett geklopft hat.“
„Hätte ich Freddy gar nicht zugetraut.“
„Nicht witzig, Monsieur, ich hatte meine liebe Mühe, Kevin wieder aus meinem Zimmer zu bekommen. Und dann nennt mich der Dreckskerl auch noch eine verklemmte Jungfer, die sich mal nicht so anstellen soll, wenn sie sich schon von einem Kavalier ausführen lässt. Kavalier! Ich wusste gar nicht, dass Testosteron bewusstseinstrübend sein kann. Am nächsten Morgen beim Frühstück hält der Sack es dann nicht einmal für nötig, sich bei mir zu entschuldigen, stattdessen gibt er sein ‚Stelldichein bei unserer tugendsamen Nonne‘ zum Besten und lacht sich über seine dummen Scherze selber halb tot.“
„Was hast du gesagt?“
„Gar nichts. Aber er hat dann ‚aua‘ gesagt.“
„Aua?“
„Ja, so ein Orangensaft beißt schon ganz schön in den Augen, wenn man ein ganzes Glas davon ins Gesicht geschüttet bekommt. Aber auch dann hat Kevin den Schuss noch nicht gehört, sondern meinte, jetzt würde es ihm reichen, ihm, verstehst du, und er würde sofort fahren. Ich hab ihm dann noch gute Fahrt gewünscht und bin erst mal ins Dampfbad gegangen.“
„Und Sandra und Freddy haben dich einfach sitzen lassen?“
„Nein, na ja, das geht schon in Ordnung. Sandra wollte mal wieder beschwichtigen, da habe ich sie auch gleich mit angefaucht und ihr und Freddy geraten, sie sollten bloß zusehen, dass sie mit Mister Großartig zurück in die Stadt kommen. Das war gar nicht böse gemeint, wir waren alle in Kevins Auto da, und ich wollte die beiden ja nicht noch mehr reinreiten. Ich war so sauer! Mir ist dann erst im Dampfbad eingefallen, als die beiden mit Kevin schon längst abgefahren waren, dass ich mich irgendwie um meine Rückfahrt kümmern müsste. Da bist du mir natürlich eingefallen.“
„Es erleichtert mich wirklich, dass ich dir helfen konnte.“
„Ja, ja, es ist schon hilfreich, wenn man immer ein paar Typen an der Hand hat, die ein schlechtes Gewissen mir gegenüber und noch dazu ein fahrtüchtiges Auto haben.“
Jetzt schaute Adam doch etwas irritiert.
„Ach was, Herzchen, für mich gibt es natürlich nur dich“, kicherte Stella und knuffte ihm in den Oberarm. „Ich bin dir wirklich dankbar, und ich hätte mich ja auch so bei dir gemeldet. Glaube ich.“
Der Verkehr in der Stadt war zum Beginn des Wochenendtrubels schon ziemlich dicht geworden, und so kamen sie langsamer als gedacht zu Stellas Wohnung durch, deren Navigationsdaten sie in das Verkehrssystem eingegeben hatte.
„Das soll jetzt bestimmt keine Anmache sein“, sagte Adam, nachdem sie ankommen waren, „aber wenn du das willst, bringe ich dir natürlich das Gepäck in die Wohnung.“
„Ich bestehe sogar darauf. Ich wohne nämlich standesgemäß allein und habe niemanden, den ich runter auf die Straße klingeln könnte. Außerdem musst du mir die Chance geben, heute Abend für dich was zu kochen und mich für deine Hilfe zu revanchieren.“
„Ich...“ zögerte Adam.
„Du willst doch nicht wieder schüchtern werden?“
„Nein. Nein, bestimmt nicht. Wirklich nur, wenn du willst.“
„Ich will, keine Angst.“
Er trug ihre wirklich nicht sehr schwere Reisetasche hinauf und während sie sich daran machte, ihr Versprechen eines selbst gekochten Abendessens einzulösen, schaute er sich neugierig in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung um.
„Ja, schau dich nur um, zum Glück räume ich immer auf bevor ich wegfahre, nicht erst, nachdem ich wieder zurückkomme. Ich verschwinde schnell um die Ecke zum Rund-um-die-Uhr-Markt, frische Sachen habe ich natürlich keine da. Bis gleich.“ Damit war sie auch schon zur Tür hinaus.
Die Wohnung wirkte geräumiger, als sie tatsächlich war, denn nur wenige Möbel standen darin und kein Nippes stand herum. Ein Bund getrockneter Blumen über einem Spiegel im größeren Raum, von dem es in das etwas kleinere Schlafzimmer ging, bildete die einzige Dekoration den Adam entdecken konnte. Kaum hatte er sich darin vertieft, ihr Bücherregal zu inspizieren, war Stella auch schon wieder da und rief ihm zu: „Genug Wohnung durchsucht, Händewaschen und Mitschnibbeln, wenn’s denn recht ist.“
In der Küche bearbeitete Adam nach ihren Anweisungen am Essplatz sitzend Gemüse und Salat, während sie ein im Handumdrehen sehr leckeres Gericht mit Kartoffeln und dünnen Lammkoteletts bereitete. Auf seine Frage, was das sei, lachte sie und meinte: „Jedenfalls nichts für Angsthasen, gleich kommt noch Chili-Sauce dazu. So ein bisschen Gedöns mit Gemüse und Fleisch denke ich mir immer irgendwie selber aus. Aber die Pommesbude unten hat auch noch offen, falls es so gar nicht hinhauen sollte.“
Es schmeckte in der Tat ziemlich scharf, aber die Würze passte nach Adams Geschmack genau zum Fleisch, das er sehr lobte. „Tiefkühl“, meinte Stella kurz angebunden zwischen zwei Gabeln ihrer Kartoffel-Schöpfung, „ganz einfach und kann man immer da haben. Noch Kartoffeln?“
Sie hatte so wie er nichts zu Mittag gegessen und sie aßen beide mit gutem Appetit. Es war immer noch ein Feriengefühl, jetzt aber wie nach der Rückkehr von einem gelungenen Familienausflug.
„Ich kann leider nur einen Kaffee fertig aus der Tüte anbieten, dafür in einer total abgefahrenen Geschmacksrichtung“, sagte sie, nachdem sie auch mit dem Nachschlag fertig waren. „Den können wir ja drüben im Salon zu uns nehmen.“
„Du sagst aber, wenn du dann deine Ruhe haben willst.“
„Auf jeden Fall.“
Sie hatte sich aufs Sofa gesetzt und es sich mit hochgezogenen Füßen bequem gemacht, Adam hatte einen Sessel herangerückt.
„Dein Lesesessel?“
„Eigentlich schon“, gab sie Auskunft, „aber wie jeder Sessel, den sich die Leute ganz speziell fürs Lesen anschaffen, muss der arme Kerl leider fast vollständig darauf verzichten, mich beim Lesen zu beherbergen. Wenn ich einmal in ein Buch komme, das mir gut gefällt, lese ich so gut wie überall, außer in dem Sessel. Apropos, willst du nicht lieber zu mir rüberrücken?“
„Gerne...“
„Wie gesagt, ich gebe schon Bescheid, wenn ich meine Ruhe haben will.“
„Gut“.
Er setzte sich neben sie, Platz genug gab es auf dem Sofa. Ohne ein weiteres Wort nahm sie seine Hand.
„Das war ein sehr schöner Tag, danke,“ sagte sie.
„Mir hat es auch sehr gut gefallen, du brauchst dich nicht zu bedanken.“
„Oh doch, du ahnst ja gar nicht, wie grauenvoll der Tag angefangen hat. Was machst du am Wochenende? Wollen wir was zusammen machen?“
„Klar, sehr gerne. Ich muss nur eine Datei kurz durchschauen, das kann ich aber auch von daheim schnell machen.“
„Nimm dir mal nicht zu viel Zeit dafür.“ Sie zog ihn näher an sich heran. „So ein Wochenende kann viel zu kurz sein.“
Was tun, lieber Adam? Es gab ja gar kein Problem. Er war bei Stella, auf ihre Einladung hin, ja, er fand sie toll, und wahrscheinlich schon mehr als das. Wie aufgewirbeltes Laub kreisten ihm Gedankenfetzen durch den Kopf, dieser dunkle Wald, bin direkt da durch gefahren, es war schön in dem Hotel, zum Glück konnte ich gleich los, na, dann mache ich von zu Hause weiter, wähl mich einfach mit dem Token ins Netz vom Amt ein...
„Verdammt!“ entfuhr es ihm.
Stella schreckte zurück. „Hoppla. Eine fremdländische Art des Liebesschwurs?“
„Nein, Entschuldigung, ich hab nur war im Hotel liegen lassen.“ Adam stand vom Sofa auf und klopfte seine Hosentaschen ab, ob er den Token nicht doch noch finden würde.
„Und ich nehme mal an, das ist nichts, was du dir einfach nachschicken lassen könntest?“
„Nein, Mist, also, tut mir leid, das ist wirklich zu bescheuert. Mein Token für das Rechnernetz vom Regierungsamt, wenn ich ihn mitnehme, habe ich ihn immer in meiner Hosentasche und festgeclippt, Mann, das darf doch nicht wahr sein.“ Der Token war wirklich nicht da, er konnte sich auch noch genau an den Augenblick erinnern, als er ihn aus der Taschen genommen und ihn auf dem Tisch der Restaurantterrasse gelegt hatte, um es sich bequem zu machen. Und da hatte er ihn, vermutlich hinter einer der Tassen seinem Blick entzogen, liegen lassen. Er schaute zu Stella rüber. Sie wirkte immer noch freundlich, aber auch schon ein wenig angespannt. Ob es eine Art Schicksal war, dass er einfach keinen ganzen Tag verbringen konnte, ohne es sich mit ihr zu verderben?
„Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, aber ich muss das Ding holen. Das ist wohl die einzige Möglichkeit für einen freiwillig Dienstleistenden, so richtig Ärger zu bekommen, wenn er den Netzwerk-Token verschlampt.“
Stella nickte.
„Am besten fahre ich gleich los, bis morgen warten wäre nicht so gut, und ich hab jetzt sowieso keine Ruhe mehr.“
„Ist gut. Ruf an, wenn du angekommen bist, ja?“
Er nickte, verabschiedete sich und ging. Auf der Straße stellte er fest, wie lächerlich schön der Sommerabend war.