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Die Stadt bei den Flüssen, 7. Kapitel

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Niemand unter der ganzen weiten Kuppel konnte recht erklären, warum jeder in der Paneupinia Squitten liebte. Das Spiel war kompliziert nicht nur in den Regeln, sondern auch in den technischen Bedingungen. Das Spielfeld musste mit einem starken elektromagnetischen Feld zuverlässig versorgt werden und die Trägergleitschuhe mussten sicher funktionieren, damit die Spieler, wenn sie gut vier Meter über dem Boden auf dem Feld entlang glitten, nicht abstürzten. Und dann musste auch der Pinger, der von den Spielstäben und den Spielhelmen der Spieler zielgenau gelenkt werden sollte, präzise mit den Spielstäben und -helmen zusammenwirken, damit ein geschickter Spielzug nicht an einer groben Führung des Pingers scheiterte. Es brauchte ständige Wartung durch ein ganzes Team von Technikern, um ein Squit-Feld in Schuss zu halten, entsprechend teuer war der Sport. Aber jeder liebte das Squitten. Mädchen und Jungen, Männer und Frauen in so gut wie jedem Alter verfolgten nicht nur die Profi-Ligen mit leidenschaftlicher Gebanntheit, sondern sehr viele spielten auch selber in den zahllosen Vereinen und Clubs. Der Grund für diese flächendeckende Begeisterung lag vermutlich darin, dass dieses Spiel – ungeachtet der komplexen technischen Voraussetzungen an einen einwandfrei funktionierenden Spielbetrieb – an die einfachsten spielerischen Instinkte des Menschen appellierte, und dass zugleich eben diese hoch technisierten Rahmenbedingungen gewährleisten, dass grundsätzlich jeder ohne Rücksicht auf seine körperliche Fitness seine Spielinstinkte so erfolgreich ausleben konnte, und ganz leicht ein flüssiger Spielfluss entstand. Gegen eine solche Konkurrenz konnten klassische Sportarten wie Fußball oder Hockey nur schwer bestehen, sie wurden von Freaks und solchen Leuten betrieben, die sich das Squitten beim besten Willen nicht leisten konnten.

Squitten war nicht nur komfortabel, es war vor allem einfach: Auf dem Spielfeld, genau genommen auf der eben gut vier Meter über dem eigentlichen Boden liegenden Spielebene, ging es darum, den Pinger durch geschickte Kombinationen und Pässe der acht Mitglieder einer Mannschaft in die Trefferzone der gegnerischen Mannschaft zu lenken und dort für einen Zeitraum von fünf Sekunden zu halten. Kombinationen und Pässe wurden meistens in einer umfassenden Bewegung der gesamten Mannschaft ausgeführt. Die Spieler glitten in ihren Trägergleitschuhen auf dem elektromagnetischen Trägerfeld. Ohne eine Bewegung auszuführen, wurden sie an einem Punkt des Feldes in der Schwebe gehalten. Wollten sie sich in Bewegung setzen, mussten sie nur den Fuß über den Innenspann abknicken und ein kleines Stückchen in das Trägerfeld eintauchen. Dadurch wurde mithilfe von intelligent angesteuerten Elektromagneten an der Innenseite der Trägerschuhe eine lokale Störung des Feldes erzeugt, die den Trägergleitschuh und den Spieler darin in die entgegengesetzte Richtung beschleunigten. Besonders athletische Sportler konnten sich zusätzlich auch mit Muskelkraft abstoßen, um eine noch größere Beschleunigung zu erreichen. Diese Technik nutzten etwa alle Profispieler in perfektionierter Weise. Diese Technik war aber nicht notwendig, um auf der Spielebene voranzukommen, und so konnten auch untrainierte oder sehr junge oder sehr alte Spieler auf der Ebene kräftig beschleunigen und vorankommen.

Auf demselben Mechanismus wie die Beschleunigung funktionierte natürlich auch das Lenken und Bremsen: Durch geschickte Eintauchen des Innenspanns während der Fahrt konnte der Spieler den Trägergleitschuh verzögern und auf diese Weise entweder eine einseitige Bremsung einleiten, um sich nach links oder rechts zu lenken, oder aber kräftig beidseitig bremsen, um die Fahrt insgesamt zu verlangsamen oder völlig zum Stillstand zu bringen. Der Einsatz des Trägergleitschuhs war natürlichen Bewegungsabläufen beim Laufen oder Schwimmen so ähnlich, dass es zwar eines gewissen Trainings bedurfte, um mit Trägergleitschuh nicht nur schweben, sondern auch gleiten zu können, aber jeder auch ansonsten noch so ungeschickte Nachwuchs-Squitter konnte das lernen, und zwar innerhalb so kurzer Zeit, dass Frustrationen gar nicht aufkommen konnten.

Außerdem konnte sich auch ein äußerst tollpatschiger Anfänger bei seinen ersten Geh- und Gleitversuchen so gut wie niemals verletzen: Weil die Spielebene weit genug über dem physisch-realen Boden lag, blieb ein Sturz garantiert folgenlos. Stürzte ein Spieler, weil er die automatischen Stabilisierungsalgorithmen der Trägergleitschuhe gründlich genug überlistet hatte, geschah nichts anderes, als dass er durchkenterte: In einer schnellen Bewegung drehte sich der Spieler einmal mit dem Kopf voran dem Boden entgegen und wurde wie ein Stehaufmännchen wieder aufgerichtet. Die Trägergleitschuhe waren mit äußerst robuster, absolut absturzsicherer Software darauf programmiert, den Spieler nach seinem Kentern sofort wieder nach oben zu drehen. Und weil die Spielfläche weit genug über dem Boden lag, konnte der arme Trottel mit dem Kopf dem Boden nicht einmal nahe genug kommen, um mit langen Haaren darüber hinweg zu fegen. Auch am Rand der in den meisten Spielstätten vierzig Meter breiten und neunzig Meter langen Spielfläche gab es keine Hindernisse, auf die ein übereifriger oder unachtsamer Spieler hätte prallen können. Das elektromagnetische Feld lag an jedem seiner Ränder wenigstens fünf Meter von den umgebenden Zuschauerrängen entfernt. Außerdem errechneten die Trägergleitschuhe ständig die Position des Spielers auf der Spielebene und bremsten ihn bei einer schnellen Bewegung auf den Rand zu automatisch so weit ab, dass er, am Rande angekommen ebenfalls völlig automatisch sanft gestoppt werden konnte.

Sollte die Gangway, eine lange Laufplanke, die den Spieler dazu diente, die Spielfläche zu betreten und zu verlassen, in das Spielfeld hineingefahren werden, so war das nur im Zuge einer speziell dafür programmierten Sequenz des zentralen Steuerungscomputers möglich. Dabei wurden sowohl das Trägerfeld als auch die Trägergleitschuhe so eingestellt, dass die Spieler nur noch kurze, schon nach kurzem Weg wieder verzögerte Schrittchen auf der Fläche machen und keine schnelle Fahrt mehr aufnehmen konnten. Wehe also dem naseweisen Spieler, der das Signal missachtete, mit dem die Gangway-Sequenz rechtzeitig angekündigt wurde, und der sich nicht rechtzeitig in Richtung des Punktes der Spielfläche begab, an den die Gangway gelegt werden sollte: Er musste dann mühsam, und das war dann wirklich körperlich anstrengend, den weiten Weg über die Fläche stapfen, als würde er durch schweren Morast waten.

Im laufenden Spielbetrieb galt es also, den Pinger gekonnt abzugeben und anzunehmen, nicht nur so schnell wie möglich in die gegnerische Trefferzone zu bugsieren, sondern ihn dort auch durch eigene Spieler zu kontrollieren und ihn im kurzen Passspiel mit viel Übersicht gegen die anstürmenden Verteidiger der anderen Mannschaft abzuschirmen. Äußerlich war der Pinger ein metallisch glänzender, vollkommen runder Ball, der an einen glattpolierte Boccia-Kugel erinnerte. In Wahrheit war der Pinger der komplexeste Bestandteil der Technik, mit deren Einsatz das Squitten überhaupt erst funktionieren konnte. Er enthielt nicht nur einen äußerst leistungsfähigen Rechnerchip, sondern vor allem zwei halbsphärische, hoch empfindliche und rasend schnell ansprechende Elektromagneten. Die hatten eine Doppelfunktion: Zum einen dienten sie als Sensoren für die umgebenden Wechselfelder, nämlich dasjenige der Spielebene und für die weiteren Felder, die durch die Spielstäbe und Spielhelme aufgebaut wurden. Zum anderen konnten die Elektromagneten des Pingers ihrerseits ein Feld aufbauen, mit dem der Pinger beschleunigt und verzögert wurde.

Das äußerliche Ergebnis der ständigen Aktivität dieser beiden, die Kugelfläche des Pingers vollständig abdeckenden Elektromagneten war verblüffend einfach: Der Pinger wurde automatisch immer wieder in die Spielebene zurückbewegt, gleichviel mit welcher Kraft er nach oben oder nach unten oder über die seitlichen Ränder hinaus aus der Ebene hinaus bewegt wurde. Und er konnte mithilfe der Spielstäbe und -helme so gesteuert werden, dass es aussah, als würde ein Spieler ihn schlagen oder köpfen. Dabei kamen die Spielstäbe und -helme niemals mit dem Pinger in Berührung. Der metallisch-hohe, gongartige Laut, der dem Pinger lautmalerisch seinen Namen gegeben hatte, wurde computergesteuert erzeugt und auf das Spielfeld gestrahlt. Die eigentliche Interaktion des Pingers mit Stäben und Helmen war völlig lautlos. Auch die Stäbe und Helme umgab jeweils ein Wechselfeld, die eine eng begrenzte Reichweite hatten, aber ausreichten, um die Elektromagneten des Pingers zu aktivieren, wenn sie nahe genug an ihn herangeführt wurden. Dann wurde, je nach Bewegung und abhängig von der Programmierung des Spielsystems, der Pinger beschleunigt oder aufgefangen.

In allen Spielsystemen gängig waren einige wenige Standard-Spielbewegungen: Ein schnelles Zuschlagen auf den Pinger bewirkte natürlich ebenso wie ein ruckartiges Bewegen des Helmes in Richtung des Pingers seine Beschleunigung vom Schläger oder Helm weg. Ein Hin- und Her-Wedeln mit dem Schläger führte dazu, dass der herannahende Pinger gebremst wurde. Kreisförmige Bewegungen des Schlägerkopfes um den Pinger herum fingen ihn schließlich ein und ließen ihn dem Schlägerkopf folgen. Über diese Grundspielzüge hinaus gab es eine beliebig große Anzahl weiterer Varianten, mit denen ein Spielsystem programmiert werden konnte. Grenzen wurden dabei nur durch die Geschicklichkeit und den Ausbildungsstand der Spieler gesetzt. In den Profi-Liegen gab es Dutzende von Steuerungsvarianten, die im laufenden Spiel nicht selten den Eindruck einer geradezu magischen Interaktion zwischen Spieler und Pinger erweckten. Die Amateur-Spielsysteme waren einfacher, bis hin zu den Systemen in den Seniorenligen, die zwar kein kunstvolles Dribbling erlaubten, dafür aber den eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten der betagten Spieler hinreichend Rechnung trugen, um niemanden zu überfordern.

Selbst die simpelsten Spielsysteme erlaubten freilich eine Variationsbreite an Spielzügen, wie sie ein Ballspiel auf einem physischen vorhandenen festen Untergrund schlicht nicht möglich gewesen wäre. Besonders beliebt war etwa der Pass, bei dem der Pinger am gegnerischen Spieler nicht seitlich oder über ihn hinweg gespielt wurde, sondern unter ihm hindurch. Der Pinger konnte schließlich auch nach unten aus der Spielebene hinaus geschlagen werden, denn er kehrte ja zuverlässig wieder auf die Spielebene zurück. Das Unterspielen eines Gegners war zwar etwas schwieriger abzuschätzen und eröffnete insbesondere ein höheres Risiko: immerhin konnte der Gegner den Pass in einer schnellen Reaktion abfangen, indem er mit dem Schläger unter sich „löffelte“. Aber wenn der Spielzug des Unterspielens gelang, konnte er um so verblüffender wirken. So mancher ungeübter Amateurspieler war schon stehen gelassen worden, wie er sich einer verwirrten Katze ähnlich umsah, die vergeblich eine Maus suchte, die ihr zwischen die Pfoten hindurch entwischt war.

Ein weiterer für den Erfolg des Squittens ganz entscheidender Vorteil war schließlich der, dass anders als beim echten Ballspiel auch Verletzungen durch den Pinger selbst ausgeschlossen waren. Mit dessen Programmierung waren seine Elektromagneten auch in der Lage, die Nähe des menschlichen Körpers zu detektieren. Raste der Pinger also auf einen nur durch seinen Helm geschützten Spieler zu, dann bremste er zuverlässig vor ihm ab oder wich sogar seiner Bewegung aus. Es war eine beliebte Mutprobe unter kleinen und größeren Jungs – wenngleich natürlich von den Betreuern strengstens verboten und hart geahndet – einen Novizen mit dem Pinger zu beschießen und zu sehen, ob der Proband Nerven genug hatte, auf das Spielsystem zu vertrauen und ohne auszuweichen der heranrasenden Kugel standzuhalten. Passieren konnte dabei nichts.

Der Squit-Club gleich um die Ecke von Adams Wohnung ist nicht der trendigste der Stadt, aber doch ansprechend und schick aufgemacht und immer ein beliebter Treffpunkt für Leute seines Alters. Freundlich hell ist der große Clubraum eingerichtet. Mit hellem Leder bezogene Lounge-Sessel stehen um niedrige Tischchen, weiter hinten gibt es einen Bistro-Bereich, in dem rund um die Uhr frische Fitness-Menus und -Drinks serviert werden. Es ist an diesem noch frühen Donnerstagnachmittag nicht viel los im Clubraum, etwas zu laut lässt eine Gruppe junger Ökonomie-Studenten die gerade absolvierte Partie Revue passieren. Jeder bemüht sich um einen selbstironischen Ton und will doch zugleich durch die Schilderung eigener scheinbarer Missgeschicke unterstreichen, wie souverän er die kniffligsten Spielsituationen gemeistert hat. Versunken in einen der Clubsessel, den Rücken zu der lärmenden Gruppe, sitzt unser Adam da, gelegentlich dringen Gesprächsfetzen in sein Bewusstsein vor. Im Übrigen starrt er mit düster verkniffener Miene vor sich hin. Darin spiegelt sich nicht etwa Verärgerung, dass Carlo nicht zur verabredeten Zeit erschienen ist und sich wohl – wieder einmal – kräftig verspäten wird. Nein, Adams Gesichtsausdruck zeugt vielmehr von der Anstrengung, mit der er über die Geschehnisse der vergangenen knapp zwei Wochen nachdenkt. Es ist so viel passiert.

Stella hatte ihn wie einen Schwerkranken in ihre Wohnung aufgenommen, nachdem sie ihn vor ihrem Haus entdeckt hatte. Für einige Zeit hatte er sich einfach gehen lassen und keinen Gedanken daran verschwendet, welchen Eindruck er in seinem Zustand auf sie machte. Dann, vielleicht nach einer halben Stunde, sie saßen wieder bei ihr auf der Couch und er nippte ohne rechtes Interesse an einer Tasse Tee, hatte er sich wieder so weit beruhigt, dass er sich ein wenig vor ihr zu genieren begann. Erst der überstürzte Aufbruch am Abend zuvor, dann sein plötzlich am Telefon mitgeteilter Entschluss, über Nacht im Hotel zu bleiben und dann dieser Auftritt als Nervenbündel. Er wollte Stellas sicherlich großes Verständnis auch nicht ohne Not überfordern. Sie machte es ihm leicht, wieder ruhig zu atmen und eine unverfängliche Plauderei aufzunehmen. Keine einzige Frage stellte sie ihm, umsorgte ihn in sicherem Verständnis für seinen Zustand, und ließ sich nicht die leiseste Neugierde anmerken, als er es endlich über sich brachte, ein paar knappe Sätze mit ihr zu reden. Etwas in der Art, das sei ja schon ein intensives Erlebnis für ein Stadtkind wie ihn, in den Wald zu fahren, so einen Sturm wie letzte Nacht habe er noch nie erlebt, wie ein kleiner Bub fürchten könne man sich da. Das kommentierte sie weder, noch hinterfragte sie es. Sie begegnete ihm stattdessen ihrerseits mit Themen im Plauderton, dass bei dem guten Wetter wahnsinnig viel los sei in der Stadt, er könne von Glück sagen, ohne Stau durchgekommen zu sein; am Strandbad an der Kirna rund um den „Goldenen Erpel“ sei heute bestimmt wieder der Teufel los, und ob er sich denn noch mit seinen Jungs treffen wolle. Solche Dinge. Mehr geschah nicht.

Bis in die frühen Nachmittagsstunden hinein saßen sie da, plauderten, gingen dann in einem Bistro etwas essen. Ohne sich für ein weiteres Treffen zu verabreden, trennten sie sich vor ihrem Haus, er fuhr heim und legte sich ins Bett, schlief traumlos bis in den Abend. Stand auf und duschte, fuhr dann wie selbstverständlich wieder zu Stella, die über seinen Besuch nicht im Geringsten überrascht war. Gemeinsam sahen sie einen alten 3D-Film im Bezahlfernsehen, futterten Instant-Essen aus Tüten, saßen schließlich Arm in Arm auf dem Sofa und sagten und taten auch lange nach Ende des Films nichts. Sie sprachen auch nicht viel, als Stella zu Bett ging und Adam ihr folgte. Eer übernachtete bei ihr, aber sie schliefen nicht miteinander. Als sie am nächsten Morgen nebeneinander aufwachten, nahmen sie sich wieder in den Arm und küssten sich lange. Mehr war da nicht. Kein erregt gehauchtes Wort der Erklärung, keine Liebesschwüre. Sie küssten sich viele Male und schliefen dann wieder ein.

Seitdem waren sie ein Paar mit einem merkwürdigen Geheimnis. Sie lebten eine Beziehung, die keine Geburtsstunde gehabt hatte, sondern schon gealtert auf die Welt gekommen war. In stillschweigender Übereinstimmung harmonierten sie miteinander, meistenteils völlig wortlos. Leise, alltägliche Zärtlichkeiten tauschten sie aus, wenn sie sich täglich sahen. Sie übernachteten nicht jede Nacht miteinander, hatten keinen Sex und schon deshalb erzählten sie kaum ihren Freunden und Bekannten vom Anderen und von ihrer Beziehung. Unweigerlich wäre die erste Frage gewesen, wie es denn im Bett laufe, das wollten sie nicht. Nicht, weil sie sich genierten, sondern weil sie verrückt genug waren, sich eine solche Frage nicht gefallen lassen zu wollen. Weil sie über ihre Beziehung miteinander kein Wort verloren, überlegten sie auch nicht gemeinsam, ob das eine abnormale, irgendwie perverse Art war, in der sie miteinander umgingen. Sie dachten aber auch jeder für sich nicht darüber nach.

Adam wusste: Stella ist da, so wie er für sie da war. Aber Dasein füreinander bedeutete für ihn Sicht nicht, dass sie ihm nun eine Änderung ihres Lebens schuldete, jedenfalls noch nicht. Sie hatten sich kennen gelernt, er hatte sie lieben gelernt und lernte es immer noch. Stella würde ihm alles geben, was er sich wünschte, das spürte er. Aber er wollte nicht mehr nehmen, als es ihm seine Empfindung für sie gebot. Diese Empfindung war zur Liebe geworden, einem keimenden und behutsam wachsenden Gewächs zärtlicher Liebe. Er hatte keine Eile, ebenso wenig wie sie, an einer wachsenden Pflanze zu zerren, auf dass sie um so schneller größer würde.

Wurde ihm mit jedem Tag Stellas Dasein gewisser, so wuchsen im gleichen Maße die Zweifel an dem, was er dort im Wald gesehen und erlebt hatte. Wie hätte er mit jemandem über sein Erlebnis reden können, wenn er doch selber die Bilder aus dem Wald immer undeutlicher vor Augen hatte? Es waren nicht die von ihm an den Gestalten der Schrate wahrgenommenen Details die schwanden, sondern es verblasste die Erinnerung daran, wie real sein Aufeinandertreffen mit diesen Kreaturen gewesen war. Die Verbindungsstellen zwischen der unzweifelhaft echten Welt und dem Geschehnis auf der Straße im Wald, kurz nach dem Ausgang aus dem Laubtunnel, wurden dünner. Hatten tatsächlich Vögel gezwitschert? Wie hatte das geklungen? War es angenehm warm gewesen, oder kühl wie im Baumtunnel selber, oder sogar heiß? Und hatte das Unterhaltungssystem noch gedudelt, hatte die synthetischen Klänge in den Wald hinein gequäkt? Alle diese Verknüpfungen zwischen der echten Welt und der unwirklichen Erscheinung der Schrate, drohten sich aufzulösen, und die Erinnerung geriet mehr und mehr nach Art eines Traumes. Eines Traumes freilich, unter dessen starkem Eindruck Adams Denken und Fühlen immer noch stand. Aber wie es solchen starken Träumen eigen ist, verblassten die Einzelheiten des Geschehens mehr und mehr. Oder besser: sie versanken in dunklen, nicht mehr mit dem Verstand auszuleuchtenden Flecken der Erinnerung. Wie viele Schrate waren das gewesen? Hatte er sie nicht sogar in seinem Schrecken durchgezählt? Auf welche Zahl genau war er denn noch gekommen?

Mit den dunklen Flecken seiner Erinnerung wuchs sein Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit. Das war jetzt noch keine zwei Wochen her und die Begegnung war für ihn als Erlebnis grell genug. Diese Begegnung hätte sich doch in überscharfer Deutlichkeit in seine Erinnerung einbrennen müssen. Wieso schliffen die Kanten des Geschehens so schnell ab, wurde sogar sein Urteil unsicher, ob das, woran er sich denn noch erinnerte, tatsächlich geschehen war? Wie ein ziehender Schmerz, sanft, aber unablässig, wirkte Unbehagen in seinem Körper. Begleitet von einem ebenfalls schmerzhaften Pochen: der im Einzelnen vagen, in der Bedeutung aber klaren Erinnerung an die Aufforderung der Schrate, er solle wiederkommen. Komm wieder.

Ob er den Verstand verlor? Schrittweise, als wenn ihm nach und nach alle Glieder seiner Finger abstarben, verfaulten und abfielen? Was sich da draußen im Wald ereignet hatte – wenn es sich denn ereignet hatte – lag jenseits der Zusammenhänge, die zu verstehen Adams Verstand geschult war. Seine ganze Ausbildung und Sozialisierung war – wie bei allen seinen Zeitgenossen – daran orientiert, Zusammenhänge, durchaus auch sehr komplexe Zusammenhänge, unter einem gewissermaßen technologischen Blickwinkel zu erfassen und zu begreifen. Sein Denken bewegte sich auf der Grundlage, dass für grundsätzlich jedes Problem eine Lösung durch Anwendung der passenden Technologie gefunden werden konnte. Eine praktische Grenze gab es immer nur dort, wo eine Lösung zu hohen Einsatz von Ressourcen gekostet hätte, die Lösung also schlimmere Folgen als das Problem selber gehabt hätte. Echten Mangel an Ressourcen gab es unter den Kuppeln freilich nur in seltenen Konstellationen, und deswegen war diese gedankliche Grundlage der Problemlösung eine im Wesentlichen optimistische. Daraus folgte zugleich ein gedanklicher Ansatz, der alle Reflexionen zu welcher Frage auch immer vollständig durchdrang – von der Frage der globalen Energieversorgung bis zur Linderung von Liebeskummer: Jede Problemstellung konnte ausgedrückt werden in technologische Zusammenhänge. Die kleinste gedankliche Einheit aus der sich auch das intrikateste Problem im Kern schließlich zusammensetzte, war der Wenn-dann-Zusammenhang. Der erlaubte sowohl die Analyse des Problems als auch die Synthese der Lösung. Aus der Umkehrung des Wenn-dann-Zusammenhangs im Kern des Problems folgte sein Lösung. Das Wenn als Voraussetzung des dann eintretenden Problems wurde beseitigt, und damit das Problem als Folge seiner Voraussetzung. So einfach war das.

Squitten zum Beispiel: Ohne den universellen technologischen Blickwinkel hätte das Spiel leicht überkompliziert und unübersichtlich, im Ergebnis also wenig attraktiv erscheinen können. Es bedurfte des tiefen Vertrauens darauf, dass kein Bewegungsablauf der beiden Mannschaften in der Jagd auf den Pinger zu komplex sein konnte, dass sich jede Spielkonstellation in eine beliebig große, aber jedenfalls endliche Zahl von Wenn-dann-Zusammenhängen auflösen ließ. Dadurch war dieser im Gesamtbild so beängstigend verwickelt erscheinende Bewegungsablauf lediglich die Summe vieler sehr einfacher Zusammenhänge und ihres Aufeinanderfolgens und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Mit diesem Vertrauen verlor die Komplexität des Spiels jeden Schrecken. Es war seinem Wesen nach nichts anderes als das Spiel eines wenige Monate alten Kleinkindes mit einem kleinen Stoffknäuel: Bewegen, innehalten in einem dynamischen Zusammenhang, beschleunigen, abbremsen. Wirklich ganz einfach, etwas schneller eben.

Aber in der Begegnung mit den Schraten war Adam ganz alleine gelassen. Eine kühle Betrachtung wie bei Auffindung einer verlässlichen Technologie nutzte da nichts. Schon der einfachste und denkbar existentiellste Wenn-dann-Zusammenhang war im Ergebnis ungewiss: Wenn er aus dem Auto ausgestiegen wäre, hätten die Lebewesen aus dem Wald ihn dann noch gewähren lassen? Oder wären sie mit schnellen, weiten Sprüngen über ihn hergefallen, hätten ihre langen Krallen in sein Fleisch geschlagen und es bis auf die Knochen heruntergerissen? Wenn er nur für den Bruchteil einer Tausendstelsekunde später auf die Bremse gestiegen wäre und einen aus der Gruppe angefahren hätte, hätten sie dann nicht blutige Rache an ihm genommen? Wenn sie ihm nachts aufgelauert hätten, und er sich nicht Gesten mit ihnen hätte austauschen können, wäre ihm die rettende Geste der Beschwichtigung aufgefallen, die schließlich die Rettung bedeutete?

Schon diese Fragen wären geeignet gewesen, Adams rauschende Gedanken in einem ausweglosen Karussell gefangen zu halten. Um ein Vielfaches qualvoller wurde es für ihn durch den Zweifel, ob dieses Erlebnis, über dessen hypothetischen alternativen Verlauf er sich bis ans Ende seiner Tage den Kopf würde zerbrechen können, ob also dieses Erlebnis überhaupt real geschehen war. Waren da draußen diese Schrat-artigen Wesen? Und hatten sie ihn tatsächlich angehalten und in Augenschein genommen und ihn dann mit der Aufforderung weiterfahren lassen, wiederzukommen? Gab es neben der erklärbaren, durch gehörige Anstrengung des Verstandes in jedem Winkel zu enträtselnden Welt der Stadt noch eine andere und schon im Einfachsten unerklärliche Welt der Wälder, Flüsse und Hügel?

Schnell wurde es Adam bewusst, dass er sich nur auf eine Weise aus dem quälenden Ringen mit seiner Erinnerung würde lösen und Gewissheit erlangen können: Er musste wieder dort hin, musste zurückkehren und noch einmal den Schraten gegenüberstehen. Das versprach natürlich nur für den Fall eine sichere Lösung zu sein, dass er die Lebewesen tatsächlich wieder antreffen würde. Dann könnte er, einem rational zusammengefügten Gerüst von Handlungsschlüssen folgend, verifizieren, dass die Schrate wirklich dort waren. Träfe er sie nicht an, wäre der Schluss auf ihre fehlende Existenz indes nicht zwingend. Das könnte ebenso gut bedeuten, dass sie sich ihm nicht zeigen wollten, womöglich weil sie darüber bestimmen wollten, wann er sie antreffen konnte. Aber versuchen müsste er es. Solange es die Möglichkeit eines ganz anderen Daseins da draußen vor der Stadt und übrigens keine Autostunde von der Kyser Innenstadt entfernt gab, so lange würde er in seinem gefestigten Weltbild nicht mehr zufrieden leben können. Zu dumm nur, dass er den Negativ-Beweis viel schwieriger führen konnte, als den positiven Nachweis der Existenz dieser Lebewesen. Selbst wenn er hundertmal in den Wald rannte, ohne die Schrate wieder zu treffen, könnte er überzeugt sein, dass es sie doch nicht gab, dass er sich zwölf Tage zuvor so sehr getäuscht hatte? Schlimmer noch war natürlich die Gegenfrage: Wie würde er es mit seinem Weltbild und seinem Leben in der Gesellschaft der Stadt vereinbaren können, wenn er die Schrate wiederfand?

Es hatte keinen Zweck, weiter zu grübeln, überhaupt keinen. Er musste handeln, bald. Aber er verzagte bei der Vorstellung, noch einmal ganz alleine den Schraten gegenüberstehen zu müssen. Würde er sich überwinden können, alleine in den Wald zurückzugehen und sich alleine und ungeschützt den Schraten auszusetzen? Vielleicht wäre es angebracht, ein Eimerchen leckerer Fleischsoße mitzunehmen, damit die armen Kerls sein sehniges Muskelfleisch nicht ganz so trocken runterwürgen mussten, ha ha.

Wo Carlo nur blieb? Heute ist er besonders saumselig, jetzt ist er schon fast fünfundzwanzig Minuten zu spät, aus der Partie Magno-Squashen zum Aufwärmen vor dem Squitten wird nichts mehr werden. Mensch Carlo, das kann doch nicht wahr sein. Halt! Das kann doch nicht wahr sein, dass er diese Möglichkeit übersehen hat! Er musste Carlo überreden, mit in den Wald zu gehen. Natürlich durfte er ihm nicht sagen, was er da draußen suchte. Der hätte ihn im besten Fall ausgelacht, nein, da musste er sich noch etwas Gutes zur Überredung einfallen lassen. Da kommt Carlo endlich in den Clubraum gepoltert, eine Truppe von fünf der Jungs im Schlepptau. Ganz Sportsmann trägt er seine monströs zu große Sporttasche mit der rechten Hand über der Schulter. Als er Adam entdeckt, klopft er einem der Jungs auf die Schulter und bedeutet ihnen, schon einmal in die Umkleide zu gehen. Dann schlendert er lässig zu Adam herüber, der ihn mit verschränkten Armen und auf seiner Unterlippe kauend ohne eine Regung herankommen lässt.

„Adam, alte Humpe, halli-hallöchen“, tönt Carlo fröhlich über den Tisch, lässt erst seine Tasche und dann sich selber genüsslich auf die gepolsterte Bank mit der hohen Lehne plumpsen, „sorry, ich hab echt gerade sooo viel um die Ohren. Ich hab dir doch von dem Prof erzählt, für den ich diese Forschungsarbeit leite? Mann, ich hab dem alten Spinner jetzt schon dreimal gesagt, dass das auch jemand anders machen könnte. Ich hab ja schon so einen Wahnsinns-Stundenplan, aber nein, der Feinman muss es machen. Ja, das sagt er immer und wiegt dann dabei bedeutungsschwanger seinen Kopf. Kinder, sagt er, der Feinman muss es machen. Und deshalb muss es der Feinman machen. Du siehst, ich bin leider unabkömmlich gewesen“, schließt er, als hätte er mit mathematisch zwingender Logik bewiesen, dass die Forschungsarbeit es unabweislich erforderlich gemacht hätte, beinahe eine halbe Stunde später als verabredet aufzutauchen.

So ganz mag sich Adam dieser Logik wohl noch nicht ergeben. „Du bis über eine halbe Stunde zu spät“ sagt er in ruhigem Ton und ohne jeden Gruß, seine Wartezeit freilich in vorwurfsvoller Absicht großzügig aufrundend.

„Ja klar, Mann, sag ich doch, es ist gerade sooo unglaublich viel zu tun für mich“, grinst Carlo ohne die Spur einer werthaltigen Entschuldigung zurück.

„Wie immer.“

„Ja, Mann, wie immer. Da geht’s voll ab bei mir an der Regierungsuni, ich bin voll in die Turbo-Studiengruppe reingerutscht. Vielleicht haben mich die Profs da auch absichtlich rein bugsiert, na, zuzutrauen wäre den alten Schinderknechten das.“ Sein huld- und verständnisvolles Großvater-Lächeln, mit der er diese Klage über sein Los würzt, gibt unmissverständlich zu verstehen, dass er an die Möglichkeit, in eine besonders umtriebige und schnell arbeitende Studiengruppe eingeschleust worden zu sein, nicht nur glaubt, sondern fest davon überzeugt ist. Und dass er das auch für eine völlig sachgerechte, seinen Fähigkeiten angemessene Maßnahme der Ausbildungsleitung durch die Professoren hält.

„Über eine halbe Stunde, Carlo. Das Magno-Squashen können wir vergessen.“

„Was ist denn los, Adam, schönen guten Tag übrigens, Herr Regierungshilfsbremser, freue mir auch schon ’n zweites Loch in den Arsch, dich zu sehen. Krieg dich mal wieder ein. Dann spielen wir halt am Wochenende eine doppelte Partie Magno-Squash. Hat ja auch sein gutes, dann musst du nur einmal in dieser Woche zugeben, wer den goldenen Schlag des Meisters hat. Siehst übrigens richtig scheiße aus. Krank?“

Da übertreibt Carlo es ausnahmsweise einmal nicht mit seiner juvenil-schmissigen Wortwahl. Adams Augenringe wirken in seinem blassen Gesicht um so dunkler, schon beinahe blau-schwarz. Er ist schmaler geworden in den letzten Tagen, sein Wangenknochen treten viel deutlicher hervor und sein Blick springt unruhig umher. „Nein, nicht krank“, antwortet Frank, „überhaupt nicht.“

„Aah, verstehe, so so. Herr Doktor, Herr Doktor, es zwickt ganz woanders. Ja, lieber Adam, die Frauen, die Frauen. I hear you calling and it’s needles and pins, wie der Klassiker spricht, stimmt’s etwa nicht?” Carlo lacht ein überlegenes Lachen des erfahrenen Mannes. Adam erkennt wieder einmal, dass er ihn genau dafür als seinen besten Freund mag und schätzt, dass Carlo immer nur so tut, als wäre er ein Riesenarschloch. Und dann auch noch mit Klassikerzitat, oha! „Aber, Monsieur“, fährt Carlo anzüglich grinsend fort, „ ich muss schon sagen, das nenne ich schnell gehandelt. Wie lange ist das jetzt her, dass du die beiden Mädels am Fluss getroffen hast? So ungefähr einen Monat? Und schon dran an ihr? Respekt, Respekt, wenn es mal mit dir durchgeht, hab’ ich es doch immer gewusst.“

Adam schrak zusammen. „Woher weißt du, dass sie es ist?“

Carlo gefiel sich immer noch in der Rolle des väterlich überlegenen Freundes, tätschelte Adam jetzt sogar auf die Schulter. „Na hör mal, da hätte ich ja blind und taub sein müssen. Und dann hat man ja auch noch so seine Quellen als gut informierter Networker. Vorsicht übrigens, unser guter Oskar hat mir da so etwas erzählt.“

„Ach ja? Was denn?“

„Na, dass mit ihrem Ex gar nicht gut Kirschen ist.“

„Ihrem Ex?!?“

„Dieser Proletten-King, der dir eine verpasst hat. Schon vergessen? Oder war das der für dich der süße Geschmack der Minne, als er dir eine eingeschenkt hat? Ich wäre jedenfalls ein bisschen vorsichtig. Ich meine, klar, schön für dich, dass du dir seine Hammer-Blondine geschnappt hast, aber ich an seiner Stelle wäre jetzt so sauer, dass ich es beim nächsten Mal vielleicht nicht bei einer Backpfeife belassen würde. Wer weiß, vielleicht ist das so ein armer Schlucker aus einer der Fabriken, dessen ganzer Stolz diese Perle, äh, Entschuldigung, diese reizende junge Dame war, und jetzt schiebt er den Riesen-Sozialfrust, weil ein smarter Jung-Akademiker ihm die Holde ausgespannt hat.“

Adam gibt sich alle Mühe, seine Erleichterung zu verbergen. Carlos legendäres Geschick im Erfassen zwischenmenschlicher Lagen hat ihn diesmal im Stich gelassen und nun ist er vor lauter Vertrauen in seine analytische Gabe davon überzeugt, Adam sei mit Sandra zusammen. Eigentlich müsste er ihn gleich aufklären, den besten Freund sollte man selbst dann nicht verarschen, auch wenn der sich selber in seinen Irrtum reinmanövriert hat. Aber heute ist Adam doch ein wenig sauer auf Carlo und überhaupt der Meinung, er könnte jetzt umgekehrt auch ein bisschen Arschloch spielen.

„Okay, genug gelabert“, sagt Adam und trinkt sein Fitness-Wasser aus. „Jetzt krieg mal den Arsch hoch und beweg ihn in die Umkleide, sonst wird er noch fetter.“

„Danke, Papa. Ganz wie du meinst, Master“ grinst Carlo zurück.

„Wenn es mit dem Magno-Squashen nichts mehr wird, können wir ja noch eine Runde aufs Laufband“ schlägt Adam vor.

„Da hab ich doch ’ne glatt bessere Idee: Wir squitten gleich los.“

„Wir haben den Platz doch erst später. Und sind wir denn schon sechzehn?“

„Ruhig, Brauner, das machen wir schon. Wir schnappen uns drei von den Balljungen und spielen zum Warmwerden eine Runde fünf gegen fünf.“

„Meinst du, der Platzwart macht was mit?“

„Jetzt schalt mal dein süßes Kleinhirn aus, Schätzchen, und lass den großen Bruder machen. Der Platzwart schuldet mir sowieso nach was, so viele Teams wie ich ihm hier schon angeschleppt habe. Und wenn er doch rumzickt, schiebe ich ihm halt einen Fuffi rüber.“

„Ganz der großzügige Global-Player, unser Carlo“, denkt Adam bei sich, grinst ein schiefes Grinsen, das in seinem blassen und mageren Gesicht ein klein wenig nach Totenkopf aussieht, und geht mit Carlo in die Umkleide.

Adam keucht. Schweiß rinnt ihm schon wieder in die Augenbrauen und droht ihm in die Augen zu laufen. Das Polster seines Helms muss jetzt schon klatschnass sein. Das Horn zum Anstoß dröhnt. Bevor Adam losfährt, wirft er einen schnellen Blick auf die Hallenuhr, verdammt, gerade einmal gut zehn Minuten gespielt, und er ist schon am Ende. Die Jungs geben aber auch Gas wie die Teufel. Das ist bestimmt kein gemächliches Studenten-Squitten. Sie laufen los als würden sie mit bloßen Füssen über heißen Asphalt rennen, und beschleunigen durch diese Verstärkung des elektromagnetischen Antriebs natürlich auf irrwitzige Geschwindigkeiten. Besonders die drei Balljungen, alle zwei oder drei Jahre jünger als die Jungs aus der Clique, heizen die Partie so richtig an. Klar, die machen den ganzen Tag nichts anderes, als unvollständige Mannschaften zu ergänzen und über die Spielebene zu sausen. Und jetzt wollen sie es den etwas schnöseligen Studenten natürlich zeigen, wie es richtig läuft. Bestimmt hat einer von denen am Spielsystem eine Profi-Einstellung gewählt, das Feld kommt Adam ziemlich hart vor. Aber jetzt ist keine Zeit zum Nachdenken mehr. Das Spiel läuft, Adam fährt los, seine Mannschaft greift an, Sammy fährt nach vorne, nichts wie hinterher. Na gut, nichts übertreiben, Adam lässt sich mit der heimlichen Ausrede zurückfallen, dass ja auch jemand den Konter aufhalten muss, wenn die Jungs es vorne mal wieder nicht gebacken kriegen. Da ist es natürlich schon passiert: Carlo natürlich wieder, der stürmt, kaum dass er Sammy den Pinger abgenommen hat, mit der Wucht eines Lastwagens los. Okay, das ist machbar, wenn Carlo lospoltert, dann geht sein Überschuss an Kraft zu Lasten eines Mangels an Übersicht und Plan. Es sei denn der kleine Scheißer von Balljunge aus Carlos Team hält sich für einen Querpass bereit – da drüben läuft er auch schon an. Was jetzt – den Pass abwarten und abfangen oder auf Carlo drauf? Und was ist das, Carlo schaut sich doch tatsächlich nach einer Anspielstation um, da holt er auch schon zum Schlag aus, na warte, Freundchen, den wird Adam sich pflücken, und dann wird er höchstpersönlich den ersten Punkt für sein Team holen. Da kommt der Pass, gar nicht so schnell wie Adam es erwartet hatte, jetzt einen kleinen Ausfallschritt nach vorne, Spielstab hoch – Mist! Verdammter Mist, verfehlt! Der geht durch, schnell wenden, oh nein, das darf doch nicht wahr sein, gestürzt! Hingefallen wie ein Anfänger, verdammte Kacke! Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Huch, der Boden rast auf mich zu! Nein, es kann ja gar nichts passieren, schön ruhig durchkentern lassen. So jetzt ist Adam wieder oben. Wie viele Sekunden haben die anderen den Pinger jetzt schon in der Trefferzone? Schnell, schnell, vielleicht lässt sich da noch was machen – ach nein, da tönt schon wieder das Punktehorn, die Hallenorgel lässt eine clowneske Melodie ertönen. Vier zu null, verdammt!

Sammy sieht etwas angefressen aus, mindestens. „Was war denn das für ’ne Nummer?“ schnauzt er Adam an

„Zirkusreif!“ ergänzt Carlo rufend. „Hoffentlich hat das jemand aufgenommen!“

„Da hättest du uns vorne mehr geholfen, echt jetzt!“ schimpft Sammy. Da gibt es nichts hinzuzufügen. „Vielleicht magst du diesmal ja doch wieder mit nach vorne kommen?“

„Ja, ’tschuldigung,“ keucht Adam und beeilt sich, wieder auf die Ausgangsposition für den Anstoß zu kommen. „Klar, mache ich.“ Das kann ja heute noch was werden.

Das Spiel geht weiter, diesmal gelingt es Adams Mannschaft mit einigem Glück, einen stabilen Spielzug nach vorne aufzubauen. Die Trefferzone der Gegner ist erreicht. Nun müssen sie sich etwas überlegen, um den Pinger zu halten. Dabei ist es natürlich keine Möglichkeit, den Pinger einfach bei einem der Spieler zu belassen, der sich dann die Gegner vom Leib zu halten versucht: Wenn drei, vier, fünf Gegenspieler auf dich einstürmen kannst du noch so wild mit dem Spielstab rumfuchteln, den Pinger bist du schnell los. Außerdem ist dieses Spielsystem hier mit der Variante des zwingenden Passes in der Trefferzone programmiert. Das heißt der Pinger entwickelt nach einer voreingestellten Zeit, höchstens vier Sekunden, automatisch eine Bewegung vom Spielstab weg, die nicht mehr einzufangen ist. Also schnelles, sicheres Passspiel. Die simpelste Variante ist der Kreisel, die Bildung eines Vielecks, in dem der Pinger von einem Eckpunkt zum nächsten gespielt wird. Komm schon, Adam, reiß dich ein bisschen zusammen, das ist wirklich nicht so schwer. Sammy steht wunderbar frei, das ist gar kein langer Pass. Nur schnell muss es gehen. Da kommt Carlo schon herangepoltert. So, das wäre geschafft, der Pass ist geglückt, Sammy spielt sofort weiter, gut so, oh nein, die nächste Station ist blockiert, jetzt müssen wir den Kreisel abkürzen. Adam beobachtet die Spieler mit einer Distanz als betrachte er eine Videoaufzeichnung. Er sieht die Bewegung ihrer Spielstäbe, sie halten sich bereit für die Aufnahme des Pingers, vollführen dabei eine gemächliche Auf- und Abbewegung, hat das nicht etwas von einer Geste des Beruhigens? Adam schaut und staunt.

„Geh doch nach vorn, du Dackel“ hört er da Sammy brüllen, der nun seine Wut überhaupt nicht mehr verbirgt. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Zack, jetzt ist der Pinger weg, der Balljunge in ihrer Mannschaft hatte keine Anspielstation. Adam hätte nur ein wenig nach vorne gehen müssen, dann wäre da ein Pass drin gewesen, aber er war einfach stehen geblieben, gedankenverloren vor sich hin starrend. Was jetzt passiert, ist ja klar: Schneller Konter von Carlos Mannschaft, fix haben sie einen sicheren Kreisel aufgebaut, die fünf Sekunden in der Trefferzone verfliegen wie ein Wimpernschlag und schön trötet wieder die Hupe und die dämliche Orgel dudelt los. Fünf zu null, na sauber!

„Nicht dein Tag, was?“ meint Carlo auf dem Weg zum Anstoßpunkt zu ihm, dabei grinst er zwar, aber Adam kann auch erkennen, dass sich jetzt ehrliche Besorgnis in seinen Spott mischt. „Bist du vielleicht doch irgendwie krank? Sollen wir aufhören?“

Adam will sich jetzt bestimmt kein Mitleid anhören, jedenfalls noch nicht. „Nee, geht schon, gleich hau ich euch weg, versprochen.“

Daraus wird selbstverständlich nichts, Adam findet einfach nicht ins Spiel und muss nach jeder Aktion froh sein, wenn er nicht einen totalen Bock geschossen hat. Zweimal kann er das leider nicht mehr verhindern in der eigentlich nur als Aufwärmphase gedachten Partie fünf gegen fünf. Beide Male führen seine Fehler zu prompten Gegentreffern. Zum Glück ist der Balljunge in ihrer Mannschaft so gewitzt, dass wenigstens noch zwei Anschlusstreffer gelingen. Sieben zu zwei ist aber bestimmt keine Meisterleistung. Endlich ist es vorbei, die anderen Jungs warten schon auf dem Spielerrang darauf, dass das eigentliche Spiel beginnt. Die Partie wird beendet und die Gangway wird hereingefahren. Carlo kommt zum Abklatschen zu Adam geglitten.

„Boah, die kleinen Scheißer haben uns ganz hübsch Dampf gemacht. Kleine Pause erst mal? Keine falsche Scham, du bist nicht der einzige, der nicht gleich weiterspielen kann. Die Jungs meinen auch, sie müssten ’ne Runde aussetzen.“

Und so verlassen sie alle die Spielebene, die neu dazu Gekommenen maulen zwar, sie würden jetzt auch gerne endlich loslegen, aber dann plaudern sie doch fachsimpelnd mit denen, die sich schon etwas abgekämpft auf die Bänke fallen lassen.

„Hammer Spiel“ kommentiert Carlo knapp, trinkt aus einer Wasserflasche.

„Jedenfalls für euch.“

„Ach was, jetzt hab dich doch nicht so. Ums Ergebnis geht’s doch gar nicht, wenn es eine gute Partie war. Und das war es mal auf jeden Fall.“

„Prima, Sportsmann, ich erinnere dich dran, wenn du das nächste Mal fünf Punkte hinten liegt.“ Das klingt jetzt viel gereizter, als Adam es eigentlich hätte sagen wollen. Er will keinen Streit mit Carlo, der sich im Verlaufe der Partie genug abreagieren konnte, um die ganze Großkotzigkeit von vorhin hinter sich zu lassen.

„Mach das“, entgegnet Carlo gelassen, auch er ist nicht auf Krawall gebürstet, ignoriert Adams Provokation oder schluck sie zumindest ohne Murren. „Ey, da biste echt Ruckzuck aus der Übung raus. Merkt man erst so richtig, wenn man mal mit ’nem ordentlich programmierten System spielt. Wir können uns ja beim nächsten Mal die Balljungs als Sparingspartner engagieren. Die bringen uns richtig in Schwung. Nicht, dass wir demnächst auf Seniorenmodus gesetzt werden.“

„Da sagste was, man muss echt dranbleiben. Und halt auch mal was riskieren, was nicht garantiert funktioniert“ pflichtet Adam ihm bei.

„Und Fitness“ ergänzt Carlo, „es geht schon um Fitness, wenn du nicht das Programm alles machen lassen willst. Das ist ein ganz anderes Spiel, wenn du mal selber losläufst. Ich glaube, uns allen würde ein richtig intensiver Fitness-Block echt gut tun.“

„Hm.“ Was ist denn jetzt das wieder für eine Supertyp-Idee aus dem Hause Feinman?

„Ohne Scheiß“, erläutert Carlo. „Das ist auch gar kein Akt. Da gibt’s echt gute Angebote von Sportzentren für Trainingswochenenden. Ist zwar ein bisschen klösterlich, aber man soll sich ja auch nicht am Abend in der Disco die Fitness wegsaufen, die man sich tagsüber mühsam antrainiert hat.“

„Klösterlich? Wie das denn?“

„So in ländlicher Einsamkeit und so. Das sind vor allem Hotels draußen auf dem Land, die solche Pakete anbieten. Samstag auf Sonntag, wenn man will auch als verlängertes Wochenende von Freitag bis Montag.“

Fitnesswochenende auf dem Land? Eine Idee keimt in Adams Kopf. Etwa ein gemeinsamer Ausflug ins Lupinental? „Was... was sind denn das so für Hotels?“ fragt Adam vorsichtig und ermahnt sich im selben Moment, möglichst unbeteiligt zu wirken.

„Keine Ahnung, ich hab auch nur vor kurzem so eine Netz-Werbung gelesen. Das ist wohl so ein Ding, um die Hotels da draußen ein bisschen mit neuen Gästen zu versorgen.“

„Ach so? Ich war da gerade in so einem Sporthotel, vorletztes Wochenende.“

„Echt? Was hast du denn da gemacht?“

„Ich war, ähm, ich musste..., musste sie abholen, also genau genommen hatte sie mich angerufen, weil sie Stress mit dem Typen hatte, mit dem war sie nämlich da draußen, und dann wollte sie nicht mehr mit ihm in die Stadt zurückfahren.“ So formuliert, war nichts Unwahres daran.

„Oha! Und du bist als Ritter auf dein edles Ross gehüpft, um die in Not Geratene aus den Klauen des Unholdes zu befreien?“

„So ungefähr, aber leider war der Unhold schon abgedampft, als ich rauskam.“

„Leider? Ich würde mal sagen, da hast du schon wieder Schwein gehabt. Ich sag’s dir, der Kerl ist nicht nur ein Trottel, sondern auch ein Trottel, bei dem du echt aufpassen musst. Wirklich.“

Zeit für einen Themenwechsel. „Na, wie auch immer, also in dem Hotel da gab es jedenfalls ein ganz groß aufgemachtes Sportprogramm, überhaupt ist der ganze Laden als Sporthotel hergerichtet. Sah echt ganz gut aus.“

„Wie heißt der Schuppen denn?“

„Lupinental.“

„Hm, sagt mir jetzt nichts, aber klingt doch eher nach ’nem urgemütlichen Alte-Knacker-Idyll. Das muss aber nichts heißen, die meisten Sporthotels sind umgebaute Absteigen für den alternden Naturliebhaber. Wo liegt das denn?“

„Ganz einfach die Schnellstraße raus, immer weiter, irgendwann zweigt da ein kleines Flusstal ab, das immer weiter, insgesamt etwas mehr als eine Stunde von der Innenstadt mit dem Auto.“

„Ach, wart mal, liegt das so etwas abgeschirmt hinter einem Hügel?“

„Ja, genau.“

„Dann hab ich das in der Werbung gesehen. Das klang wirklich ganz gut, und war auch gar nicht teuer.“

„Hm.“ Adam schluckt. Soll er Carlo da jetzt wirklich mit reinziehen? Ohne ihm vorher was zu sagen? Er könnte ihm ja später noch einen Tipp geben. „Könnte man ja mal ausprobieren. Also, wenn du Lust hast, können wir uns da von mir aus mal eine volle Ladung Fitnessprogramm geben.“

„Ernsthaft?“ fragt Carlo.

„Klar, warum nicht. Kannst ja mal schauen, ob du Zeit hast. Wenn du willst.“

„Auf jeden Fall will ich, das ist doch mal eine Abwechslung zu den Sportzentren hier in der Stadt. Das ist eine sehr gute Idee, Adam.“

In der Tat, eine sehr gute Idee. Da muss man erst mal drauf kommen, seinen besten Freund so anzuschwindeln und ihn mit geheucheltem Interesse an einem doofen Fitness-Wochenende aufs Land zu locken.

„Was ist jetzt mit euch Tratschtanten?“ ruft Sammy zu ihnen rüber. „Wir haben das Feld nicht den ganzen Abend. Oder müsst ihr euch noch ausruhen.“

„Ruh dich doch selber aus, du Penner“, gibt Carlo mit voll wiederhergestellter Angriffslust zurück, „jetzt zeigen wir euch mal, was ein Dreamteam ist. Los geht’s Partner, jetzt spielen wir aber zusammen, und dann hauen wir denen die genialsten Pässe der Welt um die Ohren. Stimmt’s, Partner?“

Stimmt – Partner.

Adam Bocca im Wald der Rätsel

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