Читать книгу Ich und Selbst - Timo Storck - Страница 13
2.2 Exkurs: Freuds »Selbstanalyse«
ОглавлениеDie ersten Meilensteine in Freuds Werk sind die 1895 mit Breuer veröffentlichten Studien über Hysterie sowie der 1895 niedergeschriebene Entwurf einer Psychologie, außerdem entwirft Freud viele seiner Gedanken in Manuskripten, die er an seinen Freund Wilhelm Fließ schickt (Freud, 1985). Insbesondere im Anschluss an den Tod seines Vaters im Herbst 1896 unternimmt Freud seine von ihm so genannte »Selbstanalyse«. Der Tod hinterlässt bei ihm »ein recht entwurzeltes Gefühl« (Freud, 1985, S. 212f.; Brief an Fließ vom 2.10.1896). Die Zeit zwischen Juni und November 1897 gilt als die Zeit der Selbstanalyse, in der Freud sich unter anderem mit eigenen Träumen auseinandersetzt (viele davon sind in der Traumdeutung publiziert; Freud, 1900a), beispielsweise mit dem »Traum von Irmas Injektion«, der in Freuds Assoziationen dazu einiges von seinen Unsicherheiten über den Wert seiner Arbeit zeigen.
Es ist eine Zeit des Umbruchs, an deren Ende mit der Traumdeutung und der Grundlegung der infantilen Psychosexualität wichtige Werke und konzeptuelle Bestandteile der psychoanalytischen Theorie stehen. Freud geht dazu durch eine persönliche Krise, die mit dem Verlust seines Vaters zu tun hat, sowie mit Überlegungen dazu, wie es mit seiner wissenschaftlichen und nervenärztlichen Karriere weitergehen wird. An Fließ schreibt er: »Ich habe übrigens etwas Neurotisches durchgemacht, komische Zustände, die dem Bewußtsein nicht faßbar sind. Dämmergedanken, Schleierzweifel […] Ich glaube, ich bin in einer Puppenhülle, weiß Gott, was für [ein] Vieh da herauskriecht« (Freud, 1985, S. 271f.; 22.6.1897). Im selben Brief heißt es auch: »Was in mir vorgegangen ist, weiß ich noch immer nicht; irgend etwas aus den tiefsten Tiefen meiner eigenen Neurose hat sich einem Fortschritt im Verständnis der Neurosen entgegengestellt« (a. a. O., S. 272). Freud nutzt diese an sich selbst beobachteten Phänomene zu einem Verständnis dessen, was sich dem Bewusstsein und der Reflexion entgegenstellt, indem er Überlegungen zum Verhältnis von Abwehr und Traum anschließt.
Freud meint wenig später weiterhin: »Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst. […] Die Analyse ist schwerer als irgendeine andere. […] Doch glaube ich, es muß gemacht werden und ist ein notwendiges Zwischenstück in meinen Arbeiten.« (a. a. O., S. 281; 14.8.1897) Die Auseinandersetzung mit der eigenen Innenwelt führt zum konzeptuellen Wandel. Am 21.9.1897 fällt der berühmte Satz: »Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr« (a. a. O., S. 283), der die Revision der Verführungstheorie einleitet. Freud meint, seine Theorie, nach der in jedem Fall einer hysterischen Neurose eine konkrete sexuell-übergriffige »Verführung« vorgelegen hat, erweitern zu müssen, indem nun auch der Einfluss von Wunsch, Verbot und Fantasie Berücksichtigung findet (es wird also nicht die Realität von Missbrauchserfahrungen geleugnet, sondern eine weitere Perspektive hinzugefügt). Eine besondere Rolle spielt dabei die Konzeption ödipaler Wünsche und Konflikte, die Freud seiner Selbstanalyse sowie dem Umstand entnimmt, dass die menschliche Kulturgeschichte, namentlich Sophokles’ Drama Ödipus Rex, sich wiederholt mit dem Mord am Vater und dem Hingezogensein zur Mutter beschäftigt hat. In einem Brief vom 15.10.1897 schreibt Freud an Fließ, er habe die »Verliebtheit in die Mutter« und die »Eifersucht gegen den Vater« »auch bei mir gefunden« (Freud, 1985, S. 293). Auch in Auseinandersetzung mit dem, was Freud als seine eigene Neurose bezeichnet, kommen ihm Zweifel am übergriffigen Einfluss des Vaters auf die Neurosengenese. Er reflektiert die Bedeutung eigener Träume und Erinnerungen an das Hingezogensein zur Mutter und gerät so auf den Weg einer Konzeption der Gefühle und Fantasien gegenüber Vater und Mutter. Wiederholt ist eine Art der Selbstbeobachtung die Grundlage für beginnende theoretische Konzeptualisierungen.
Freuds »Selbstanalyse, die ich für unentbehrlich halte zur Aufklärung des ganzen Problems« (a. a. O., S. 288; 3.10.1897), »ist in der Tat das Wesentlichste, was ich jetzt habe, und verspricht von höchstem Wert für mich zu werden, wenn sie bis zu Ende geht.« (a. a. O., S. 291; 15.10.1897) So berichtet er auch von Unterhaltungen mit seiner Mutter und weiteren eigenen Erinnerungen: »Ganz leicht ist es nicht. Ganz ehrlich mit sich sein ist eine gute Übung.« (a. a. O., S. 293)
Auch wenn aus heutiger Perspektive gesagt werden muss, dass eine alleinige Selbstanalyse, also das, wie ehrlich auch immer vollzogene, Nachdenken über eigene Träume, Gedanken und Gefühle recht schnell an ihre Grenzen stößt, wenn es um das Gewahrwerden des (dynamisch) Unbewussten geht, so bleiben Freuds Bemerkungen doch beeindruckend, sie dokumentieren das persönliche Ringen (und den Weg, den er durch die Theoriebildung heraus findet!) (vgl. zum Prozess von Produktivität und Niedergeschlagenheit auch z. B. Alt, 2016, S. 254f.). Am 31.10.1897 schreibt er: »Meine Analyse geht weiter, bleibt mein Hauptinteresse, alles noch dunkel, selbst die Probleme, aber ein behagliches Gefühl dabei, man braucht nur in seine Vorratsräume zu greifen, um seinerzeit herauszuholen, was man braucht.« (Freud, 1985, S. 298) Ebenso zeigen sich die Widerstände in diesem Prozess: »Meine Selbstanalyse stockt wieder einmal, besser, sie träufelt so langsam weiter, ohne daß ich etwas von ihrem Verlauf verstehe.« (a. a. O., S. 299, 5.11.1897) Auch dies erfährt eine Konzeptualisierung: Der Gedanke des Widerstands, hier noch nicht direkt auf den Behandlungsprozess, so doch aber auf die Aufdeckung des Verdrängten bezogen, wird zu einem Kernelement der weiteren Theorie.
Am 14.11.1897 gibt es einen wortreichen Brief mit Gedanken zu Sexualentwicklung, Verdrängung und Neurosenwahl. Freuds Ringen setzt sich fort, aber zunehmend geht es darum, dass er theoretische Überlegungen entwickelt, ohne die er seine Selbstanalyse und Reflexion nicht weiterführen zu können glaubt: »Meine Selbstanalyse bleibt unterbrochen. Ich habe eingesehen, warum. Ich kann mich nur selbst analysieren mit den objektiv gewonnenen Kenntnissen (wie ein Fremder), eigentliche Selbstanalyse ist unmöglich« (a. a. O., S. 305). Außerdem bemerkt Freud, selbstironisch: »Seitdem ich das Unbewußte studiere, bin ich mir selbst so interessant geworden.« (a. a. O., S. 310; 3.12.1897) Damit benennt er deutlich, wie eng seine Auseinandersetzung mit sich selbst und die Theoriebildung miteinander verknüpft sind. Am Ende dieses Prozesses steht der Beginn der Arbeit an der Traumdeutung ab Januar 1898 (veröffentlicht dann in 1899, vordatiert auf 1900). Die regelmäßige Korrespondenz mit Fließ endet in 1902 in der Folge eines Streits über das geistige Eigentum der Konzeptionen zur psychischen Bisexualität, einzelne Briefe folgen noch in 1904.
Für den weiteren Kontext von Freuds Selbstanalyse finden sich Kommentare bei Roudinesco und Plon (1997, S. 919ff.). In ihr sind die Grundzüge analytischer Selbstreflexion und Introspektion angelegt, es treten aber auch die Grenzen einer »Eigenanalyse« zutage; das Erkennen eigener unbewusster Erlebnisaspekte bedarf des Gegenübers beziehungsweise des konkreten Beziehungserlebens. Deserno (2014) benennt als eine Nebenbedeutung von »Selbstanalyse« noch die innere Arbeit von Analysandinnen zwischen den Stunden. Insbesondere ab 1909/1910 (besonders in der analytischen Arbeit C.G: Jungs mit Sabina Spielrein) werden Phänomene der Gegenübertragung deutlicher, so dass in den Folgejahren die erforderliche »kollegiale« Selbstanalyse/Lehranalyse eingeführt wurde. In der Arbeit mit Patientinnen ist es unerlässlich, die eigenen »blinden Flecke« kennengelernt zu haben, um so das eigene Erleben in der analytischen Beziehung zum Ausgangspunkt der Arbeit und der Interventionen machen zu können.