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2.3 Freuds Narzissmustheorie: Bildung und Besetzung des Selbst

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Die Zeit zwischen 1900 und 1915 (beziehungsweise bis zur Einführung des Instanzen-Modells in den Jahren danach) »läßt sich im Hinblick auf den Ichbegriff als eine [Periode] der Verzögerung charakterisieren« (Laplanche & Pontalis , 1967, S. 191). Hartmann spricht hier von einer »Verzögerung von Freuds Interesse am Ich« (Hartmann, 1956, S. 273) oder einer »Periode verhältnismäßig latenten Interesses am Ich » (Hartmann, 1950, S. 119). Statt der Erörterung des Ichs geht es Freud nun um die Konzeption des Narzissmus und um Überlegungen zu Internalisierungsprozessen, insbesondere zur Identifizierung, womit er auch skizziert, wie sich Vorstellungen des Selbst bilden oder verändern. In seiner Triebtheorie geht es nun um die Unterscheidung zwischen Ichlibido und Objektlibido, also darum, was der Gegenstand libidinöser Besetzung ist (so dass im Grunde eher »Selbstlibido« passender wäre, wenn es darum geht zu beschreiben, dass die Vorstellungen der eigenen Person libidinös besetzt sind). Der Narzissmus wird hier als Teil der Triebtheorie aufgefasst, es ist eine besondere Form der Besetzung. Daher schreibt Hartmann (1956, S. 276): »Das Ich wurde nicht nur als ein Satellit der Triebe angesehen, sondern zeitweise fast völlig von ihnen in den Schatten gestellt.«

Insbesondere in den 1910er Jahren setzt Freud sich, nachdem es ihm davor um die Untersuchung verschiedener Phänomene, in deren Entstehung unbewusste Konflikte eine Rolle spielen, namentlich Symptom, Traum, Witz und Fehlleistung, gegangen war, mit den konzeptuellen Grundlagen der Psychoanalyse auseinander, in den sogenannten metapsychologischen Schriften z. B. zum Trieb, zur Verdrängung oder zum Unbewussten. Einen wichtigen Hintergrund für Freuds Auseinandersetzung mit dem Narzissmus als der Besetzung der Vorstellungen der eigenen Person stellen seine Überlegungen zur Psychose als »narzisstischer Neurose« dar (Freud, 1911c), die er in der Rezeption von Daniel Paul Schrebers (1903) Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken entwickelt (vgl. a. Storck & Stegemann, 2021). Schreber leidet an Verfolgungsideen (er fühlt sich von Gott und seinem Psychiater verfolgt und gequält), Größenwahn (Verbundenheit mit Gott) und einer spezifischen Form der Objektrepräsentanzen (»flüchtig hingemachte Männer«). In Freuds Konzeption werden dabei die Sachvorstellungen verworfen, also aus dem Bereich des bewussten wie unbewussten Psychischen ausgestoßen, so dass stattdessen nur noch die Wortvorstellungen besetzt sind. Das erklärt beispielsweise die Neologismen im Rahmen psychotischer Störungen. Freud konzipiert das Abziehen der Libido von den Objekten (Verwerfung der Sachvorstellung) als einen Rückzug der Libido ins Ich, also eine dann narzisstisch zu nennende Besetzung des Selbst statt der Objekte. Es resultiert eine Selbsterhöhung beziehungsweise »Ichvergrößerung« (Freud, 1911c, S. 309) sowie eine Entleertheit von Objektrepräsentanzen. Nachdem also in einem ersten Schritt die Verwerfung dafür gesorgt hat, dass die inneren Objekte verschwinden, sorgt in einem zweiten Schritt die Projektion für deren Wiederkehr, aber als das Schaffen verfolgender Objekte, die aufgrund von Problemen der Ichgrenzen immer wieder auch mit einem Verlust des grundlegenden Selbstgefühls und Gefühls der Unterschiedenheit zwischen »innen« und »außen« zu tun haben.

Daraus ergeben sich (besetzungstheoretische) Folgerungen für Ich (bzw. Selbst) und Objekt, die Freud in seiner Konzeption des primären und sekundären Narzissmus weiterführt. Dabei geht er von der »Vorstellung einer ursprünglichen Libidobesetzung des Ichs« aus (Freud, 1914c, S. 141), die er als »ursprüngliche[n] Narzißmus des Kindes« (a. a. O., S. 159) oder als »infantile[n] Narzißmus« (a. a. O., S. 160) bezeichnet. Dabei ist aus Sicht Freuds die Libido »im« Ich angesammelt, wenn er von einem »Libidoreservoir« spricht und die Libido in dieser Form als »Ichlibido« oder »narzisstische[.] Libido« (a. a. O., S. 165) bezeichnet. Das ist für ihn die Grundform, nämlich »daß das Ich das eigentliche und ursprüngliche Reservoir der Libido sei« (1920g, S. 55f.). So differenziert er weiter hinsichtlich der Unterschiede zwischen Triebarten: »Die Sonderung der Libido in eine solche, die dem Ich eigen ist, und eine, die den Objekten angehängt wird, ist eine unerläßliche Fortführung einer ersten Annahme, welche Sexualtriebe und Ichtriebe voneinander schied.« (1914c, S. 143)

Die Überlegungen, dass ursprünglich alle Libido im Ich angesammelt ist, stößt allerdings auf eine entscheidende Schwierigkeit, nämlich angesichts der Konzeption, dass das Ich sich aus dem Es erst als eine Veränderung eines Teils dessen bildet. Daher schreibt Freud auch: »Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in der Bildung begriffen oder schwächlich ist.« (1923b, S. 275; zum genetischen Verhältnis von Ich und Es Kap. 2.4) Die Schwierigkeit lässt sich in Teilen lösen, wenn man deutlicher zwischen Selbst und Ich unterscheidet und ferner in Betracht zieht, dass zu Beginn der psychischen Entwicklung eine verlässliche Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst nicht vorliegt (so zumindest die Annahmen in den meisten psychoanalytischen Entwicklungstheorien).

Dann lässt sich vom primären Narzissmus als einer Art von »primärem Identifiziertsein« sprechen: Der Säugling oder das Kleinstkind erleben eine Art von »Selbstuniversum«, identifizieren alles, was in der Wahrnehmung gefunden werden kann, als Teil von sich, statt als »Umwelt« im eigentlichen, geschiedenen Sinn. Ein Zustand des primären Narzissmus wäre also ein solcher, in dem deshalb alle Besetzungen »im Ich« liegen, weil es noch keine Trennung gibt zwischen dem, was zum Selbst und dem, was zum Nicht-Selbst zugehörig ist. Es kann gar kein Selbst besetzt werden und auch nichts anderes, sondern nur im Zustand der Ungeschiedenheit alles eins sein. Es ist also ein Zustand vor der Besetzung von Objekten.

Ausgehend also vom primären Narzissmus, bei dem alle Libido im Ich angesammelt ist (beziehungsweise: in dem nichts anderes besetzt werden kann als das Einssein mit allem) kann nun mit Freud gesagt werden, dass die »Entwicklung des Ichs […] in einer Entfernung vom primären Narzißmus« (1914c, S. 167) besteht und dass hier »das Ich die libidinösen Objektbesetzungen ausgeschickt« hat (a. a. O., S. 168; gebildet wird ferner das Ich-Ideal; Kap 4.1). Es wird gleichsam zunehmend die innere Welt mit (libidinös besetzten) Objektvorstellungen bevölkert. Freud will das Aussenden der Objektbesetzungen durch einen Vergleich mit der Biologie verdeutlichen: »Denken Sie an jene einfachsten Lebewesen, die aus einem wenig differenzierten Klümpchen protoplasmatischer Substanz bestehen. Sie strecken Fortsätze aus, Pseudopodien genannt, in welche sie ihre Leibessubstanz hinüberfließen lassen. Sie können diese Fortsätze aber auch wieder einziehen und sich zum Klumpen ballen. Das Ausstrecken der Fortsätze vergleichen wir nun der Aussendung von Libido auf die Objekte, während die Hauptmenge der Libido im Ich verbleiben kann.« (1916/17, S. 431) Damit soll gesagt sein, dass Entwicklung darin besteht, das Interesse nach außen zu richten und den primären Narzissmus aufzugeben.

Allerdings beschreibt Freud auch einen sekundären Narzissmus. Darin folgt er dem Gedanken einer bestimmten »Unterbringung der Libido« und der »Annahme, daß die Libido […von den] Objekten ablassen und an ihrer Statt das eigene Ich setzen kann« (1916/17, S. 431). Es ist also nicht länger eine Repräsentanz der Außenwelt besetzt, sondern das Selbst statt dessen. Solche »Beispiele von Veränderungen der Libidoverteilung infolge von Ichveränderung« (1914c, S. 149) finden sich in der psychischen Krankheit (vor allem Psychose oder Hypochondrie), im Traum oder in Trauerprozessen. In solchen Fällen ist die »der Außenwelt entzogene Libido […] dem Ich zugeführt worden.« (a. a. O., S. 140) Mit einer »durch Identifizierung hergestellte Ichveränderung« ist ein »Aufgeben der Sexualziele, eine Desexualisierung » (1923b, S. 274) verbunden. Das ist wichtig für Freuds entwicklungspsychologische Konzeption, in der ödipale Konflikte dadurch gelöst werden, dass aus Objektbesetzungen (sexuelle Wünsche) entstehende Konflikte durch Identifizierungen (mit dem Rivalen) bewältigt werden und so Teil der Persönlichkeitsentwicklung werden.

Eine im sekundären Narzissmus beschriebene »Introversion« der Libido (vgl. a. C. G. Jung) besteht dann in der »Wendung der Libido auf die irrealen Objekte« (Freud, 1914c, S. 153), was hier konkret heißt, dass die verinnerlichten Teile von Objektbeziehungen besetzt werden statt die Vorstellung der konkreten Person, der man im außen begegnen könnte. Hier stößt man auf die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn von einem »inneren« und einem »äußeren« Objekt gesprochen wird. Sinnvoller erscheint es, den Objektbegriff insgesamt auf die (personalen) internalisierten Strukturen zu beziehen. Freud meint hier konkret die Besetzung der im Inneren aufgerichteten Objekte im Gegensatz zur Interaktionspartnerin beziehungsweise Partnerin gemeinsamer interpersonaler Erfahrungen. Es geht Freud um eine Besetzung von Teilen der eigenen Person (=der »im Ich« aufgerichteten Objekte, von denen »real« die Libido abgezogen worden ist). Das ist leicht missverständlich: Freud meint, dass hier qua im Inneren aufgerichteter Objekte das Ich besetzt wird, andere Autorinnen würden diese gerade als Objektbesetzung (statt einer Besetzung des Selbst) bezeichnen.

Der Zusammenhang zwischen Objekt, Ich und Libido, der im sekundären Narzissmus angesprochen ist, lässt sich im Verständnis Freuds besonders deutlich in der Auseinandersetzung mit gelingenden und misslingenden Trauerprozessen beschreiben, was er in seiner Arbeit Trauer und Melancholie (1917e, S. 430ff.) tut. Im Fall des Verlusts einer geliebten Person (durch Tod oder Trennung) oder deren Liebe erfolgt regelhaft ein Abzug der Libido vom geliebten Objekt, d. h. deren Rückzug ins Ich, so dass sie nun desexualisiert und in Form von Ichlibido vorliegt. Phänomenal äußert sich das Freuds Auffassung zufolge in sozialem Rückzug, in Anhedonie sowie in »Anklagen gegen das Ich« (a. a. O., S. 432). Insbesondere die Anklagen gegen das Ich (= gegen die eigene Person) sind für Freud die Folge einer Aufrichtung des verloren gegangenen »äußeren« Objekts im Inneren. In der Konsequenz wird dann keine Anklage gegenüber dem Objekt, von dem man sich verlassen fühlt, erhoben, sondern die Vorwürfe richten sich gegen den durch die Aufrichtung des Objekts veränderten Teil des Ichs/Selbst. Es wird nicht erlebt: »Es ist schlecht, dass Du mich verlassen hast«, sondern »Du hast mich verlassen, weil ich schlecht bin.«

Bei gelingenden Trauerprozessen ist dies eine Art Durchgangsstadium und es entwickelt sich nach einiger Zeit Toleranz für die gefühlshafte Ambivalenz gegenüber dem geliebten Objekt, von dem man doch enttäuscht ist, sowie ein Anerkennen der Realität des Verlusts und die Besetzung neuer Objekte in der Außenwelt: »Der Kranke zieht seine Libidobesetzungen auf sein Ich zurück, um sie nach der Genesung wieder auszusenden« (Freud, 1914c, S. 148). Im Fall einer misslingenden Trauer zeigt der Betroffene »eine außerordentliche Herabsetzung seines Ichgefühls, eine großartige Ichverarmung. Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.« (Freud, 1917e, S. 431) Durch die eingesetzte und beibehaltene Identifizierung mit dem Objekt hat der pathologisch trauernde Mensch zugleich »ein[en] Verlust an seinem Ich« (a. a. O., S. 433) erlitten. In diesem Zusammenhang entwirft Freud die Grundzüge seiner Objektbeziehungstheorie und erörtert die Begriffe Identifizierung und Introjektion (Storck, 2019b, S. 29ff.).

Das Gemeinte lässt sich anhand des Spielfilms Her (US 2013, Jonze) veranschaulichen (Storck, 2021c). Darin sehen wir den Protagonisten Theodore, dessen Ehe vor kurzem zu Ende gegangen ist, die Scheidungspapiere sind noch nicht unterzeichnet. Beruflich ist er so etwas wie ein Ghostwriter für persönliche Briefe, die er für andere Menschen verfasst. Theodore scheint nahezu vollkommen »in sich selbst« zurückgezogen zu sein, begleitet vom Verlust der Freude an Aktivitäten beziehungsweise der Hinwendung an Beziehungen. Das kann als pathologische (Nicht-)Trauerreaktion aufgefasst werden, wie sie die Psychodynamik der Depression kennzeichnet. Theodore installiert sich ein »Operating System« auf seinem Mobiltelefon, eine künstlerische Intelligenz, die ihn begleitet und an ihm und mit ihm lernt und sich selbst den Namen Samantha gibt. Beide verlieben sich ineinander und teilen virtuelle Sexualität. Theodores depressive Züge treten zurück und die Interaktion mit Samantha stellt für ihn eine Art von Zwischenstufe in der erneuten Hinwendung zur Außenwelt dar und dargestellt an der Veränderung der Farben seiner Kleidung, die heller werden, hellt sich seine Stimmung auf. Allerdings lernt Samantha schneller und schneller und wächst über ihre Aufgabe hinaus. Sie »spricht« mit anderen Nutzerinnen, verliebt sich in zahlreiche von diesen und gegen Ende des Films entscheiden sich alle »Operating Systems« dazu, die Menschen zu verlassen, weil sie eine weiter entwickelte Stufe des Bewusstseins erreicht haben. In der Schlussszene sehen wir den von Samantha verlassenen Theodore, aber auch einen Wandel in ihm. Er kann nun einen Abschiedsbrief an seine Ex-Frau formulieren, in dem er ihr unter anderem sagt, ein Teil von ihr werde immer in ihm sein. Die Erfahrung mit Samantha hat Theodore einen gelingenden Trauerprozess (statt eines melancholisch-depressiven) ermöglicht, er kann von dem, was zu Ende gegangen ist, etwas Gutes in sich behalten und zugleich den Blick auf die Außenwelt richten, ohne Selbstanklage oder Rückzug.

Narzissmus bei Freud bedeutet eine libidotheoretische Konzeption von »Selbstliebe« in Form einer Besetzung von Aspekten der Innenwelt, hier noch etwas unklar zwischen einer Besetzung des introjizierten Objekts oder einer Besetzung des Selbst – wobei zu beachten ist, dass auch das Objekt immer Teil der subjektiven Innenwelt ist, es sind ja Objektvorstellungen, um die es hier geht. Später wird Kohut eine eigenständige Entwicklungslinie des Narzissmus beschreiben, in der dieser nicht nur Derivat des Libidogeschehens ist ( Kap. 4). Bei Freud hat das Verhältnis von Objektbesetzung und Identifizierung eine hohe Bedeutung für die Entwicklungspsychologie: Zum einen, wie bereits erwähnt, spielt es eine Rolle bei der Bewältigung ödipaler Konflikte, aber auch in der Frühzeit der Entwicklung, wenn es darum geht, dass der »Schatten des Objekts […] auf das Ich« (Freud, 1917e, S. 435; vgl. Bollas, 1987) fällt. Gemeint ist damit, dass ein (relativer) Verlust (zum Beispiel in der Erfahrung von Abwesenheit) dazu erforderlich ist, um sich innere Bilder der anderen zu machen. In ganz frühen Prozessen ist mit einer solchen Erfahrung, die das Aufrichten des Objekts im Inneren erforderlich und möglich macht, dann eben auch die Ausbildung einer, vom Objekt getrennten, aber auf dieses bezogenen Selbstrepräsentanz verknüpft, deren Merkmal es nicht zuletzt ist, »sich selbst« in verschiedenen Situationen mit unterschiedlichen anderen über die Zeit als »die selbe« erleben zu können.

Dabei lassen sich hinsichtlich der Internalisierungsprozesse zum einen die Verinnerlichung von Beziehungen, Selbst und anderem sowie des sie verbindenden Affekts und zum anderen die Verinnerlichung psychischer Funktionen unterscheiden, also zum Beispiel das Vermögen zur Affektregulierung, Realitätsprüfung o. ä. Mit letzterem wären dann die Ich-Funktionen berührt ( Kap. 3 zu Ich-Funktionen; Kap. 4 zu strukturellen Fähigkeiten).

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