Читать книгу Jona und der unverschämt barmherzige Gott - Timothy Keller - Страница 15
Das Wohl aller suchen
ОглавлениеDas Erste, was wir lernen, ist, dass Menschen außerhalb der christlichen Kirche das Recht haben, diese auf ihr Engagement für das Gemeinwohl hin zu prüfen.
Die Seeleute sind in Lebensgefahr. Sie haben alles versucht, was ihnen technisch und religiös möglich ist, um die Gefahr in den Griff zu bekommen, und es hat nicht gereicht. Sie spüren, dass ihre Rettung davon abhängt, dass Jona ihnen hilft, aber der tut absolut nichts. Und so kommt es zu dieser denkwürdigen Szene, in der ein heidnischer Schiffskapitän den heiligen Propheten Gottes tadelt. Hugh Martin hat eine Predigt über diesen Text gehalten, mit dem Titel „Die Welt ermahnt die Kirche“,24 in welcher er zu dem Schluss kommt, dass Jona diesen Tadel verdient hatte – und zum großen Teil hat die Kirche heute ihn ebenfalls verdient.
Weshalb weist der Kapitän Jona zurecht? Er wirft ihm vor, dass er sich nicht um das Wohl der Menschen in dem Schiff kümmert, die doch buchstäblich alle im gleichen Boot sitzen. Er sagt: „Siehst du nicht, dass wir in Lebensgefahr sind? Wie kannst du da so gleichgültig sein? Du bist doch ein Mann des Glaubens. Warum setzt du deinen Glauben nicht für das Allgemeinwohl ein?“ Der französische Theologe Jacques Ellul schreibt:
Diese Seeleute aus Jafo […] sind Heiden oder, modern ausgedrückt, Nichtchristen. Aber […] das Los der Nichtchristen und das der Christen hängen […] zusammen; sie sind im selben Boot. Die Sicherheit aller hängt daran, was jeder Einzelne tut […]. Sie sind in demselben Sturm, in derselben Gefahr und sie wollen denselben Ausgang […] und dieses Schiff ist ein Symbol unserer Situation.25
Wir alle – Gläubige und Nichtgläubige – sitzen „in demselben Boot“. (Auf niemanden trifft dieses alte Sprichwort mehr zu als auf Jona!) Wenn eine Stadt unter hoher Kriminalität leidet oder unter einer Epidemie, oder wenn das Trinkwasser knapp wird oder die Arbeitslosenquote in die Höhe schnellt, wenn es wirtschaftlich oder sozial Probleme gibt, sitzen wir alle im selben Boot. Dort in dem Schiff wohnt Jona in demselben „Viertel“ wie diese Matrosen, und der Sturm, der eine Person bedroht, bedroht die ganze Gemeinschaft. Jona hat die Flucht ergriffen, weil er nicht für das Wohl der Heiden tätig werden wollte, sondern ausschließlich für das der Gläubigen. Doch hier zeigt Gott ihm, dass er der Gott aller Menschen ist. Jona muss lernen, dass er ein Glied der gesamten Menschheit ist und nicht nur einer bestimmten Glaubensgemeinschaft.
Das soll aber kein rein pragmatisches Argument sein, nach dem Motto: „Christen sollten gefälligst Nichtchristen helfen, oder sie werden in Schwierigkeiten kommen.“ Die Bibel sagt uns, dass wir Mitmenschen aller Menschen sind, die ja alle nach Gottes Bild erschaffen und daher in seinen Augen unendlich wertvoll sind (1. Mose 9,6; Jakobus 3,9).
Der Kapitän hält Jona dazu an, zu tun, was er kann – für alle. Selbstverständlich hat der Kapitän keine genauen Vorstellungen über Jonas Gott. Was er erhofft, ist wahrscheinlich nur ein Gebet zu irgendeinem mächtigen übernatürlichen Wesen. Aber trotzdem ist die Kritik des Kapitäns, wie Hugh Martin argumentiert, treffend. Jona nutzt nicht die Möglichkeiten, die sein Glaube ihm bietet, um das Leiden seiner Mitbürger zu lindern. Er sagt ihnen nicht, wie sie eine Beziehung zu dem Gott des Universums aufbauen können, ja er nutzt seine eigene Beziehung zu Gott noch nicht einmal dazu, seine Mitmenschen zu lieben und ihnen ganz praktisch zu helfen. Gott gebietet allen, die an ihn glauben, beides zu tun; Jona tut nichts von beidem. Sein privater Glaube hat keine Auswirkungen auf das Gemeinwohl.
Manch einer würde hier sicher einwenden, dass die Welt kein Recht darauf habe, die Kirche zu tadeln, aber ausgerechnet die Bibel erlaubt diesen Tadel. In seiner Bergpredigt hat Jesus gesagt, dass die Welt die guten Taten der Christen sehen und Gott dafür preisen soll (Matthäus 5,16). Die Welt wird nicht sehen, wer unser Herr ist, wenn wir nicht so leben, wie er es uns geheißen hat. Wir sind, mit den Worten eines Buchtitels, „Die Kirche, auf die die Augen der Welt gerichtet sind“.26 Wir haben die Kritik der Welt verdient, wenn die Kirche Gottes Liebe nicht in der praktischen Tat sichtbar macht. Der Kapitän hatte jedes Recht, einen Frommen zu tadeln, der sich nicht um die Probleme seiner Mitmenschen kümmerte und keinen Finger für sie rührte.