Читать книгу Jona und der unverschämt barmherzige Gott - Timothy Keller - Страница 8
Ein ungewöhnlicher Bote
ОглавлениеUnsere Geschichte beginnt damit, dass „das Wort des HERRN“ zu Jona kommt. Diese Formulierung ist üblich als Einleitung für einen Bericht über einen der biblischen Propheten. Gott benutzte diese Propheten vor allem in Krisenzeiten, um seine Worte und Botschaften an Israel zu überbringen. Doch bereits im 2. Vers werden die ursprünglichen Leser gemerkt haben, dass dieses Prophetenbuch ganz anders war als die, die ihnen vertraut waren. Gott befiehlt Jona, „nach Ninive, der großen Stadt“ zu gehen und gegen sie zu predigen. Dies war gleich in mehrfacher Hinsicht ein Schock.
Der erste Schock war, dass hier ein hebräischer Prophet aufgefordert wird, Israel zu verlassen und in eine heidnische Stadt zu reisen. Bis jetzt hatte Gott seine Propheten nur zu seinem eigenen Volk geschickt. Jeremia, Jesaja und Amos verkündigten zwar ein paar prophetische Botschaften an heidnische Länder, doch die waren kurz, und keiner dieser Propheten musste sich selbst in diese Länder begeben. So etwas wie diesen Auftrag an Jona hatte es noch nie gegeben.
Ein noch größerer Schock ist die Warnung, die der Gott Israels vor dem Untergang an Ninive, die Hauptstadt des Assyrischen Reiches sendete. Assyrien war eines der grausamsten und gewalttätigsten Reiche der Antike. Seine Könige ließen ihre militärischen Siege oft dokumentieren und weideten sich an den mit Leichen übersäten Schlachtfeldern und niedergebrannten Städten. Der berühmte Herrscher Salmanassar III. ist besonders durch große Steinreliefs bekannt, die detaillierte Folterszenen und zerstückelte und enthauptete Feinde abbilden. Die Geschichte Assyriens ist „so blutrünstig und grauenvoll wie kaum etwas anderes, was wir kennen.“5 Wenn sie Feinde gefangen genommen hatten, schlugen die Assyrer ihnen mit Vorliebe beide Beine und einen Arm ab, damit sie dem sterbenden Opfer zynisch die verbliebene Hand schütteln konnten. Freunde und Verwandte wurden gezwungen, die abgeschlagenen Köpfe ihrer hingerichteten Lieben öffentlich auf Stangen durch die Straßen zu tragen. Die Assyrer rissen den Menschen die Zunge heraus und streckten die Leiber der Gefangenen mit Seilen, um ihnen anschließend bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen, die darauf an der Stadtmauer aufgehängt wurde. Sie verbrannten Jugendliche bei lebendigem Leib.6 Diejenigen, die die Zerstörung ihrer Städte überlebten, wurden auf grausame Art versklavt. Man bezeichnete das Assyrische Reich daher auch als einen „Terrorstaat“.7
Die Assyrer begannen während der Herrschaft des Königs Jehu (842–815 v. Chr.), dem Nordreich Israel hohe Tributzahlungen aufzuerlegen und auch während der gesamten Lebenszeit Jonas fuhren sie fort, Israel zu bedrohen. 722 v. Chr. fielen sie schließlich in Israel ein und zerstörten es samt seiner Hauptstadt Samaria.
Gerade diese Nation ist nun das Ziel von Gottes missionarischem Auftrag an Jona! Gott befiehlt ihm, gegen Ninive wegen seiner großen Bosheit zu „verkündigen“. Dennoch wusste Jona (4,1-2), dass es für Gott keinen Grund gegeben hätte die Stadt zu warnen, wenn nicht die Möglichkeit bestand, dass das Gericht noch abgewendet werden konnte. Aber wie konnte ein guter Gott einem solchen Volk auch nur die kleinste Chance auf Gnade geben? Warum, um alles in der Welt, sollte Gott den Erzfeinden seines Volkes helfen?
Doch das, was vielleicht am meisten überrascht, ist die Identität dessen, den Gott da sendet. Es ist Jona, der „Sohn des Amittai“. Mehr erfahren wir nicht über Jona, was bedeutet, dass wir auch nicht mehr Hintergrundwissen benötigen. In 2. Könige 14,25 lesen wir, dass Jona in der Regierungszeit von König Jerobeam II. von Israel (786–746 v. Chr.) wirkte. Dort erfahren wir auch, dass er – anders als die Propheten Amos und Hosea, die das Königshaus wegen seiner Ungerechtigkeit und Untreue zu Gott kritisierten – Jerobeams aggressive Militärpolitik zur Ausdehnung der Macht und des Einflusses Israels unterstützte. Die ursprünglichen Leser des Buchs Jona werden ihn als patriotischen Nationalisten in Erinnerung gehabt haben.8 Sie werden darüber gestaunt haben, dass Gott einen Mann wie Jona ausgerechnet zu dem Volk schickte, das er am meisten fürchtete und hasste.
Nichts an Jonas Auftrag ergab Sinn. Fast konnte man ihn als bösartiges Komplott deuten. Wenn ein Israelit auf diese Idee gekommen wäre, man hätte ihn bestenfalls geächtet und schlimmstenfalls hingerichtet. Wie konnte Gott von jemandem verlangen, die Interessen seines Landes derart zu verraten?