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Wem gehörst du?

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Doch die Schiffsleute stellen Jona diese Fragen nicht einfach, damit er etwas über sich selbst erzählen kann, wie wir das heute in unserer westlichen Kultur tun. Ihr dringendes Ziel ist es, zu verstehen, wer der Gott ist, der hier zornig geworden ist, damit sie entscheiden können, was zu tun ist. In der Antike hatte jede ethnische Gruppe, jede Stadt, ja jeder Beruf seinen eigenen Gott bzw. seine eigenen Götter. Um herauszufinden, welchen Gott Jona verärgert hatte, brauchten sie ihn nicht zu fragen: „Wie heißt dein Gott?“ Es reichte, zu fragen, wer Jona war. In ihrem Denken war die Identität eines Menschen untrennbar verflochten mit dem, was er anbetete. Wer man war und was man anbetete, waren zwei Seiten derselben Medaille. Es war die tiefste Schicht der persönlichen Identität.

Hier mag der moderne Mensch einwenden: „Heute glauben die Leute nicht mehr an die alten Götter, viele glauben sogar an gar keinen Gott mehr. Dieser Aberglaube, dass meine Identität mit dem zusammenhängt, was ich anbete, spielt doch heute keine Rolle mehr!“ Doch wer so denkt, begeht einen fundamentalen Denkfehler.

Mit Sicherheit würde jeder Christ zustimmen, dass es diese zahlreichen persönlichen, selbstständigen, übernatürlichen Wesen, die man in der Antike mit verschiedenen Berufen, Orten und Völkern in Verbindung brachte, nicht gibt. Es gibt in der Realität keinen römischen Gott Merkur, der der Schutzpatron des Handels ist und dem man Tieropfer darbringen muss. Aber niemand bezweifelt, dass finanzieller Gewinn zu einem „Gott“ werden kann, einem unbestrittenen höchsten Ziel – ob für den Einzelnen oder eine ganze Gesellschaft –, dem Menschen, moralische Prinzipien, Beziehungen und Gemeinschaften geopfert werden. Und während es selbstverständlich Venus, die antike Schönheitsgöttin, nicht gibt, sind heute unzählige Männer und Frauen schier besessen von ihrem Aussehen oder von der Suche nach einer sexuellen Erfüllung, die sie nie erreichen werden.

Die Seeleute liegen also nicht falsch mit ihrer Analyse. Jeder hat eine Identität, die er von irgendwoher bezieht. Jeder sagt zu sich selbst: „Ich bin wichtig wegen dieser Sache“, oder: „Ich bin okay, weil diese Menschen mich mögen.“ Und egal, was diese Sache ist oder wer diese Menschen sind, sie werden praktisch zu unseren Göttern, sie werden die tiefsten Wahrheiten darüber, wer wir sind. Sie werden zu etwas, das wir unter allen Umständen haben müssen. Vor Kurzem unterhielt ich mich mit einem Mann, der an Besprechungen teilgenommen hatte, in denen eine finanzielle Institution beschlossen hatte, in eine neue Technologie zu investieren. Unter vier Augen hatten die Leute, die dabei gewesen waren, diesem Mann gesagt, dass die möglichen Auswirkungen dieser Technologie auf die Gesellschaft ihnen echte Bauchschmerzen machten. Sie glaubten, dass sie für jeden neuen Arbeitsplatz, den sie schuf, etliche alte vernichten würde, und dass sie für die jungen Leute, die sie hauptsächlich verwenden würden, womöglich nicht gut wäre. Gleichzeitig hätte es einen Verlust von Milliarden von Dollar bedeutet, den Deal nicht anzunehmen. So etwas konnte sich wiederum keiner von ihnen vorstellen. Wenn finanzieller Erfolg bedingungslose Loyalität verlangt, die man nicht hinterfragen darf, wird er zu einem religiösen Objekt, zu einem Götzen, ja sogar zu einer Art „Erlösung“.30

Die Bibel erklärt uns, warum das so ist. Wir sind als „Gottes Ebenbild“ erschaffen (1. Mose 1,26-27). Es kann kein Ebenbild geben ohne ein Original, das in dem Bild widergespiegelt wird. „Ebenbild Gottes“ zu sein bedeutet, dass wir Menschen nicht dazu erschaffen worden sind, aus uns selbst heraus zu leben. Wir müssen unsere Bedeutung und unsere Sicherheit von etwas beziehen, das außerhalb von uns liegt und von allerhöchstem Wert ist. Dass wir als Gottes Ebenbild erschaffen sind, bedeutet, dass wir für den wahren Gott leben müssen. Tun wir dies nicht, müssen wir etwas anderes zu unserem Gott machen, um das unser Leben kreist.31

Die Seeleute wussten, dass die menschliche Identität immer in den Dingen wurzelt, von denen wir unsere Erlösung erwarten und denen wir unsere tiefste Loyalität zusagen. Zu fragen: „Wer bist du?“, heißt zu fragen: „Wem gehörst du?“ Wissen, wer ich bin, heißt wissen, wem ich mich hingegeben habe, was mich kontrolliert, wem oder was ich im Tiefsten vertraue.

Jona und der unverschämt barmherzige Gott

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