Читать книгу Jona und der unverschämt barmherzige Gott - Timothy Keller - Страница 22
Verblendende Identität
ОглавлениеEine solche geistlich seichte Identität führt auch dazu, dass wir uns nicht so sehen, wie wir wirklich sind. Hier sehen wir Jona, der ein Prophet Gottes ist, mit einer privilegierten Position in Gottes Bundesvolk, und auf Schritt und Tritt ist er begriffsstutzig, nur mit sich selbst beschäftigt, borniert und töricht. Aber er scheint das überhaupt nicht zu bemerken, er ist blinder für seine Fehler als alle, die ihn erleben. Wie kann das sein?
Jona erinnert uns an eine andere Person aus der Bibel: Petrus. Auch Petrus hatte eine privilegierte Position im Volk Gottes. Er war einer der persönlichen Freunde von Jesus, und darauf war er auch stolz. Kurz bevor Jesus verhaftet wurde, schwor Petrus, dass er Jesus nicht verlassen würde, wenn die Verfolgung käme, auch wenn alle anderen das tun würden (Johannes 13,37; Matthäus 26,35). Er sagte Jesus sinngemäß: „Meine Liebe und Hingabe zu dir ist größer als die der anderen Jünger. Ich werde tapferer sein als sie, egal, was passiert!“ Und dann erwies er sich als der größte Feigling von allen, als er Jesus drei Mal öffentlich verleugnete. Wie konnte Petrus so blind für sein wahres Wesen sein?
Die Antwort ist, dass Petrus’ Grundidentität nicht so sehr in Jesu Liebe und Gnade zu ihm wurzelte als vielmehr in seiner Hingabe und Liebe zu Jesus. Seine Selbstachtung fußte auf der Hingabe an Christus, die er (wie er dachte) erreicht hatte. Er war selbstsicher gegenüber Gott und Menschen, weil er doch ein so treuer Jünger Jesu war. Eine solche Identität führt zu zwei Dingen.
Das Erste ist, dass man blind dafür wird, wie man wirklich ist. Wenn ich meinen Selbstwert daraus beziehe, was für ein mutiger Kerl ich bin, bricht eine Welt zusammen, wenn ich zugeben muss, dass ich feige gewesen bin. Wenn mein Ich sich durch meine Stärke definiert, bedeutet jeder Anfall von Schwäche, dass ich kein „Ich“ mehr habe. Dann fühle ich mich, als hätte ich gar keinen Wert mehr. Tatsache ist: Wenn ich meine Identität auf irgendetwas gründe, was mit Leistung, Gutsein oder Tugend zu tun hat, muss ich meine Fehler und Schwächen permanent verdrängen und verstecken. Meine Identität wird nicht fest genug sein, um meine Sünden, Schwächen und Macken zuzugeben.
Das Zweite ist, dass ich Menschen, die anders sind als ich, mit Feindseligkeit statt Respekt begegne. Obwohl Jesus den Jüngern etliche Male gesagt hatte, dass man ihn verhaften würde und dass dies so kommen müsse, zog Petrus ein Schwert hervor, als es dann so weit war, und hieb einem der Häscher ein Ohr ab. Jede Identität, die in dem gründet, was ich bin und leiste, ist instabil. Ich kann nie sicher sein, dass ich genug getan habe. Einerseits bedeutet das, dass ich mich nie ehrlich meinen eigenen Fehlern stellen kann, aber andererseits auch, dass ich meine Identität immer wieder dadurch stabilisieren muss, dass ich mich auf eine aggressive Weise von denen absetze, die anders sind als ich.
Petrus und Jona waren beide stolz auf ihre Frömmigkeit und gründeten ihr Selbstbild auf ihre religiösen Leistungen. Das Ergebnis war Blindheit für die eigenen Fehler und Sünden und Feindseligkeit gegenüber denen, die anders waren. Jona ist die geistliche Not der Menschen in Ninive egal, und er hat kein Interesse, mit den heidnischen Matrosen zum Wohle aller zusammenzuarbeiten. Die Heiden sind für ihn nicht einfach irgendwie anders, sie werden für ihn zu den Anderen, die er gleich auf mehrfache Weise ausgrenzt.